von Dagmar Henn
Dass die Bundesregierung mit dem Verzicht auf Nord Stream 2 der hiesigen Bevölkerung einen Bärendienst erwiesen hat, dürfte sich bald herausstellen. Weniger bekannt ist allerdings, dass es nicht nur dadurch, sondern auch durch andere der so eilfertig verhängten Sanktionen massive Folgen bei der Produktion von Nahrungsmitteln geben dürfte.
Eigentlich, so zumindest der Bericht der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung zur Markt- und Versorgungslage Getreide 2020, ist in Deutschland bezogen auf Getreide alles im grünen Bereich. In den meisten Jahren ist Deutschland nicht nur Selbstversorger, sondern exportiert sogar, auch wenn den Exporten bei Weichweizen Importe bei Mais gegenüberstehen. Und das, obwohl inzwischen neun Prozent des hier angebauten Getreides nur als Energiequelle genutzt werden.
Allerdings gibt es einen wunden Punkt – diese Erntemengen lassen sich nur mit entsprechender Düngung erzielen. Es gibt zwar verschiedene Arten von Dünger, aber sie alle haben eines gemeinsam. Zu ihrer Herstellung braucht es ziemlich viel Energie, und die Hauptquelle für viele der benötigten energetischen Rohstoffe heißt: Russland.
So berichtet es die Fachzeitschrift Agrar Heute: "Russland ist einer der weltweit wichtigsten Lieferanten von Düngemitteln und verwandten Rohstoffen wie Schwefel. Die Russen waren im vergangenen Jahr der größte Exporteur von Harnstoff, NPK-Mehrnährstoff-Düngern (Stickstoff, Phosphor und Kalium), Ammoniak, HAN-Düngern (Stickstofflösungen) und von Ammoniumnitrat. Außerdem sind sie der weltweit drittgrößte Kaliexporteur und bei Phosphaten lag man auf Rang vier ebenso wie bei Schwefel. Diese Lücken sind durch alternative Lieferanten eigentlich nicht zu stopfen."
Der Preis für Harnstoff, der im Jahr 2019 noch bei 150 US-Dollar pro Tonne lag, ist inzwischen auf etwa das Dreifache gestiegen. Kalkammonsalpeter hat sich ebenfalls verdreifacht. Die einheimische Produktion steht weitgehend - weil die Energiekosten zu hoch sind. Und es ist nicht nur eine Frage des Preises, sondern eine der Verfügbarkeit. Wenn man sich den Zugang zu großen Lieferanten abschneidet, ist schlicht weniger Dünger erhältlich. Das hat logischerweise Folgen auf die Getreidepreise, die sich im Vorgriff auf die erwartete Situation bereits jetzt erhöhen; bei Weizen beispielsweise auf inzwischen über 300 Euro pro Tonne. Am Anfang des vergangenen Jahres lag dieser Preis noch bei 220 Euro.
Aber das ist nicht das Ende vom Lied. Schließlich heißt eine geringere Verfügbarkeit auch, dass selbst dann, wenn massiv gestiegene Preise bezahlt werden können, nicht genug da ist, um die Nachfrage zu decken. Das wiederum heißt, die Ernte dieses Jahres dürfte deutlich geringer ausfallen. Kein Problem, kann man ja zukaufen? Hat man bisher immer so gemacht? Ätsch, das wird ebenfalls nichts. Ein Viertel des weltweit exportierten Weizens stammt aus – richtig, wieder Russland, und ein weiterer Getreideexporteur, aus dem in den letzten Jahren der importierte Mais bezogen wurde, ist die Ukraine. Da der Düngermangel den gesamten Westen betrifft, wird es in dieser gesamten Region zu schlechteren Erträgen kommen, weshalb andere mögliche Exporteure wie die USA ebenfalls ausfallen. Und es ist keine schlichte Vermutung, dass es keinen russischen Weizen zu kaufen geben wird; eine der ersten Gegensanktionen bestand schlicht darin, die russischen Weizenüberschüsse an China zu verkaufen …
Ohne künstliche Düngung liegen die Ernteerträge bei Weizen um 40 Prozent niedriger. Ganz so weit wird es nicht kommen, aber fünfzehn bis zwanzig Prozent weniger dürften drin sein; schließlich werden einige Produzenten den Anbau womöglich ganz unterlassen, weil er sich nicht lohnt. Statt den eigenen Bedarf komplett decken zu können, hat Deutschland dann zu wenig Getreide; und da es den Handelspartnern genauso geht und in solchen Situationen eigentlich jede Regierung bemüht ist, die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu sichern, dürfte dann endgültig jede Möglichkeit, die Lücke zu stopfen, reine Fantasie bleiben.
Mal ganz abgesehen davon, dass das Sanktionsspielchen gerade erst angefangen und diese Form der wirtschaftlichen Kriegsführung immer sekundäre Wirkungen hat; weil nämlich die Handelspartner der Sanktionierten dann ebenfalls sanktioniert werden. So wie das bei Nord Stream 2 lief, als die USA den Abzug des Schweizer Verlegeschiffes erzwangen, indem sie androhten, die Firma künftig von jedem US-Geschäft auszuschließen.
Da gibt es jetzt beispielsweise Brasilien, das sich an den Sanktionen gegen Russland nicht beteiligt und seinen Mais weiterhin dahin liefert, wohin es ihn liefern will. Wenn dieser Mais nach Russland geliefert würde, könnten sich die Sanktionen so auswirken, dass dann im Gegenzug die EU keinen Mais mehr in Brasilien kauft. Und sich noch einmal ins Knie schießt.
Kurz gesagt, die momentane Entwicklung deutet darauf hin, dass sich in jeder Hinsicht zwei völlig voneinander abgekoppelte – wie soll man sie nennen? Halbweltmärkte? Welthalbmärkte? – entwickeln, zwischen denen der Austausch allmählich, aber sicher zum Stillstand kommt. Was dann der Moment ist, an dem man in Europa erschüttert begreift, dass man nicht nur die kleinere, sondern auch die technologisch stagnierende Hälfte gewählt hat.
Auf jeden Fall ist davon auszugehen, dass diese abgeschottete westliche Welt mit jeglichem Mangel, den sie für sich geschaffen hat, alleine umgehen müssen wird, weil der Rest des Planeten durchaus zufrieden damit ist, seine Geschäfte mit China und Russland zu machen. Das heißt, wenn es in dem Teil der Welt, der sich dann noch großspurig "internationale Gemeinschaft" nennt, zu wenig Getreide gibt, dann gibt es eben zu wenig Getreide.
Die Entwicklung der Getreidepreise an den Terminmärkten zeigt dabei, in welche Richtung dann die zu erwartende Inflation geht. Der Getreidepreis selbst ist zwar nur ein Bruchteil des Brotpreises, weniger als sieben Prozent, aber ein weiterer großer Posten in der Kalkulation heißt Energie, und die hat sich ebenfalls massiv verteuert. Die Relationen können sich allerdings bei einem echten Mangel durchaus verschieben, sodass sich bei einem doppelten Getreidepreis eben nicht nur sieben Prozent, sondern zehn oder fünfzehn verdoppeln …
Klar, es gibt ein bisschen Spiel, weil 42 Prozent des Getreides in Deutschland verfüttert werden. Soweit das qualitativ möglich ist, kann durchaus ein Teil des fehlenden Brotgetreides aus dem Futteranteil ersetzt werden. Dann wird das Fleisch entsprechend teurer und knapper. Aber egal, wie man es dreht und wendet, es bleibt eine Lücke. Die nicht nur stetig steigende Preise generiert, sondern auf jeden Fall irgendwo einen echten Bedarf unbefriedigt lässt.
Wenn man sich irgendwie, auch nur ansatzweise, für das Wohl der gewöhnlichen Bürger des Landes verantwortlich fühlt, lässt man solche Spielchen bleiben. Sanktionen, die die Sicherheit nicht nur der eigenen Energieversorgung, sondern auch der Nahrungsversorgung gefährden? Das absolute Gegenteil vernünftiger Regierungspolitik. Aber sie wurden dennoch beschlossen, wie wir alle gesehen haben.
Das Rätsel löst sich, wenn man jenen Sektor in den Blick nimmt, den man nach marxistischer Lehre Rentenökonomie nennen muss (die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft hat dafür keine wirkliche Bezeichnung). Rente ist dabei ein Anspruch auf einen Anteil des gesellschaftlich erzeugten Überschusses, ohne selbst dazu beigetragen zu haben. Alles, was unter "Marken" fällt, die ganze Softwareindustrie, die Patente, mit denen die Pharmaindustrie ihre Gewinne macht, alles, was unter die Überschrift "geistiges Eigentum" fällt, und was bis zu einem Viertel des Bruttoinlandsproduktes in den USA wie auch in der EU liefert, ist nämlich ein Anspruch auf Werte, die – vor allem andernorts – produziert werden müssen. Fehlt aber die Macht, diesen Anspruch durchzusetzen, dann gibt es schlicht: nichts. Weil in den letzten Jahrzehnten der Anteil dieser Rentenökonomie in den zentralen westlichen Ländern so groß wurde, während gleichzeitig die Produktion realer Werte immer weiter sank, wird dieser Anspruch erbittert verteidigt; und weil jeder der großen westlichen Konzerne so funktioniert, wie man es einst Siemens nachsagte, als Bank mit angeschlossenem Elektro- oder anderem Laden, und selbst an dieser Rentenökonomie beteiligt ist, lassen es sich diese Konzerne auch gefallen, dass sie bei der Produktion Verluste erleiden, um das Rentengeschäft zu sichern.
Allerdings können auch da die Sanktionen auf sie zurückfallen; Überlegungen, westliche Patente schlicht zu ignorieren, finden bereits statt, und in jüngster Zeit ist der Westen bereits dabei, auf diesem Gebiet das Rennen gegen China zu verlieren, das inzwischen weit mehr Patente registriert ... Nicht, dass Otto Normalverbraucher etwas von diesen Rentenerträgen hätte. Dieses Geld bleibt in den obersten Zirkeln kleben und erhöht die Menge des vagabundierenden, anlagesüchtigen Geldes weiter. Aber die Regierungspolitik folgt da eben dem Konzerninteresse und nicht dem des Wählers.
Weshalb letzterer, der sich ohnehin schon fragt, wie es denn mit seinem Job aussieht, wenn die Energie knapp und unsicher wird, und der mit Grausen auf eine Inflation blickt, die von den Lohnsteigerungen nie und nimmer eingefangen wird, nicht nur aus "Solidarität mit der Ukraine" frieren darf; er darf auch auf einen stetig leerer werdenden Teller starren.
Das wirkliche Problem liegt nämlich darin, dass diese Rentenökonomie den wirtschaftlichen Zusammenbruch zwar hinausgezögert hat, aber nur funktioniert, solange es keine souveränen Staaten gibt, die sich den Abgaben verweigern können. Darum muss Russland um jeden Preis unterworfen werden; darum wurde der Stachel Ukraine in seine Seite gerammt; und darum dürfen die Deutschen verarmen und frieren. Es wird nichts nützen, weil allein mit Russland und China schon zu große Teile der Menschheit entwischt sind; aber bis zum völligen Absturz wird alles versucht werden, sie doch wieder zu unterwerfen.
Bis dahin wird in diesem Westen Stück für Stück alles ins Feuer geworfen, was das Leben für die werktätige Mehrheit bisher halbwegs sicher und erträglich machte – Recht, Ordnung, Nahrungssicherheit, demokratische Rechte, Bildung, Kultur, nichts ist sicher vor diesem Autodafé, kein Anspruch, keine Hoffnung, keine Zukunft. Bis dieser rollende Koloss, dieser Juggernaut, unter dem eigenen Gewicht zusammenbricht – oder aufgehalten wird.
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