Ein Kommentar von Fjodor Lukjanow
Der Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine kennzeichnet das Ende einer Ära. Diese Ära begann mit dem Zusammenbruch der Auflösung und der Sowjetunion im Jahr 1991. Damals wurde eine vergleichsweise beständige bipolare Weltordnung gleichsam umgestürzt und durch eine ersetzt, die schließlich als "liberale Weltordnung"bekannt wurde. Dieser Umsturz ebnete den USA und ihren Verbündeten den Weg zu der von ihnen angestrebten dominanten Rolle in der internationalen Politik. Eine Politik, die auf einer universalistischen Ideologie gründen würde.
Die Krise dieses globalen politischen Systems zeichnete sich schon vor langer Zeit ab. Allerdings hatten jene Großmächte, die mit ihrer Position im neuen politischen Spielfeld unzufrieden waren, keinen nennenswerten Widerstand gegen dessen Zustandekommen geleistet.
Tatsächlich gab es sogar für recht lange Zeit (mindestens anderthalb Jahrzehnte) praktisch überhaupt keinen Widerstand. Die beiden nicht-westlichen Großmächte China und Russland bemühten sich, Teil der Rangordnung zu werden. Peking gelang nicht nur das, sondern es nutzte die Lage auch maximal aus, um als ein dominanter Akteur Fuß zu fassen. Moskau hingegen schnitt wesentlich schlechter ab: Es brauchte länger, um sich an die neue Weltordnung anzupassen und sich darin einen respektablen Rang zu sichern.
Indes erwies sich das neue System als spröde und wackelig, da es bereits konzeptionell jegliches Gleichgewicht der Kräfte von vornherein ausschloss. Vor allem aber ließ es kein ausreichendes Maß an kultureller und politischer Vielfalt zu. Vielfalt ist jedoch für ein nachhaltiges Funktionieren des Weltgefüges von grundlegender Bedeutung. Eine einheitliche Weltsicht, die alle anderen Ansichten ausschließt, wurde mit verschiedenen Mitteln durchgesetzt – bis hin zu militärischen. Somit war der Kreis geschlossen.
Russlands Vorgehen ist ein Spiegelbild dessen, was die USA und ihre Verbündeten in den vergangenen Jahrzehnten weit mehr als nur einmal in verschiedenen Teilen der Welt taten.
Der Legende nach stieß seinerzeit Zar Peter der Große nach der Schlacht von Poltawa im Jahr 1709 auf seine "schwedischen Lehrer" an. Nun könnte auch die derzeitige russische Führung durchaus von sich behaupten, dass sie viel vom Westen gelernt habe. In Russlands Vorgehen in der Ukraine lassen sich leicht Elemente erkennen – aus den unterschiedlichsten Bereichen, vom unmittelbaren militärischen bis zum Informationsbereich –, die auch in den US- und NATO-Kampagnen gegen Jugoslawien, den Irak und Libyen vorhanden waren.
Die Spannungen kochen seit langem hoch, doch nun ist die Ukraine zur entscheidenden Frontlinie geworden. Es handelt sich nicht um eine ideologische Schlacht wie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die heutige weltweite Hegemonie der USA wird derzeit herausgefordert und als Alternative ein viel stärker dezentralisiertes Modell in Aussicht gestellt. Auch von "Einflusssphären", dem alten Konzept aus dem Kalten Krieg, kann weder geredet werden noch ist es anwendbar. Immerhin ist die Welt viel transparenter und vernetzter geworden, sodass eine Isolierung nur noch in begrenztem Maße möglich ist. Zumindest dachten wir das. Bis jetzt.
Doch wie so oft in der Vergangenheit wird auch der aktuelle Kampf um strategisch wichtige Gebiete geführt. Das alte Sprichwort "Geschichte wiederholt sich" wird deutlich, wenn man von einem Medienorgan zum anderen blättert. Nun prallen zwei unterschiedliche Ansätze aufeinander.
Auf der einen Seite steht die Ausübung klassischer Gewalt, die sich an einfachen, rohen, dafür aber klar verständlichen Prinzipien orientiert: Blut und Boden. Auf der anderen Seite steht eine moderne Methode zur Durchsetzung von Interessen und Einfluss. Sie wird durch eine Reihe von ideologischen, kommunikativen und wirtschaftlichen Instrumenten umgesetzt. Diese sind gleichzeitig wirksam und formbar. Gemeinhin werden sie als "Werte" bezeichnet.
Seit dem Kalten Krieg ist der modernere dieser beiden Ansätze fast immer die Methode der Wahl gewesen. Nennen wir hier auch den modischen, aber ungenauen Begriff "hybrider Krieg". Allerdings ist in den meisten Fällen den Anwendern nie ernsthafter Widerstand geleistet worden – geschweige denn in der Form unmittelbarer bewaffneter Konfrontation. Bis jetzt.
Die Ukraine des Jahres 2022 ist die entscheidende Feuerprobe. Hier wird sich zeigen, welcher dieser Ansätze auch künftig erfolgreich sein wird. In diesem Sinne haben diejenigen Recht, die vermuten, dass die Folgen weitaus tiefgreifender sein könnten als bisher gedacht.
Die russische Führung, die über die äußerst drastischen Schritte eine Entscheidung fällte, war sich der Folgen wahrscheinlich bewusst oder strebte sie möglicherweise sogar bewusst an. Das Blatt der Zusammenarbeit mit dem Westen hat sich hiermit gewendet. Dies bedeutet nicht, dass der Isolationismus zur Norm wird – damit wird das Ende eines wichtigen historischen Kapitels in den politischen Beziehungen gekennzeichnet. Denn allzu bald wird der neue Kalte Krieg nicht enden.
Nach einiger Zeit werden die Auswirkungen der gegenwärtigen Militäroperation höchstwahrscheinlich abklingen und einige Formen der Interaktion wiederaufgenommen. Doch die Grenze wurde gezogen und überquert und nun gibt es kein Zurück mehr. Selbst in einem günstigen Szenario wird es viele Jahre dauern, bis die Sanktionen aufgehoben und die Beziehungen schrittweise wiederhergestellt sind. Beides sehr selektiv. Der Umbau der wirtschaftlichen Prioritäten wird neue Ansätze erfordern, was in mancher Hinsicht die Entwicklung anregen und in anderer Hinsicht jedoch verlangsamen wird. Der aktive Teil der russischen Gesellschaft wird erkennen müssen: Seine alte Lebensweise gehört der Vergangenheit an.
Die "Festung Russland" hat sich entschlossen, ihre Stärke unter Beweis zu stellen und ist somit für die ganze Welt zu einem Vorreiter grundlegenden Wandels geworden.
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Übersetzt aus dem Englischen
Fjodor Lukjanow ist Mitglied der Redaktionsleitung von Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsclubs Waldai.