von Rüdiger Rauls
Inzwischen ist fast jeder Politiker von Rang bei Putin vorstellig geworden und hat ihn zur Deeskalation aufgefordert. Selbst hatten die Gäste aber nichts anzubieten. So ist man nun wieder an dem Punkt angekommen, wo der Aufgalopp westlicher Würdenträger seinen Anfang genommen hatte, bei der Forderung Russlands nach Sicherheitsgarantien für das eigene Territorium.
Nach all dem bunten Treiben ist man in dieser Kernfrage des Konflikts aber nicht weiter gekommen. Außer Kosmetik haben die westlichen Handlungsreisenden nichts Handfestes angeboten. Und es entstand zu keinem Zeitpunkt der Eindruck, dass man die Interessen Russlands ernst nahm. Ein bisschen mehr Transparenz hier, etwas mehr Verhandeln in dem ein oder anderen Format, dazu wohlfeile Absichtserklärungen und beschönigende Worte über die eigenen Absichten, Ziele, Ideale.
Den Russen jedoch ist sehr klar und bewusst, worum es ihnen geht, und davon hat auch die hyperaktive Umtriebigkeit des Westens sie nicht abbringen können. Sicherheit für das eigene Territorium und dessen Völker ist ihre einfache Forderung und diese steht weiterhin im Raum. An ihr kommt der Westen einfach nicht vorbei, so sehr er auch herumlaviert und der Welt Sand in die Augen streuen will.
Neben all der Augenwischerei vonseiten der NATO zeigt sich aber in diesem hektischen Treiben ihrer Vertreter auch noch etwas anderes: Ratlosigkeit. Die NATO hat keinen Plan zur Bewältigung der Krise. Das wundert nicht, denn sie hat keine Vorstellung von dem, was sie erreichen will. Für die meisten Menschen in der Welt ist die Forderung Russlands nachvollziehbar. Der Weltöffentlichkeit ist nicht verborgen geblieben, dass nicht Russland die Bedrohung für die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes gewesen ist, wie der Westen seit dem offiziellen Ende des Kalten Krieges im Jahre 1997 immer wieder behauptet hatte. Denn nicht Russland hat sich nach Westen ausgedehnt. Das haben die Ereignisse der letzten Jahre gezeigt. Es war die NATO selbst, die sich immer mehr an die russischen Grenzen heranarbeitete, indem sie immer mehr direkte Nachbarn Russlands in das Bündnis aufgenommen hatte.
Damit hat sie die Gefahr der direkten Konfrontation mit Russland selbst geschaffen. Nur stellt sich zunehmend deutlicher die Frage, was man erreichen will mit diesem wachsenden Aufgebot an NATO-Staaten entlang der russischen Grenze. Den großen Krieg, von dem so manche im Westen phantasieren, will auch die NATO nicht riskieren. Das hatte man in der aktuellen Krise schon recht früh deutlich gemacht, nicht nur gegenüber Russland, auch gegenüber der Ukraine. Uneingestanden steht dahinter die bittere Erkenntnis, dass man es mit Gegnern wie Russland und China nicht aufnehmen kann. Mit den Russen müssen die Ukrainer schon alleine fertig werden.
Der Westen schickt zwar Waffen, aber keine Soldaten. Zu groß wäre das Risiko einer unkontrollierten Ausweitung des Konfliktes auf die Ebene des Atomkrieges zwischen den Weltmächten. Wenn man aber den konventionellen Krieg sich nicht zutraut und den atomaren tunlichst vermeiden will, was sollen dann all die Versuche, durch die Aufnahme neuer Staaten in das Bündnis die Kräfteverhältnisse zwischen Russland und der NATO zu verändern?
Auch die Aufnahme der Ukraine und Georgiens würde nichts an der Tatsache ändern, dass ein konventionell begonnener Krieg im atomaren Weltenbrand endet. Selbst die angedachte und vermutlich im Hintergrund bereits betriebene Aufnahme von Schweden und Finnland in das Bündnis würde zu keinem anderen Ergebnis führen. Am Ende stünden immer Atomkrieg und Weltuntergang. Zum Glück handeln trotz aller Spannungen und Konflikte die Lenker der Welt so, als ob sie sich dieser Tatsache bewusst sind.
Während aber Russland seine Interessen klar und für die meisten Menschen nachvollziehbar benennen kann, ist das bei der NATO nicht der Fall. Sie kann nicht darstellen, was sie will. Sie weiß nur, was sie nicht will. Nicht zurück zu den Kräfteverhältnisse von 1997. Keine Aufgabe der Politik der offenen Tür. Keine Reduzierung der Bedrohungspotentiale in der Mitte Europas. Das heißt, dass alles beim Alten bleiben soll. Nichts soll sich ändern, was aber auch bedeutet, dass die alten Verhältnisse vom Wandel bedroht sind.
Veränderung steht vor der Tür, auch vor der Tür der NATO. Die Forderungen Russlands sind nicht einseitig gegen den Westen gerichtet. Auch Russland selbst ist zum Abspecken der eigenen Militärmaschinerie bereit, zur Einschränkung der Manöver und ähnlichen militärischen Aktionen, die einen ungewollten Krieg aus Versehen auslösen könnten. Russland fordert vom Westen nicht mehr, als es selbst bereit ist zuzugestehen. Und dennoch sagt der Westen zu allem Njet, was Putin vorschlägt. Weshalb? Einzig in die Frage der Aufnahme von Ukraine und Georgien scheint zuletzt beim Besuch von Scholz in Moskau etwas Bewegung gekommen zu sein.
Scholz wollte der Frage aus dem Weg gehen, indem er die Aufnahme der beiden Länder als vorerst nicht weiter verfolgt darstellte. Zu Recht wies Putin darauf hin, dass das eine Aussage sei, die jederzeit wieder zurückgenommen werden könne, wenn die Gelegenheit günstiger ist. Nun stellt sich aber die Frage, warum der Westen keine klare Absage an die Aufnahme der beiden Staaten erteilt, wenn man denn schon erkennt, dass deren Aufnahme nur weitere Probleme auch für die NATO selbst schaffen würde. Was wäre verloren, wenn man von einem Vorhaben ablässt, dessen Verwirklichung fragwürdig ist, sowohl was die Umsetzung als auch den Nutzen angeht? Warum macht der Westen in dieser weniger bedeutsamen Frage kein Zugeständnis gegenüber Russland? In dieser relativ unbedeutenden Frage offenbart sich der Kern des Konflikts: Man will um alles in der Welt gegenüber Russland keine Zugeständnisse machen.
Es geht ums Prinzip, nicht um Verständigung. Man will nach all den Niederlagen der vergangenen Jahre in Afghanistan, in der arabischen Welt, in Venezuela und im Iran Russland und China die Stirn bieten. Jeder Schritt zurück wird als Niederlage empfunden, selbst wenn es nichts zu gewinnen gibt. Die Demokratie darf gegenüber dem Vordringen der autoritären Staaten nicht zurückweichen. So schreibt denn auch die Washington Post am 16.2., "dass das Überleben der Demokratie mit der Geopolitik verflochten ist. Demokratische Prinzipen gedeihen nicht auf abstraktem Grund; sie müssen in einem sicheren, territorialen Raum institutionalisiert werden" (Demokratie geht nicht ohne Geopolitik).
Es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht um den Überlebenskampf des westlichen Systems. Das darf sich nicht als unterlegen erweisen, denn das macht seine Autorität aus. Wenn auch Russland nicht mehr sozialistisch ist, so ist es doch in den Augen des Westens keine Demokratie, wie der Westen sie sich wünscht. Und für China gilt das erst recht nicht. Denn es wird regiert von einer kommunistischen Partei und ist dabei auch noch erfolgreich – entgegen allen Theorien westlicher Experten und Meinungsmacher. Darüber können auch nicht das Wertegetöse des Westens und seine heuchlerische Menschenrechtspropaganda hinwegtäuschen. Chinas Sozialismus ist erfolgreicher als es der Sozialismus der UdSSR war. Aber China ist auch erfolgreicher als der liberale Westen, der sich immer mit seinem demokratischen Modell aller Welt überlegen glaubte.
Für den Westen steht viel mehr auf dem Spiel als der Sieg über Russland in einem eigentlich unbedeutenden Konflikt um die Ukraine. Für ihn geht es um das eigene Selbstverständnis. Seine Vorstellung von der Überlegenheit des westlichen Modells darf sich nicht als Lebenslüge herausstellen. Und mit jedem weiteren Einflussgewinn der sogenannten autoritären Staaten wie Russland und China werden dieser westlichen Überlegenheit die Grundlagen entzogen. Aber der Westen weiß keine Abhilfe dagegen als die altbekannten Mittel des militärischen und wirtschaftlichen Drucks. Mit der Eroberung von Staaten und der Einsetzung genehmer Regierungen hatte man nur vorübergehende Erfolge erzielt. Am Ende wurden die alten Verhältnisse wieder hergestellt, wie man in Afghanistan erkennen konnte. In der islamischen Welt hatten westliche Demokatisierungsmissionen verbrannte Erde hinterlassen.
Krieg zur Eroberung eines Territoriums ist ein veraltetes Konzept zur Sicherung von Einfluss. Das zeigt die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eroberte Gebiete konnten auf Dauer nicht gehalten werden, selbst wenn man befreundete Regierungen einsetzte. Aber selbst dort, wo westlicher Einfluss über lange Zeit vorherrschend war und durch gewogene oder gar abhängige Regierungen gestützt wurde, konnte das Vordringen Russlands und Chinas nicht aufgehalten werden. Die Entwicklungen in der Sahelzone machen das deutlich. Denn die Menschen der Welt wollen nicht vor allem Demokratie, sie wollen ein menschenwürdiges Leben, Wohlstand und eine freundliche Zukunft für ihre Kinder.
Insofern wird jede Gesellschaftsform und jede Regierung, die diesen Ansprüchen der Menschen nicht gerecht wird, auf Dauer keinen Bestand haben. Das zeigen die Entwicklungen in der Welt besonders seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts, das bestimmt ist durch den Wiederaufstieg Russlands zur politischen und militärischen Weltmacht und dem Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Führungsmacht. Und noch eine Wahrheit wird immer deutlicher: Dem Westen entgleitet die Welt.
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