Wie Bundesregierung und Bundestag über die Ukraine reden, aber über die Minsker Abkommen schweigen

Der Bundestag ist gut darin, Dinge zu übersehen. Erst hatte er die Demonstranten gegen die Corona-Maßnahmen übersehen, jetzt übersah er die Minsker Abkommen und die Rolle, die Deutschland darin spielt, sowie die Verantwortung, die es eigentlich hätte.

von Dagmar Henn

Es ist ermüdend, den Märchenstunden deutscher Politiker zu lauschen,wenn es um die Ukraine geht. Noch ermüdender ist es, immer wieder auf die Realität hinweisen zu müssen, die so beharrlich geleugnet wird. Das hat sich im Verlauf der letzten Jahre nicht gebessert. Aber da gestern in der kurzfristig eingefügten Debatte zur Ukraine wieder einmal alles von den Füßen auf den Kopf gestellt wurde, muss man leider weiter ausholen.

Die Ukraine ist, wie viele andere ehemalige Sowjetrepubliken auch, ein multiethnischer Staat. Es leben dort unter anderem Polen, Rumänen, Bulgaren, Deutsche, Griechen, Tataren, Ukrainer und Russen, wobei die Grenze zwischen den letzten beiden Gruppen fließend ist und eher eine politisch-kulturelle Selbstdefinition darstellt. Dabei war immer klar, dass der stark von Anhängern der ukrainischen Nazikollaborateure dominierte ländliche Westen und der von der Industriekultur der Sowjetunion geprägte Osten schwer unter einen Hut zu bringen sind (die Bewohner der Krim hatten von Anfang an versucht, der Ukraine zu entkommen). Das ging mehr oder weniger bis 2013, als die Regierung Janukowitsch die wirtschaftlichen Folgen des geplanten Assoziierungsabkommens mit der EU (die die Ukraine inzwischen zum ärmsten Staat Europas machten) noch einmal überprüfen wollte und die EU ihr daraufhin ein Ultimatum stellte, was den Maidan auslöste.

Nach monatelangen, vom Westen massiv unterstützen Protesten unterzeichnete Wiktor Janukowitsch ein Abkommen mit der westlich gestützten Opposition, vermittelt von den Außenministern Frankreichs, Polens und Deutschland. Dieses Abkommen war bereits am nächsten Tag nicht mehr das Papier wert, auf dem es stand; der gemäß dem Abkommen ungeschützte Präsidentenpalast wurde gestürmt und eine von den USA handverlesene Putschregierung etabliert, die sofort auch von den Vermittlern des Abkommens anerkannt wurde. Das war der erste große diplomatische Fehltritt (wenn man außen vor lässt, dass das Ultimatum der EU ohne deutsche Zustimmung nicht ergangen wäre).

Danach passierte erst auf der Krim, dann im Donbass das Gleiche, das zuvor in der Westukraine und in Kiew für die westlichen Berichterstatter als friedlicher Protest gegolten hatte – die Putschregierung wurde nicht anerkannt, es wurden Verwaltungsgebäude besetzt und die Unabhängigkeit erklärt. Ein Muster, das übrigens seitdem in mehreren Ländern wieder als friedlicher, demokratischer Protest verkauft wurde, sofern die Richtung genehm war.

Auf der Krim beschloss das nach ukrainischem Recht gewählte Parlament ein Referendum, das bereits einen Monat nach dem Putsch stattfand und eine überwältigende Mehrheit für einen Anschluss an die russische Föderation ergab; keine Überraschung, weil ein solches Referendum zu jedem beliebigen Zeitpunkt das gleiche Ergebnis gehabt hätte.

Im Donbass fand am 11. Mai 2014 ein Referendum statt, in dem die Mehrheit für die Unabhängigkeit von der Ukraine stimmte. Die Antwort aus Kiew bestand in der Eröffnung des Bürgerkriegs. Nachdem ein erster Versuch, die Donbassrepubliken auszulöschen, im Herbst gescheitert war und größere Teile der ukrainischen Armee eine militärische Niederlage erlitten hatten, kam es zu den ersten Minsker Vereinbarungen. Ein weiterer Angriffsversuch im Januar 2015 endete im Kessel von Debalzewo mit einer weiteren Niederlage und den zweiten Minsker Vereinbarungen.

Unterzeichnet wurden diese Vereinbarungen von der Ukraine und den Vertretern aus Donezk und Lugansk. Drei Staaten übernahmen bei dieser Unterzeichnung die Rolle von Garanten: Frankreich, Deutschland und Russland. Das bedeutet, alle drei haben die Verpflichtung übernommen, bei der Umsetzung dieser Vereinbarungen mitzuwirken. Durch die Übernahme der Minsker Vereinbarungen durch den UN-Sicherheitsrat haben diese Vereinbarungen die höchstmögliche völkerrechtliche Qualität; die Verpflichtungen aus diesen Vereinbarungen kann Deutschland also nicht durch bilaterale Verträge mit der Ukraine außer Kraft setzen.

Seit Frühjahr 2015 hat sich in der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen fast nichts bewegt. Nicht einmal eine dauerhafte Waffenruhe konnte erreicht werden. Mal sind die schweren Waffen der Ukraine in den Depots jenseits ihrer Reichweite, und mal sind sie es nicht. Immer wieder werden Orte in der sogenannten "grauen Zone" besetzt, die eigentlich den Abstand zwischen den Parteien herstellen soll. All die Jahre hindurch litt die Zivilbevölkerung des Donbass unter Beschuss, leichtem oder schwerem, je nachdem, ob Kiew gerade wieder in Angriffslaune war. Auch die Zahl der ukrainischen Truppen an der Kontaktlinie variierte.

Augenblicklich ist sie wieder sehr hoch. Die Vertreter der Donbassrepubliken sprechen von 130.000 Soldaten entlang der etwas über 500 Kilometer langen Frontlinie. Die üblichen Indizien für Angriffsvorbereitungen sind alle gegeben, wie beispielsweise eine partielle Räumung nahe gelegener Kliniken, um Platz für Verwundete zu schaffen. Dazu kommen dann noch die in jüngster Zeit erfolgten Waffenlieferungen aus den USA und aus Tschechien sowie westliche Militärberater. Das ist der klitzekleine Teil der momentanen Situation, der in deutschen Medien erst gar nicht erwähnt wird.

Aber nun zurück zu den Minsker Vereinbarungen. Was bedeutet es, wenn eine der Vertragsparteien durch eine militärische Offensive den Vertrag bricht? Dann wären erst einmal die Garanten gefordert, für eine Einstellung der Kampfhandlungen zu sorgen. Dabei gibt es keine Beschränkungen; schließlich wurde das Abkommen vom UN-Sicherheitsrat übernommen. In der realen gegenwärtigen Lage übersetzt sich das so: Sollte die ukrainische Armee die Donbassrepubliken angreifen, ist das ein eindeutiger Bruch der Minsker Abkommen, und die Garantiemächte – auch Frankreich und Deutschland – hätten nicht nur das Recht, sie hätten sogar die Pflicht, einzugreifen. Auch militärisch.

Also noch einmal, ganz langsam, zusammengefasst für all jene, die vom Völkerrecht kommen: Auf Grundlage der Minsker Vereinbarungen, die höchsten völkerrechtlichen Rang haben, hätte die Russische Föderation nicht nur das Recht, einen Kiewer Angriff gegen den Donbass militärisch zu beenden, sie hätte sogar die Pflicht. So wie Deutschland ebenfalls – das aber das genaue Gegenteil dessen tut, zu dem es eigentlich verpflichtet wäre.

Denn handelnder Part im Donbass, Angreifer, ist Kiew. Und Deutschland ist, so betonte es Außenministerin Annalena Baerbock gestern erst im Bundestag, "seit Jahren der größte Geber in der Ukraine". "Aktuell arbeiten wir daran, 150 Millionen Euro aus einem ungebundenen Finanzkredit möglichst schnell an die Ukraine auszuzahlen", betonte sie noch.

Deutschland, Garantiemacht der Minsker Vereinbarungen, bemüht sich also auch noch, der Ukraine, die ihre Truppen im Donbass aufmarschieren lässt, zusätzliches Geld zukommen zu lassen? Statt, wie es eigentlich verpflichtet wäre, die finanzielle Unterstützung von der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen abhängig zu machen?

Seit sieben Jahren gab es anstelle der Umsetzung der eigenen Verpflichtung, die schließlich freiwillig eingegangen wurde und derer man sich nach wie vor gerne rühmt, beständige Vorwürfe gegen Russland und bedingungslose Stützung der Ukraine. Wäre die deutsche Haltung nicht so abgrundtief verlogen, gäbe es so etwas wie wirklichen Respekt vor dem Völkerrecht, der Bürgerkrieg im Donbass wäre bereits vorüber.

Es war das Ultimatum der EU, das die Ukraine 2013 destabilisiert hat – im Wissen sowohl um die ökonomische Verflechtung mit Russland als auch um die schwierige Zusammensetzung der Bevölkerung. Aber Friedrich Merz, der neue CDU-Vorsitzende, erklärte, "dass diese Gefährdung des Friedens in Europa ausschließlich von der Russischen Föderation und ausschließlich von Wladimir Putin ausgeht". Der SPD-Außenpolitiker Lars Klingbeil pflichtet ihm bei: "Die Eskalation, die wir gerade erleben, geht von Russland aus." Geschichte schmeckt nun einmal besser, wenn man sie nach eigenem Geschmack gekocht hat.

Oder nehmen wir den FDPler Alexander Graf Lambsdorff: "Nicht die NATO hat die europäische Friedensordnung durch die Verlegung von 100.000 Soldaten an die Grenzen eines anderen Landes gestört." Verzeihung, Herr Lambsdorff, wenn die ukrainischen Truppen mit einem Bruch der Minsker Vereinbarungen drohen, wäre es grob fahrlässig von der Russischen Föderation, darauf nicht zu reagieren; und nicht jedes Land geht mit seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen so nachlässig um wie Deutschland.

Übrigens haben nicht einmal die Redner der Linken und der AfD den ukrainischen Aufmarsch auch nur erwähnt. Auch nicht die Verpflichtungen aus den Minsker Vereinbarungen. Es ist niemand mehr übrig im Parlament dieser Republik, der auf die tatsächliche Situation hinweist und dieser Regierung wie ihrer Vorgängerin gegenüber die deutsche Verantwortung einfordert. Nur diese eine, nur die aus den Minsker Abkommen; da muss man gar nicht das große Fass mit dem Überfall auf die Sowjetunion, 27 Millionen Toten und den Bandera-Kollaborateuren aufmachen.

Schon die schlichte Anerkennung der Tatsache, dass die durch einen NATO-Beitritt der Ukraine mögliche Stationierung von US-Raketen dort, die wie jene in Polen mit Nuklearköpfen ausgerüstet werden könnten, für Russland ein berechtigter Grund zur Sorge ist, gelingt gerade noch der Linken und der AfD. Der breite Widerstand gegen die Pershing-Stationierung in Deutschland Anfang der 1980er, die dasselbe Problem darstellten, nur in milderer Form, ist mittlerweile völlig vergessen. Am gründlichsten in der Partei, die aus diesen Protesten entstand, den Grünen.

Immerhin, zwischendrin gab es für Kenner der ukrainischen "Demokratie" auch Anlass zur Heiterkeit. Der CDU-Abgeordnete Florian Hahn lieferte seine Vorstellung von der russischen Sicht auf die Ukraine: "Dort befürchtet man den Erfolg des Nachbarn, weil er als Gefahr für die eigene innere Stabilität gesehen wird. Nichts wird dort so gefürchtet wie die Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Wahlfreiheit, die Religionsfreiheit, die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit." Vor allem in der ukrainischen Variante, in der regelmäßig Fernsehsender gestürmt und geschlossen, Zeitungen verboten und Journalisten wegen Hochverrats vor Gericht gezerrt werden. Wenn man dazu noch den wirtschaftlichen Wohlstand betrachtet, der über die Ukrainer gekommen ist, werden die Russen sicher ganz grün vor Neid. Und marodierende Nazihorden in den Straßen fehlen ihnen vermutlich auch schmerzlich.

Zum Glück gibt es keine Noten auf Bundestagssitzungen, sonst stünde unter dem Protokoll in roter Schrift "Thema verfehlt". Denn es ist letztlich nicht die Frage, ob nach Feldlazaretten und Helmen, nach der Behandlung von Freikorpskämpfern in Bundeswehrkrankenhäusern und der Ausbildung ukrainischer Offiziere nun auch noch Waffen geliefert werden. Um die könnte sich die russische Armee im Bedarfsfall auch noch kümmern. Nein, es ist die völlige Missachtung eigener Verantwortung, die absolute Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht, die diese Bundestagsdebatte zum Totalausfall machte. Denn den Schaden, den die Bundesregierung, diese wie die vergangene, dem deutschen Ansehen durch den Umgang mit diesen Verpflichtungen und ihre konsequente Wirklichkeitsverleugnung zufügt, könnte sie selbst mit Waffenlieferungen nicht mehr nennenswert verschlimmern.

Da kann man nur froh sein, dass wenigstens der ukrainische Botschafter Andrei Melnyk, ein bekennender Bandera-Anhänger, nicht bereits während der Auschwitz-Gedenkstunde auftauchte und begrüßt wurde. Auch wenn man zugeben muss, dass er sich bei all dem falschen Friedensgesäusel und all den falschen Vorwürfen gegen Russland in diesem Bundestag in passende Gesellschaft begeben hat.

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