Ein Kommentar von Wladislaw Sankin
Was tut eine solch exzentrische Person wie der Ex-Präsident Estlands Toomas Hendrik Ilves, wenn ihr nach Ende ihrer Amtszeit die große Bühne entzogen wird? Von 2006 bis 2016 standen nicht nur zahlreiche diplomatische Treffen des "Präsidenten mit einer Fliege" im Zentrum des journalistischen Interesses, sondern auch sein ausschweifendes Privatleben.
Aber so eine Person macht gerne auch nach dem Ausscheiden aus dem hohen Amt von sich reden. Und womit klappt das im Baltikum am besten? Mit rhetorischen Schlägen gegen den großen östlichen Nachbarn. Der ehemalige Chef der estnischen Redaktion des US-Propagandasenders RLFE weiß ganz genau, wie man Skandale und Skandälchen produziert.
"Natürlich könnte Russland Estland angreifen, aber kurz darauf würde es auch Omsk und Tomsk verlieren, ganz zu schweigen von Sankt Petersburg", sagte er im Jahre 2018. Im April letzten Jahres schlug er vor, russischen Bürgern die Einreise in die EU zu verweigern. "Es geht um die Sicherheit Europas. Es reicht", schrieb er auf Twitter. Schon damals war von einer bevorstehenden russischen "Invasion" in der Ukraine die Rede. Auch jetzt, als die Sicherheitsgespräche über die NATO-Osterweiterung nach einem russischen Vorstoß in aller Munde sind, kann der Gastprofessor der Universität Tartu nicht schweigen. Und er reiht sich in eine Twitter-Diskussion ein. Immerhin hat Ilves ganze 116.000 Follower.
Am einfachsten reiht man sich natürlich unter seinesgleichen ein – in einer Twitter-Blase der nordischen Russophoben. So schrieb ein finnischer Nutzer namens Aki Heikkinen: "Der russische Vizeaußenminister Rjabkow will NATO-Rollback bis nach ... Deutschland. Russland will also die Verhandlungen für den heimischen Konsum demonstrativ an die Wand fahren."
Zu diesem Nutzer gesellt sich ein anderer "Ex", der anscheinend den ganzen Tag damit verbringt, Russland Stiche zu versetzen (über 82.000 Tweets hat er bereits abgesondert) – der ehemalige lettische Abgeordnete Veiko Spolītis. Auch er ist wie Ilves kein Unbekannter und steht mit seinen antirussischen Initiativen wie etwa dem Verhängen von Geldstrafen für das Tragen des Georgsbandes an vorderster Front. Sonst twittert er im Stundentakt etwa Karten eines in viele Kleinstaaten zersplitterten Russlands oder Fake News wie "Russische Truppen haben Demonstranten in Kasachstan erschossen". Zu den russischen Forderungen an die NATO, das Vorrücken nach Osten zu beenden, hat der ehemalige Politiker nur ein einziges Wort als Kommentar übrig:
"Primaten."
Das bemerkte wiederum der Ex-Präsident und ehemalige Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Estlands Ilves und fand den Kommentar nicht präzise genug. Er korrigierte seinen lettischen Twitter-Freund:
"Veiko, du schreibst immer 'Primaten', aber Homo sapiens sind auch Primaten. Ich würde mit 'Affen' fortfahren."
Also, halten wir fest: Ilves, 68 Jahre alt, ein in Stockholm geborener und in den USA aufgewachsener estnischer Politiker und ehemaliger Präsident eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, nennt russische Diplomaten und womöglich auch die Russen insgesamt "Affen". Aber löst das einen Skandal aus? Ilves erntete etwas Widerspruch in seinem Twitter-Thread, in dem ein Nutzer ihn darauf erinnerte, dass er eine russische Großmutter aus Sankt Petersburg hat. Und auf Telegram widmete ein Blogger dem Ex-Präsidenten einen kleinen spöttischen Artikel, der auf dem RT-Telegram-Kanal veröffentlicht wurde. Neben den russischen Wurzeln machte er auch auf die SS-Vergangenheit von Ilves' Vater aufmerksam:
"Die schändliche Zugehörigkeit seines Vaters zu den 'Affen' hielt ihn jedoch nicht davon ab, in der SS zu dienen, worauf Toomas später immer wieder stolz hinwies."
Doch Ilves ist kein Rassist, schließlich beschimpft er doch nicht alle Russen als "Affen". Für Leute wie Alexei Nawalny findet er nur würdigende Worte, was den RT-Kommentator schlussfolgern lässt: "In dieser Weltanschauung ist ein guter Russe ein (dem Westen) höriger Russe – aber sobald ein Russe etwas sagt, z. B. über das Recht seiner Kinder, in ihrer Muttersprache Russisch zu lernen, verliert er sofort sein menschliches Gesicht und verwandelt sich in einen bösen, gefährlichen Affen." Damit erinnert er an den verzweifelten Kampf der russischen Minderheit in Estland für den Erhalt russischsprachiger Bildung.
Sonstige nennenswerte Reaktionen auf seinen animistischen Vergleich blieben diesmal aus. Denn mit seinem Vorschlag zum Einreisestopp für Russen bewirkte Ilves immerhin eine Reaktion des russischen Außenministeriums. Offenbar wundert diese Art der politischen Kommunikation in einem NATO- und EU-Land in Russland niemanden mehr.
"Leider gehört eine derartige 'Kommunikation' in den baltischen Ländern zum Alltag. Insbesondere in Estland ist diese Hasssprache gegenüber den Russen Normalität und für Ilves offenbar sein einziges Tätigkeitsfeld. Als ehemaliger Politemigrant mit antisowjetischem Hintergrund und Propaganda-Mitarbeiter zieht er sein politisches Kapital ausschließlich aus antirussischer Rhetorik. Und nun, da der Ex-Präsident zur 'Primadonna im Ruhestand' geworden ist, wird er den Napalmgrad seiner Äußerungen weiter erhöhen, um Aufmerksamkeit zu bekommen", kommentiert der Politikexperte und Kenner der Region Alexander Nossowitsch Ilves' Verhalten gegenüber RT.
Was lässt sich Ilves bei der nächsten Provokation bloß einfallen, um die gewünschte Wirkung auch ja nicht zu verfehlen?
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