von Christian Harde
Nicht erst seit dem ersten Gipfeltreffen des Bundeskanzlers Scholz mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer vor Weihnachten stehen die Prognosen der Virologen und die Modellierungen der Epidemiologen und Physiker wieder im Fokus der Aufmerksamkeit. Denn diese Zahlenwerke liefern eine, wenn nicht die entscheidende Grundlage für die Legitimation der Corona-Maßnahmen. Das Datenmaterial kommt meist von regierungsnahen Instituten wie dem Robert Koch-Institut (RKI), das als Bundesbehörde dem Bundesgesundheitsministerium nachgeordnet ist, oder von Fachverbänden, die ihre eigenen Interessen vertreten.
Auf die Unterschiede zwischen den Vorhersagen der Fachleute und der tatsächlichen Corona-Lage hat jüngst die Bild-Zeitung hingewiesen. So habe am 1. Dezember 2021 die "Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin" (DIVI) gemeldet, dass in ganz Deutschland 4.690 COVID-Kranke auf Intensivstationen behandelt werden.
Faszination der großen Zahl?
Am selben Tag habe hingegen der DIVI-Präsident Gernot Marx im ZDF davon gesprochen, dass bis Weihnachten "6.000 Corona-Kranke gleichzeitig auf Deutschlands Intensivstationen liegen" würden.
Auch das Robert Koch-Institut unter seinem Präsidenten Lothar Wieler habe nur "einen Tag später" behauptet, in "20 Tagen werde die Belegung der Intensivstationen auf 5.700 Corona-Patienten steigen".
Konfrontation mit der Realität
Allerdings ist keine dieser Prognosen eingetreten, wie Bild feststellt:
"Bereits wenige Tage nach den Schock-Prognosen erreichte die Belegung der Intensivbetten ihren Höhepunkt: am 10. Dezember bei rund 4.900 Corona-Patienten. Seither fällt der Wert."
Die Marke von 4.900 wurde jedoch gar nicht erreicht. Im Gegenteil, die Tendenz der Intensivbettenbelegung mit COVID-Patienten ist konstant fallend. Vorgestern lag sie laut DIVI-Angaben bei 4.201, am 29.12. mit 3.981 schon unterhalb der Schwelle von 4.000 Patienten.
Nichtsdestotrotz haben die offensichtlich überhöhten Prognosen einen erheblichen Einfluss auf die Corona-Regeln, die für die gesamte Gesellschaft aufgestellt werden. Das Springer-Blatt zitiert den früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, nach dem ersten Bund-Länder-Gipfel mit folgender Aussage:
"Wir haben heute auch wieder miteinander wichtige Maßnahmen beschlossen, … und ich glaube, dass es uns damit auch gelingen kann, dass sich die Situation auf den Intensivstationen nicht weiter zuspitzt."
Erklärungsversuche
Die Wirkung neu beschlossener Maßnahmen – wenn man so will, ein Sonderfall des Präventionsparadoxons – tritt allerdings nicht sofort ein, sondern erst nach mehreren Wochen und macht sich dann möglicherweise auch auf den Intensivstationen bemerkbar. Insofern kann die seit dem 10. Dezember fallende Belegung der Intensivbetten "nicht mit den kurz zuvor beschlossenen Verschärfungen (u. a. bundesweit 2G im Handel, Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte) zusammenhängen. Heißt: Die Prognosen lagen alle daneben."
Auf die unzutreffenden Prognosen von Bild angesprochen, reagierten DIVI und RKI unterschiedlich. Gernot Marx, der Präsident der DIVI, ließ mitteilen, dass es "glücklicherweise anders gekommen" sei. Allerdings klingt seine Erklärung für die positivere Entwicklung widersprüchlich und auch makaber: Man habe die Zahl von 6.000 Intensivpatienten nicht erreicht, "weil unerwartet viele Corona-Patienten auf den Intensivstationen gestorben sind". Was jedoch bedeuten würde, dass diese Patienten, wenn auch nur für eine kurze Zeit – eben bis zu ihrem Tod – auf einer Intensivstation behandelt wurden. Vom RKI erhielt die Zeitung nach ihren Angaben keine Antwort.
Nicht immer nur vom Schlimmsten ausgehen
Die Bild-Zeitung führt zur Erklärung zwei Stimmen aus der Wissenschaft und Politik an, die zu einer Änderung der Prämissen raten, was die Prognose von Corona-Szenarien angeht. Den Statistiker Ralph Brinks, der als Privatdozent unter anderem an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität forscht, zitiert das Blatt mit der Erklärung, dass die Corona-Lage "vom DIVI und dem RKI falsch eingeschätzt worden" sei, weil nicht alle Aspekte der Entwicklung in den Blick genommen wurden, sondern "stark in Richtung Worst-Case-Szenario interpretiert" worden sei.
Auch der Grünen-Abgeordnete Dieter Janecek forderte eine "Abkehr von reinen Schock-Prognosen" ein. Es dürfte der Öffentlichkeit "nicht nur das Worst-Case-Szenario" vermittelt werden, weil sonst "das Vertrauen der Bevölkerung Schaden nehmen" könnte.
Fortgesetzte Kritik am RKI
Ganz ähnlich äußerte sich die frühere Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) in einem Video-Interview mit der Bild. Auch sie verwies auf das Auseinanderklaffen von Vorhersagen und wirklichen Verhältnissen auf den Intensivstationen im Laufe des Dezembers 2021 – und nannte die bereits erwähnten, deutlich niedrigeren Belegungszahlen. Daher würde ihr Glaube an die Voraussagen "von Prognose zu Prognose" schwinden. Schröder weiter:
"Je alarmistischer und panischer der Unterton ist, desto weniger Vertrauen habe ich. Dann habe ich das Gefühl, dass da die Agenda dahintersteckt, möglichst harte Maßnahmen durchzudrücken."
Das RKI war in der vergangenen Woche mit seinen Forderungen nach härteren Maßnahmen bei der Berliner "Ampel"-Koalition nicht durchgedrungen. Ex-Ministerin Schröder übte ebenfalls Kritik am Präsidenten des RKI, Lothar Wieler, der seine Forderungen veröffentlicht hatte, ohne sich vorab mit Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach abzusprechen:
"Wenn ein Chef einer von mir verantworteten Behörde ohne Absprache zwei, drei Stunden vor einer entscheidenden Konferenz" politische Forderungen veröffentlichen würde, dann "wäre er bei mir nicht mehr Behördenchef gewesen".
Schröders Kritik gipfelte in der Warnung vor der Annahme, das Corona-Virus durch immer härtere Maßnahmen ausrotten zu können: "No-COVID ist eine totalitäre Ideologie."
Unsichere Datenlage
Tatsächlich scheint es keine gesicherte Datengrundlage zur Corona-Situation in Deutschland zu geben, wie zahlreiche Medien berichten. Das Boulevard-Blatt resümiert dazu: "Das Chaos ist komplett." Zutreffend dürfte immerhin die Feststellung sein, dass "die Situation ... an den Winter 2020/21" erinnere und "sich offenbar in den Gesundheitsämtern nicht viel verändert" hat.
Für eine gewisse Entwarnung sorgte indessen das Schwester-Blatt Die Welt: In ihrer Online-Ausgabe bereitet die Zeitung die täglichen Corona-Fallzahlen inzwischen wieder kritisch auf. Das war nicht immer so – in der Vergangenheit gab es durchaus Videos in alarmierender Tonlage.
Ob es wirklich nur um Pannen bei der Datenübermittlung, um mangelhafte Registrierung der "Fälle" und allzu pessimistische Grundannahmen bei der Modellierung der Corona-Szenarien geht oder ob mehr hinter der fortgesetzten Kritik am RKI steckt, dies dürfte sich Anfang des kommenden Jahres klären.
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