von Rainer Rupp
Wie es der Namen schon sagt, steht das US-Internet-Portal "Defence One" dem Militär der Vereinigten Staaten nahe. Dennoch hat jetzt Dr. Lyle J. Goldstein, der an dem sicherheitspolitischen US-Institut "Defense Priorities" (Verteidigungsprioritäten) als Direktor des "Asia Engagement Programm" tätig ist, auf diesem vom US-Militär viel gelesenen Portal einen bemerkenswert friedfertigen Artikel zur Ukraine-Krise am 13. Dezember veröffentlicht. Darin legt der Autor weitgehend korrekt dar, wie sich das Problem aus der Sicht der Russen präsentiert. Zudem räumt er ein, dass die Russen berechtigte Gründe für die Verteidigung ihrer "roten Linien" haben, also auch für ihr Beharren auf dem Ende der stetigen westlichen Militär-Expansion immer näher an die russische Grenze. Nach dem Motto "Bis hierhin und nicht weiter" hat das auch Präsident Putin seinem Gesprächspartner Präsident Biden und damit auch indirekt der NATO ultimativ klargemacht.
Aber die Situation sei nicht so verfahren, wie viele glauben, argumentiert Dr. Goldstein, der vor seiner jetzigen Position bei "Defense Priorities" 20 Jahre lang als Forscher und Professor an der Universität der US-Kriegsmarine "U.S. Naval War College" lehrte. Um den Frieden in Osteuropa zu retten, müsste das sicherheitspolitische Establishment zum Realismus der Realpolitik zurückkehren und nicht länger engstirnig an das eigene Propaganda-Narrativ glauben.
Unter dem Titel: "Wie kann der Krieg verhindert werden" beginnt Dr. Goldstein seinen Artikel mit einer kurzen Beschreibung der Lage, so wie auch wir sie aus den einseitigen Berichten unserer Konzern- und Regierungsmedien kennen, die uns tagein, tagaus mit dem westliche Propaganda-Narrativ der russischen Aggressivität und Kriegsgefahr zudröhnen. Demnach sei es "durchaus denkbar, dass in Europa ein großer Krieg stattfinden wird", und darüber hinaus sei es "auch möglich, dass sich dieser Krieg schnell auf Asien ausweiten könnte."
Dr. Goldstein geht auch auf das an die Washington Post durchgestochene Dokument der US-Geheimdienste ein, das am 3. Dezember von der Zeitung veröffentlicht wurde. Darin behauptet die Zeitung, die übrigens mit genau derselben Methode bereits die US-Bevölkerung in den Irak-Krieg und andere Konflikte hineingelogen hatte, dass dierussischen Streitkräfte jetzt für einen mehrgleisigen Angriff mit "100 taktischen Bataillonsgruppen" bereitstehen würden, die insgesamt etwa 175.000 Soldaten umfassen. Diese Truppen seien bereits in ihren Bereitstellungsräumen eingetroffen oder auf dem Weg dorthin. Und ihre Kampfkraft sei doppelt so groß wie die der Truppe, die bereits im Frühjahr 2021 an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen worden war.
Unheilvoll verkündet der angebliche US-Geheimdienst-Bericht auch, dass Moskau Reservekräfte einberufen habe. Die Invasion der Ukraine könne schon bald beginnen. Die russische Militärführung würde nur noch darauf warten, dass der Schlamm zu Eis aushärtet, damit die russischen Panzer schneller manövrieren können. "Mit einer Kaltfront, die jetzt in die Region zieht, könnte der Kreml einen schnellen Sieg suchen, der dann bereits zu den Neujahrsfesttagen gefeiert werden könnte". – Soweit die Darstellung des westlichen Narrativs, an dem nicht gezweifelt werden darf, wenn man kein "Putinversteher" sein will.
Als nächstes macht der Autor Goldstein dann einen mutigen Schritt, indem er fragt, wieso es überhaupt dazu kam, "dass Europa heute am Rande eines großen Krieges steht", und auf wessen Verhalten es jetzt ankommt, damit "dieser Abstieg in die drohende Dunkelheit aufgehalten wird".
Aber vielleicht ist es für die Diplomatie bereits "zu spät, um die Tragödie noch aufzuhalten", sinniert der Autor und führt dann eine lange Reihe von Provokationen der USA und der NATO und dem Versagen dabei an:
"Immer wieder hat Washington in den letzten zwei Jahrzehnten im Umgang mit Moskau die Konfrontation dem Kompromiss vorgezogen. In den 1990er Jahren setzte die Clinton-Regierung die NATO-Erweiterung durch, trotz der Warnungvon Amerikas erfahrenstem Diplomaten George Kennan, der voraussagte, dass dieser Schritt den Samenkeim für einen neuen Kalten Krieg pflanzen würde. Wie üblich hatte Kennan Recht. Die Bush-Regierung verschärfte die Situation, indem sie eine ganze Reihe neuer Länder als NATO-Mitglieder aufnahm und eine Reihe von Rüstungskontrollverträgen zerriss.
Während Präsident Obama versuchte, die Beziehungen neu zu gestalten, scheiterten seine inkompetenten Diplomaten kläglich daran, Frieden und Stabilität nach Osteuropa zu bringen. Trump, der von den Medien und als 'Putin-Handlanger'ständig angegriffen wurde, erhöhte den Einsatz, indem er dem ukrainischen Militär tödliche Waffen lieferte und zugleich rücksichtslos das Tempo der US-Militärübungen an Russlands Grenzen ausweitete und fast alles, was von russisch-amerikanischen Rüstungskontrollverträgen übrig geblieben war, zerfetzte."
An dieser Stelle wäre zu ergänzen, dass mit der Übernahme der US-Präsidentschaft durch Joe Biden im Januar 2021 die neue Regierung in Washington, D.C. in Bezug auf ihre Beziehungen zu Russland genau dort weitermachte, wo Trump aufgehört hatte. Schlimmer noch: Bidens außenpolitisches Team setzt sich nämlich aus den Chef-Architekten zusammen, die den blutigen Maidan-Putsch rechter und faschistischer Kräfte gegen den demokratisch gewählten damaligen Präsidenten der Ukraine Viktor Janukowitsch im Jahr 2014 orchestriert hatten. Die seither berüchtigte Frau Victoria Nuland hat aktuell in der Rangordnung des US-Außenministeriums die dritthöchste Position inne. Es ist ausgerechnet diese neokonservative "Russenfresserin", die auf dem Maidan "Plätzchen" an die faschistischen "Revolutionäre" verteilt hatte, die heute wieder für Washingtons Beziehungen zur Ukraine, zu Russland und zu Weißrussland zuständig ist.
Vor dem Hintergrund der im letzten Halbjahr wieder verstärkten US-Waffenlieferungen an die Ukraine und der wieder aufgenommenen Verlegung schwerer Waffen der ukrainischen Armee an die Frontlinien zum Donbass und zur Krim hat Putin jetzt Joe Biden gesagt: Bis hierhin und nicht weiter. Wenn es also von Seiten Washingtons auch diesmal nur bei Lippenbekenntnissen für eine diplomatische Lösung der Ukraine-Krise auf der Basis des Minsk II-Abkommens im Rahmen des Normandie-Formats bleibt und die Amerikaner gemeinsam mit ihren europäischen NATO-Wasserträgern das gefährliche Spiel weiter auf die Spitze treiben, wird Moskau mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit militärisch reagieren.
Wenn bockige westliche Politiker aus ideologischer Verblendung oder Ignoranz weiter in ihrer falschen Realität von der Überlegenheit des Westens leben wollen und Provokation einem diplomatischen Kompromiss vorziehen, um Russland in die Enge zu treiben, dann wird Russland im Alleingang Fakten schaffen, die das weitere Vorrücken der USA mit den NATO-Armeen an Russlands Grenzen unterbinden und sich zugleich für die Zukunft ein Glacis zur besseren Verteidigung schaffen.
Um einen solchen Schritt der russischen Armee zu verhindern, die in den letzten 20 Jahren auf allen Ebenen eine einzigartige militär-technologische Revolution erfolgreich umgesetzt hat, reichen die Fähigkeiten der USA und der NATO-Streitkräfte vor Ort nicht einmal mehr annähernd aus. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen auch beim US-Militär durchgesetzt, und das Pentagon hat den Regierenden in Kiew bereits klargemacht, dass sie im Ernstfall nicht mit der Hilfe von US-Militäreinheiten rechnen können. Das schließt implizit auch jede Hilfe von anderen NATO-Truppen aus. Sollte es so weit kommen, dann wären die USA und die NATO-Länder in mehrfacher Hinsicht die Verlierer:
- Erstens, weil sie wegen ihrer Untätigkeit im Fall einer russischen Militäraktion in der Ukraine weltweit ihr Gesicht als dominante Militärmacht verlören.
- Zweitens, weil die wirtschaftlichen und politischen Eliten in westlichen Staaten durch ein Nichteingreifen der USA zutiefst verunsichert würden und in vielen westlichen Ländern die bereits erkennbare Neuorientierung – weg von Washington – beschleunigt würde.
- Und drittens würde eine solche Entwicklung zu tiefen innenpolitischen Verwerfungen in den meisten NATO-Mitgliedsländern führen, in denen mit großer Sicherheit die Diskussion über Sinn und Unsinn einer "hirntoten NATO" (Macron) und ihrer Garantiemacht USA die Tagesordnung bestimmen würde.
Nach diesen Überlegungen gehen wir wieder zurück zum Text von Dr. Goldstein vom US-Institut für "Verteidigungsprioritäten", der darin offensichtlich auch erkennt, in welche gefährliche Zwickmühle man sich in Washington mit der bisherigen Ukraine-Politik hineinmanövriert hat.
"Welches Friedensangebot könnte Washington jetzt anbieten?"– fragt der erfahrene Stratege, um dann Washington einen unangenehmen, aber erfolgversprechenden Ausweg aus der Misere zu zeigen:
"Offensichtlich könnte Washington schnell und öffentlich erklären, dass die Eingangstür zum NATO-Beitritt sowohl für Georgien als auch für die Ukraine geschlossen wird. Das könnte erstmal den drohenden Konflikt abwenden und die Ukraine retten. Aber für einen dauerhaften Frieden in der Region müssten noch einige weitere Schritte unternommen werden: nämlich die Wiederaufnahme wichtiger Rüstungskontrollabkommen wie der Verträge über 'Open Skies' und die nuklearen Mittelstreckensysteme sowie durch noch grundlegendere Abkommen über die ballistische Raketenabwehrund über konventionelle Streitkräfte in Europa."
Aber laut Dr. Goldstein ist all das längst noch nicht genug, um die Beziehungen zu Russland wieder zu normalisieren. Weiter führt er aus:
"Doch um die europäische Sicherheit wirklich weg von einem neuen Kalten Krieg zu führen und zu transformieren, müssten die NATO-Länder das Kriegsbeil begraben, die unaufhörliche Aufrüstung in Osteuropa beenden und – so bitter dieses Pille auch sein mag – die Anerkennung der russische Souveränität über die Krim schlucken, die die wahre Quelle der anhaltenden Spannungen in der Region darstellt. Als Zwischenschritt in Richtung dieser Ziele könnte es für NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und verschiedene hochrangige Biden-Berater ratsam sein, einige grundlegende Abendkurse über internationale Beziehungen zu belegen, die sowohl über 'rote Linien' als auch über 'Einflusssphären' weiterbilden. Solche Konzepte, die viele Kriege verursacht haben, können nicht mit wohlklingender liberaler Rhetorik weggewünscht werden", mahnt Dr. Goldstein zu Recht.
Anmerkung:
Lyle J. Goldstein ist Director of Asia Engagement bei Defense Priorities. Zuvor war er 20 Jahre lang Forschungsprofessor am U.S. Naval War College. In dieser Funktion wurde ihm die Superior Civilian Service Medal (sinngemäß: Medaille für herausragende Dienste an der Gesellschaft) für die Gründung und Leitung des China Maritime Studies Institute (CMSI) verliehen. Seine Kernkompetenzen umfassen sowohl die maritime Sicherheit als auch Fragen der nuklearen Sicherheit. Er spricht sowohl Chinesisch als auch Russisch und schreibt derzeit ein Buch über die Beziehungen zwischen China und Russland. Er hat einen Ph.D. von der Princeton University, einen M.A. der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University und einen B.A. von der Harvard University.
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