Ein Kommentar von Tarik Cyril Amar
Vor mehr als einem Jahr nahmen weißrussische Sicherheitskräfte, in einer spektakulären Razzia in einem Kurhotel außerhalb der Hauptstadt Minsk, 33 russische Söldner fest, was sogar zur besten Sendezeit in den Hauptnachrichten des Landes ausgestrahlt wurde.
Zunächst beschuldigte der autoritäre Präsident von Weißrussland, Alexander Lukaschenko, Russland, diese Truppe von Glücksrittern entsandt zu haben, um ihn aus dem Amt zu stürzen. Im vorangegangenen August gewann Lukaschenko zwar die Präsidentschaftswahl, sah sich aber einer ernsthaften Herausforderung durch die inländische Opposition und heftiger internationaler Kritik gegenüber. Der Kreml wies Lukaschenkos Vorwurf umgehend zurück, und Moskau und Minsk regelten die Angelegenheit rasch untereinander: Lukaschenko ließ seine seltsamen Behauptungen fallen und die Söldner wurden nach Russland zurückgeschickt.
Oft unter den Ersten, die mit dem Finger auf angebliche russische Einmischung in ausländische Angelegenheiten zeigen, legten bei dieser Affäre ausnahmsweise sogar die westlichen Medien Zurückhaltung an den Tag. Selbst die New York Times und die Washington Post – beides hartgesottene Veteranen der amerikanischen Desinformationskampagne namens "Russiagate" – stellten fest, dass unabhängige Beobachter von den Anschuldigungen gegen den weißrussischen Präsidenten nicht überzeugt sind.
So weit, so gut, könnte man meinen. Aber der Vorfall, allgemein als "Wagnergate" bekannt und nach dem wichtigsten und bekanntesten russischen Söldnerunternehmen Wagner benannt, sorgt immer noch für Ärger. Aber nicht in Minsk oder in Moskau, sondern in Kiew. Der Grund dafür ist, dass dieser ganze Schlamassel von der Ukraine angerichtet wurde, mit dem Wissen und der Unterstützung westlicher Geheimdienste.
Gemäß einem Plan sollten Söldner aus Russland nach Minsk gelockt werden. Anschließend sollten sie in die Reichweite der ukrainischen Sicherheitsdienste gebracht, festgenommen und in einem großen Gerichtsprozess abgeurteilt werden, wegen angeblich begangener Kriegsverbrechen in der Ostukraine, zu der Zeit, als sie auf der Seite lokaler Separatisten kämpften.
Wenn die Anschuldigungen gegen diese Söldner wahr wären, dann hätten sie es sicherlich verdient, irgendwo vor Gericht gestellt zu werden. Genauso wie ausländische "Freiwillige" und Söldner, die auf der Seite von Kiew kämpfen, einer Überprüfung und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sein sollten, statt westliche Unterstützung zu erhalten.
Ob die Ukraine ein angenehmer Ort für diese Männer gewesen wäre, um vor Gericht gestellt zu werden, ist eine andere Frage. Es besteht kein Zweifel daran, dass Kiew, das die Rechtsstaatlichkeit im Land in den vergangenen Jahren massiv untergraben hat, einen Prozess gegen diese Söldner auch als Medienereignis und Ressource im Informationskrieg genutzt hätte.
Doch der Plan scheiterte. Statt in die Falle zu tappen, die in der Ukraine auf sie wartete, wurden die Söldner zunächst auf ihrer Reise an den eigentlichen Einsatzort aufgehalten und dann in Weißrussland festgenommen. Seit diesem Scheitern stellt man sich in der Ukraine die Frage nach dem Warum. Vor allem Kritiker des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij haben versucht, ihm die Schuld an der missglückten Operation in die Schuhe zu schieben.
Ihre Anschuldigungen sind im Wesentlichen einfach: Selenskij hat die Operation vermasselt und damit einen unter seinem Vorgänger Petro Poroschenko ausgeheckten Plan zunichte gemacht. Noch härtere, vielleicht weniger verlässliche Kritiker gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie werfen Selenskij vor, die Operation absichtlich sabotiert zu haben, und zwar weil er – man ahnt es – mit "den Russen" unter einer Decke steckt. Oder zumindest mit den Weißrussen.
Vor diesem Hintergrund hat die westliche "Ermittlergruppe" Bellingcat – die in Russland als ausländischer Agent gelistet ist und wenig überzeugend behauptet, keine Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten zu haben – vor Kurzem einen langen Bericht über "Wagnergate" veröffentlicht. Nun gut, Vieles von dem, was Bellingcat ausgegraben hat, bestätigt und beschreibt Dinge, die über diese Operation bereits bekannt oder zumindest vermutet wurden. Es muss dazu angemerkt werden, dass die "Faktenfinder" von Bellingcat von den Regierungen der USA, Großbritanniens und der Niederlande finanziert werden.
Zwei Ergebnisse aus dem "Bericht" von Bellingcat stechen aber hervor. Erstens bleibt die Rolle von Selenskij, in Bezug auf eine Beteiligung an der Affäre, unklar. Es scheint keinen Zweifel daran zu geben, dass er über das so genannte "Projekt Avenue" gut informiert war und grünes Licht dafür gab. Wenn jedoch die von Bellingcat genannten Quellen zuverlässig sind, dann kann die fatale Verzögerung in der Endphase der Operation nur auf Andrei Jermak, den Leiter des ukrainischen Präsidialamts, zurückgeführt werden. Jermak, so scheint es, argumentierte, dass der Zeitpunkt der Operation mit einem gerade ausgehandelten Waffenstillstand kollidierte. Dies schließt eine Beteiligung von Selenskij an dieser Entscheidung zwar nicht aus, aber falls es einen "rauchenden Colt" gibt, dann wurde dieser zumindest vorerst bei Jermak gefunden. Es sei darauf hingewiesen, dass Bellingcat betont hat, dass man nicht in der Lage sei, diese Informationen unabhängig zu überprüfen.
Ein weiterer Negativpunkt, der den Bericht von Bellingcat auszeichnet, ist, dass einem keine Beweise dafür vorgelegt werden, dass weder Jermak noch Selenskij etwas Schlimmeres getan hätten, als das "Projekt Avenue" zu verzögern. Auch scheint der Bericht keine handfesten Hinweise darauf zu geben, dass entweder Jermak oder Selenskij einen Tipp über die geplante Operation an Weißrussland oder Russland weitergegeben hätten. Stattdessen bleibt die wahrscheinlichste Erklärung für die Verhaftung der Söldner, dass ihr allgemeines Verhalten während des Aufenthalts in Minsk sehr diszipliniert und auffällig unauffällig war, was ihrer Tarnung als "Touristen" widersprach, wie ukrainische Medien feststellten.
Das zweite wichtige Ergebnis dieser Untersuchung betrifft die Art und Weise, wie die ukrainischen Sicherheitsdienste planten, die russischen Söldner in ihre Hände zu bekommen. Offensichtlich konnten sie nicht darauf hoffen, sie dazu zu bringen, freiwillig in das Territorium der Ukraine einzureisen.
Dafür hätte die Kaperung einer Linienmaschine hinhalten müssen. Die Grundidee war, die Männer dazu zu bringen, von Minsk nach Istanbul zu fliegen, unter dem Vorwand, von dort zu ihrem eigentlichen Einsatzziel Venezuela weiterzufliegen. Der Flug Minsk-Istanbul hätte unweigerlich den ukrainischen Luftraum durchqueren müssen, und ein falscher Bombenalarm hätte genügt, um Kiews Fluglotsen das formelle, wenn auch letztlich unredliche, Recht zu erteilen, das Flugzeug in der Ukraine zur Landung zu bringen.
Aber nichts davon trat tatsächlich ein, da die Männer Minsk nie verlassen haben. Aber wenn sich alles nach Plan zugetragen hätte, wäre dies dem Szenario sehr ähnliche gewesen, das Lukaschenko im Mai 2021 vermutlich tatsächlich durchgezogen hat, als sich ein Ryanair-Flug nach einer Bombenwarnung über weißrussischem Luftraum zur Landung in Minsk veranlasst sah. Bei dieser Angelegenheit soll der weißrussische Präsident angeblich hinter dem Oppositionsaktivisten und ehemaligen rechtsextremen Kämpfer im Solde Kiews, Roman Protassewitsch, her gewesen sein, der sich an Bord besagter Maschine befand. Der Westen verurteilte diesen angeblichen Handstreich als staatliche Luftpiraterie und verhängte weitere Sanktionen gegen Weißrussland.
Die ukrainischen Sicherheitsdienste hatten für ihr geplantes Vorgehen mittels Luftpiraterie natürlich systematische Möglichkeiten vorbereitet um alles abzustreiten, also Lügen und Vertuschungen. Es ist immer noch faszinierend, darüber nachzudenken, was wohl passiert wäre, wenn sie ihren Plan hätten durchziehen können. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte der Westen seine übliche "Ob richtig oder falsch, er ist unser Hurensohn"-Logik in Gang gesetzt und beide Augen zugedrückt.
Und hier ist die Ironie die in der ganzen Affäre liegt: Nehmen wir mal an, der ukrainische Präsident hat die Operation seines Vorgängers nicht absichtlich sabotiert. Nehmen wir weiter an, dass er grünes Licht dazu gegeben hat und schließlich nur sein engster Berater für die Verzögerung verantwortlich war, durch die das Ganze zu dem Fiasko wurde, in dem es letztendlich endete.
Das Ergebnis daraus wäre natürlich, dass Selenskij zunächst einen Akt der Luftpiraterie genehmigt hätte, der nicht besser gewesen wäre als der, den Lukaschenko später im Mai 2021 angeblich anordnen sollte. Aber man muss auch berücksichtigen, dass nicht Selenskij, sondern angeblich sein Amtschef diesen Teil der Operation in den Sand gesetzt hat, und das – soweit wir wissen – nicht einmal wegen seiner Bedenken darüber, unter falschen Vorwänden die Landung einer Linienmaschine zu erzwingen.
Man kann daraus die Schlüsse ziehen, die man will. Aber das größte Problem von Selenskij ist nicht wirklich der Verdacht, dass er irgendwie einen komplizierten, aber letztlich doch ziemlich verrückten Plan zur Begehung von Luftpiraterie versenkt hat. Stattdessen ist es die aufkommende Wahrscheinlichkeit, dass er ihn zuerst bestellt und dann nicht wirklich gestoppt hat. Und hier haben wir die ultimative Zwickmühle für den ukrainischen Präsidenten: Wenn er jetzt vortreten und gestehen würde, dass er es war, der das "Projekt Avenue" verschoben und/oder abgebrochen hat, dann würden die "Patrioten" der Ukraine auf Touren kommen und ihn dafür bei lebendigem Leibe auf dem Maidan rösten. Das wäre eigentlich lustig, wenn es nicht so traurig wäre.
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Tarik Cyril Amar
Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er twittert unter @tarikcyrilamar
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