Ein Kommentar von Seyed Alireza Mousavi
Die Atomverhandlungen mit Iran werden am 29. November in Wien wieder fortgesetzt. Vertreter von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und China trafen sich von April bis Juni dieses Jahres noch unter der prowestlichen Rohani-Regierung mit Unterhändlern Irans, um das Abkommen wiederzubeleben. Die USA waren seinerzeit indirekt an Gesprächen beteiligt. Mit der Wahl des konservativen Ebrahim Raisi zum neuen Präsidenten riss der Gesprächsfaden allerdings ab, da die neue Regierung davon ausgeht, auf einer reinen Verhandlungsbasis die Aufhebung der Sanktionen gegen das Land nicht erwirken zu können. Im Mai 2018 hatte der damalige US-Präsident Donald Trump einseitig den Austritt der USA aus dem Abkommen erklärt und zusätzliche Strafmaßnahmen gegen Teheran verhängt, obwohl sich Iran an alle technischen Vorlagen in dem Atomdeal (JCPOA) hielt.
Seit zwei Monaten setzt Iran die Anreicherung von Uran unvermindert fort und baut seine Produktionskapazitäten aus. Teheran besitzt nach eigenen Angaben nun 210 Kilogramm Uran, das auf 20 Prozent angereichert ist, und soll zum ersten Mal 25 Kilogramm Uran bis auf 60 Prozent angereichert haben. Für eine Atomwaffe muss Uran auf 93 Prozent angereichert werden. Laut dem Atomabkommen von 2015 sollte Iran eigentlich kein Uran über die Schwelle von 3,67 Prozent anreichern. Im Gegenzug sollten Sanktionen gegen das Land aufgehoben werden.
Offenbar hat Iran die Zeit genutzt, um sein Atomprogramm weiter auszubauen und damit bei der Wiederaufnahme der Gespräche über mehr Verhandlungsmasse zu verfügen.
Seit Jahren behauptet Israel, Iran stehe kurz vor der "Atombombe". Tel Aviv setzt in letzter Zeit erneut seine Drohgebärden und weltweiten Medienkampagnen gegen Teheran fort und droht mit einem Angriff. Iran beklagt wiederum eine starke Zunahme des israelischen Säbelrasselns gegen das Land und warnte vor jeglicher "Fehlkalkulation". Die USA und Israel sollen inzwischen Geheimgespräche Iran betreffend geführt haben, um einen möglichen "Plan B" zu diskutieren, falls die Gespräche über den Atomdeal nicht wieder aufgenommen werden.
Die Folgen eines Angriffs gegen iranische Atomanlagen sind unabsehbar. Schlimmstenfalls könnten viele andere Staaten in einen Krieg mit hineingezogen werden. Der israelischen Führung ist einerseits bewusst, dass die Ermordung iranischer Wissenschaftler und Sabotage-Aktionen sowie Wirtschaftssanktionen das iranische Atomprojekt nicht stoppen werden. Anderseits würde laut israelischen Sicherheitsexperten ein möglicher Krieg gegen Iran eine Kampagne im Nahen Osten gegen Israel auslösen und die Hisbollah mit ihren 150.000 Raketen (und sehr wahrscheinlich sogar die Raketenvorräte der Hamas und des Islamischen Dschihad aus dem Gazastreifen sowie Huthi-Kampfdrohnen aus dem Jemen) auf den Plan rufen. Die Hisbollah ist in der Lage, etwa 1.000 bis 3.000 Raketen pro Tag auf israelische Gebiete abzufeuern.
Bei der Analyse der Kriegsszenarios wird allerdings überwiegend eine direkte Einmischung Irans in den Krieg mit Israel ausgeblendet, da sich Iran dabei in erster Linie auf seine Stellvertreter in der Region stützt. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Teheran auf einen israelischen Angriff auf Atomanlagen direkt reagieren würde, indem es massiv ballistische Raketen und Drohnen auf Israel abfeuerte.
Die Israelis wissen zudem, dass ein Schlag gegen Atomanlagen in Iran unvollkommen wäre. Die unterirdischen Anlagen Irans sind nur mit Raketen zu erreichen, die tief in die Erde eindringen, wobei die Raketen als solche unterirdische Anlagen auch nicht völlig zerstören. Über solche Raketen verfügen zudem nur die USA; Israel besitzt sie nicht.
In einem unlängst veröffentlichten Bericht des Instituts für Wissenschaft und internationale Sicherheit heißt es, dass die nuklearen Fortschritte Irans seit Donald Trumps Rückzug aus dem Atomabkommen von 2015 "unumkehrbar" seien. Mitte Oktober behauptete auch der israelische Außenminister Jair Lapid, Iran werde zu einem nuklearen Schwellenland. Der Bericht, der auf Analysen öffentlicher Daten von UN-Inspektoren basierte, löste bereits innerhalb des israelischen Sicherheitsapparats eine Debatte darüber aus, ob Iran de facto zu einem "atomaren Schwellenstaat" geworden ist. Das bedeutet, dass Iran mutmaßlich schon über die Fähigkeit und das Wissen verfügt, eine Atomwaffe zu bauen, wenn er sich irgendwann dazu entschließen wollte. Demnach wollte Iran erst einmal keine Bombe bauen, sondern sich in der Grauzone davor bewegen. Dieser Bericht löste eine Debatte unter israelischen Politikern und Experten darüber aus, ob Israel seine nukleare Haltung ändern müsste, um Iran abzuschrecken, indem es seine "Mehrdeutigkeitsstrategie" über seine Atomprogramm Israels beendete.
Israel hat nie offiziell eingeräumt, dass es ein militärisches Atomprogramm betreibt. Dass über sein Atomprogramm nicht wesentlich mehr bekannt ist, liegt unter anderem daran, dass das Land den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen nicht unterschrieben hatte.
Obwohl die Biden-Regierung weiterhin darauf besteht, dass das vollständige Atomabkommen von 2015 wiederhergestellt wird, soll vor Kurzem der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan mit seinem israelischen Amtskollegen die Idee eines einstweiligen Abkommens mit Iran diskutiert haben, um mehr Zeit für Atomverhandlungen zu gewinnen. Der Grund für ein vorläufiges, schnelles Abkommen sei, dass die rasanten nuklearen Fortschritte Irans das Land sehr nahe zu den Urananreicherungswerten gebracht hätten, die für die Herstellung einer Atombombe erforderlich sind.
Die Europäer und die USA wollen die Verhandlungen an dem Punkt fortsetzen, an dem sie im Juni beendet worden sind. Aus den Äußerungen Irans geht jedoch hervor, dass Teheran wichtige Passagen ganz neu verhandeln will. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass Iran dennoch bereit ist, an den Verhandlungstisch zurückkehren, damit die auf dem Land lastenden Sanktionen aufgehoben werden. Iran sucht dabei nach einem Weg, um sicherzustellen, dass die Sanktionen auch "tatsächlich" aufgehoben werden. Vor diesem Hintergrund wird Iran mit der Urananreicherung auf 60 Prozent signalisieren, dass er bereits den Status eines atomaren Schwellenstaates erreicht hat, um damit aus einer starken Position heraus neue Gesprächsrunden anzufangen.
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