Europäische Gasmärchen von der Quellendiversifizierung und ihr jähes Ende – Gazprom alternativlos

Der große europäische Mythos von der grünen Energie ist zerschellt. Nun ist der zweite Mythos, der von der Diversifizierung der Erdgaslieferanten, gerade dabei, an der harten Realität des globalen Marktes und der Geopolitik im Dreieck Nahost-Europa-Türkei zu zerschellen.

Ein Kommentar von Geworg Mirsajan

Eines der wenigen Beispiele für den Erfolg der europäische Strategie der Erdgasdiversifizierung, die alternative Lieferanten dieses Brennstoffs neben Gazprom vorsieht und nach Möglichkeit bevorzugt, war an Algerien geknüpft. Die Betonung liegt auf war – denn nun hat es, wie viele andere Projekte im Rahmen dieser Strategie auch, Schiffbruch erlitten:

Am 31. Oktober 2021 weigerten sich die zuständigen algerischen Regierungsbehörden, den Vertrag über die Durchleitung des in ihrem Land geförderten Erdgases durch Marokko nach Spanien (nämlich durch die Maghreb-Europa-Pipeline) zu verlängern. Stattdessen kündigten sie an, ihr Gas von nun an durch eine andere Pipeline liefern zu wollen – Medgaz, die unter dem Mittelmeer verläuft und ebenfalls in Spanien endet. Der Grund dafür waren, wie die algerische Seite dies formulierte, die gravierenden politischen Differenzen zwischen Marokko und Algerien über die Region Westsahara: Marokko betrachtet dieses Gebiet als legitim das Seine, und will ihm lediglich eine Autonomie zugestehen. Demgegenüber unterstützt Algerien die dort für die Unabhängigkeit kämpfenden Gruppen der Bewegung Polisario. Die Marokkaner haben jedoch eine weitere, technische Erklärung hierfür – sie reden von einem banalen Rückgang der algerischen Erdgasexporte aufgrund der Erschöpfung der aktuell ausgebeuteten Gasvorkommen, der ineffizienten Arbeit des Staates mit potenziellen Investoren, und schließlich auch von einem starken Anstieg des Inlandsverbrauchs. Die Algerier, so Marokko, seien daher schlicht nicht mehr in der Lage, die Maghreb-Europa-Pipeline effizient zu befüllen, und hätten daher auf eine Pipeline mit geringerer Kapazität umgesattelt.

In Spanien löste Algeriens Entscheidung vor dem Hintergrund der immer noch hohen Gaspreise eine regelrechte Panik aus: Das afrikanische Land versorgt die Spanier immerhin mit 40 bis 50 Prozent ihres Erdgases. Doch auch ganz Europa ist hierüber in Aufruhr. Und das nicht nur, weil dem EU-Mitglied Spanien nun Probleme drohen. Sondern auch, weil die Geschichte mit dem algerischen Gas ein weiterer Schlag gegen Europas größtes Energiemärchen ist: das Märchen von der Diversifizierung der Erdgasversorgung.

Eine Diversifizierung als solche hat natürlich nichts Schlechtes an sich. Im Gegenteil, es ist immer besser, wenn man über mehrere gleichwertige Bezugsquellen verfügt und somit von keiner dieser Quellen allein vollkommen abhängig ist. Die Diversifizierung in europäischer Ausführung weist jedoch zwei wesentliche Besonderheiten auf. Die erste ist das Fehlen gleichwertiger Quellen. Europa konnte bisher, und kann immer noch objektiv keinen potenziellen Lieferanten mit der gleichen Lieferkapazität wie Gazprom finden (Der russische Gasmonopolist exportiert knapp 200 Milliarden Kubikmeter jährlich in die Alte Welt). Es gab auch nicht gerade viele Alternativquellen, die in Bezug auf das Preis-Zuverlässigkeitsverhältnis der russischen gleichwertig wären. Und die zweite Besonderheit liegt darin, dass sich die EU trotz dieser Umständen dennoch für eine erzwungene Diversifizierung entschied: Sie versuchte auf jede erdenkliche Weise zu verhindern, dass die Zuverlässigkeit und das Volumen der russischen Gasexporte erhöht werden können. Sie trug das South-Stream-Projekt erfolgreich zu Grabe und verzögerte die Umsetzung von Nord Stream 2. Wobei sie die Durchsatzkapazität der russischen Gaspipeline durch das sogenannte Dritte Energiepaket, das unter Verstoß gegen alle Rechtsnormen verabschiedet wurde, auf 50 Prozent ihrer Durchsatz-Nennkapazität begrenzte.

Und das alles vor dem Hintergrund regelmäßiger Aufschreie und der Hysterie darüber, Russland sei ein unzuverlässiger Lieferant und habe vor, Erdgas als Druckmittel gegen die Europäische Union einsetzen.

Was war der Kalkül der EU in dieser Lage? In Brüssel setzte man darauf, dass der Mangel an russischem Gas von einer Reihe anderer Lieferanten aus Nordafrika, dem Nahen Osten, der kaspischen Region, und durch US-amerikanisches LNG wieder ausgeglichen werden würde. Und natürlich auch durch die Umstellung Europas auf grüne Energie – die ökologisch saubere und politisch korrekte. Zum Leidwesen der europäischen Märchenonkel, -Tanten und -Diversen blättert ihr Diversifizierungskonstrukt nun aber wie ein Kartenhaus im Wind auseinander.

Zumal Algerien mit seinen politischen Bestrebungen und seiner unzureichenden Erdgaslieferkapazität nur eine jüngste (nicht etwa die letzte, sondern wörtlich eine jüngste) Karte ist, die der Wind davontrug – und viele andere flogen ihr voraus: So steht zum Beispiel Libyen als alternative Erdgasquelle aufgrund der chaotischen Zustände, die derzeit im ehemaligen Reich Gaddafis herrschen, stark in Frage. Mehr als einmal nahmen örtliche Stämme die Infrastruktur für den Gasexport in Beschlag – in dem Versuch, den zentralen Behörden das eine oder andere Privileg zu abzuringen.

Niemand kann somit sagen, wann Libyen wieder ein zuverlässiger Gaslieferant sein wird – wahrscheinlich erst wenn ein neuer Gaddafi kommt.

Bei den großen Offshore-Gasreserven im östlichen Mittelmeer (in den Gewässern Israels, Ägyptens, Zyperns und Libanons) handelt es sich nach wie vor eben nur um genau das – Reserven. Sie müssten erst effizient erschlossen und dann ihre Förderung und ihr Export nach Europa eingerichtet werden. Was durchaus nicht einfach sein dürfte.

Die Türkei versucht (zumal sie den gesamten Gastransit in die EU aus der östlichen und südöstlichen Richtung in ihren Händen konzentrieren will), alternative Pipeline-Projekte zu sabotieren – zum Beispiel im Jahr 2019  durch die Unterzeichnung eines Memorandums mit den von ihr kontrollierten Behörden der nominalen Regierung Libyens über die Aufteilung der Meeresgewässer. Hierbei wurde eine derartige Aufteilung festgelegt, dass gemäß diesem Vertrag jedwede Unterwasserpipeline aus dem östlichen Mittelmeerraum in die EU entweder auf türkischem oder aber libyschem Meeresgrund wird verlaufen müssen. Und da kann die EU das Memorandum leugnen, ablehnen und verurteilen, so viel sie will, sie kann es auch gern als rechtswidrig bezeichnen – Ankara hat mehr als ein- oder zweimal die Bereitschaft bewiesen, dass es für die eigenen Interessen mit der Waffe in der Hand einsteht. Und auch Europa braucht seinerseits den Transit der Türkei nicht – schließlich hat Ankara auch etwas anderes mehr als ein- oder zweimal bewiesen: Nämlich die Bereitschaft, seine Möglichkeiten für den Transit (sei es nun die Durchleitung von Flüchtlingen, Erdgas oder wovon auch immer) zu nutzen, um die EU zu erpressen und ihr "Respekt" abzuzwingen. Und je mehr Möglichkeiten sich dafür bieten, auf desto ausgefallenere Weise wird die Türkei diesen "Respekt" ausgedrückt wissen wollen – bis hin zu der Forderung, in die Europäische Union aufgenommen zu werden.

Alle alternativen Gasprojekte in Transkaukasien duften ebenfalls nach unerfüllten Fantasien. Das zentralasiatische Gas (hauptsächlich das turkmenische) ist vertraglich zur Abnahme durch China bestimmt, das alle möglichen Ressourcen aus der Region restlos abschöpft.

Darüber hinaus steht dem Export dieser Energieressourcen in den Westen die Kaspische Konvention (oder auch Konvention von Aktau) im Wege: Theoretisch kann gemäß diesem von den Anrainerstaaten am Kaspischen Meer unterzeichneten Abkommen jedes Unterzeichnerland aus "Umweltgründen" ein Veto gegen den Bau einer Pipeline auf dem Meeresgrund einlegen. Und im Falle eines Falles dürfte Moskau wohl genau das auch tun.

Wohl wahr, dieses Veto würde beispielsweise aserbaidschanische Gasexporte nicht verhindern – wenn Baku bloß in der Lage wäre, diese Exporte auf ein für Gazprom gefährliches Niveau zu steigern. Das aber ist nicht der Fall. Die einzige wirkliche Alternativquelle zu den Lieferungen von Gazprom ist also der Iran. Doch die iranischen Exporte nach Europa stoßen auf zahlreiche Hindernisse. Dazu gehören Sanktionen, und die Unzuverlässigkeit des Irans als Lieferant (angesichts seiner Beziehungen zum Westen und die Spezifik der Machtgefüge in Teheran), und schließlich auch das Fehlen einer Pipeline-Infrastruktur, um das Gas von den Erdgasfeldern in Irans Süden zu seinen nördlichen Grenzen zu pumpen.

Und zu guter Letzt ist da noch das US-amerikanische Flüssigerdgas. Dabei hat Washington seine Zuverlässigkeit als Lieferant ja eben erst eindrucksvoll unter Beweis gestellt: In der Stunde der großen europäischen Not ist den USA, die da Europa drängten, sich gegen den chinesischen Feind zu vereinen, nichts Besseres eingefallen als ihr Flüssigerdgas nach China und in andere ostasiatische Länder zu verfrachten. Einfach weil sie dort ein- oder zweihundert US-Dollar mehr pro Einheit bezahlt bekommen. Geschäft ist Geschäft, bitte nicht persönlich nehmen.

Vielleicht sollte sich ja Europa ein Beispiel an den US-Amerikanern nehmen. Mit den politischen Spielchen aufhören. Und sich daran erinnern, dass sich Moskau – allen Widersprüche im 20. Jahrhundert, und allen derzeitigen Flegeleien und Sanktionsspielchen Europas zum Trotz – es nie erlaubt hat, Erdgas als Waffe gegen Europa einzusetzen. Es hat Brüssel, Paris oder Berlin niemals mit möglichen Unterbrechungen der Gaslieferungen erpresst. Gazprom hat seine Verpflichtungen eindeutig erfüllt – mit Ausnahme eines kurzen Zeitraums in den späten 2000er Jahren, als die Ukraine begann, Transitgas zu stehlen, und Russland erzwungenermaßen den Hahn zudrehte, bis die Transitprobleme gelöst waren. Und gerade dann wurde in Moskau der endgültige Beschluss gefällt, den unzuverlässigen Transitakteur durch den Bau der Umleitungen North- und Southstream auszubooten. Aber Kiew und dann auch die Europäische Union, die unter den ukrainischen Begehrlichkeiten leidet, hatten nichts Besseres zu tun, als die neue Pipeline zu einem weiteren Instrument der Aggression im Arsenal des Kremls zu erklären.

Es bleibt zu hoffen, dass Europa aus den aktuellen Entwicklungen auf dem Gasmarkt seine Lehren zieht und seine Strategie der "Diversifizierung" auf den Müllhaufen der Geschichte wirft – und aufhört, aus heiterem Himmel Probleme zu schaffen, sowohl für Moskau als auch für sich selbst. Denn Märchen sind natürlich schön. Aber am besten erzählt man sie sich in einem gut beheizten und beleuchteten Haus.

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Übersetzt aus dem Russischen.

Geworg Mirsajan ist Politikwissenschaftler, Journalist und außerordentlicher Professor für Politikwissenschaft an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation.

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