Regime-Change in Äthiopien? Warum Ministerpräsident Abiy unbequem wurde

Zuletzt überschlugen sich die Meldungen über Geländegewinne und einen Vormarsch der Einheiten der TPLF in Richtung Addis Abeba. Die äthiopische Regierung rief den Ausnahmezustand aus. Angesichts der Eskalation der Gewalt zeigt man in Washington nun mit dem Finger vor allem auf den äthiopischen Ministerpräsidenten Ahmed Abiy.

von Kani Tuyala

Das Drehbuch ist bekannt. So auch, wenn es um die aktuelle und sich weiter zuspitzende Situation in Äthiopien geht. Unter dem Deckmantel eines selbstlosen Humanismus wird Druck auf ein unliebsam gewordenes Land aufgebaut, das sich anmaßt, seine Zukunft selbst bestimmen zu wollen. Zur Dämonisierung dürfen Begriffe wie "Genozid" nicht fehlen, um die sogenannte "internationale Gemeinschaft" auf das vorzubereiten, was vorgeblich immer unausweichlicher wird: Der Austausch der Regierung – ersetzt durch Würdenträger, die sich mutmaßlich leichter steuern lassen. Bis irgendwann auch diese ausgedient haben werden.

Auch dieses mit 100 Millionen Bewohnern zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas fiel in Ungnade, weil es sich auf dem besten Wege befand, Strahlkraft zu entwickeln und zu einem Vorbild für eine selbstbestimmte Entwicklung zu werden – weit über die eigenen Grenzen hinaus. Ein Blick in die jüngste Vergangenheit reicht aus, um diese Perspektive auf die Geschehnisse nachvollziehen zu können.

Als die Äthiopische Revolutionäre Demokratische Front (EPRDF) den ehemaligen Offizier Dr. Ahmed Abiy im Jahre 2018 zum Ministerpräsident wählte, wurde der damals 41-Jährige zum jüngsten Staatsoberhaupt Afrikas – ein charismatischer Panafrikanist, wie ihn der Kontinent seit langer Zeit nicht gesehen hatte und der umgehend "eine entscheidende (politische und soziale) Wende nach einer langen Zeit der Autokratie" in Äthiopien einleitete.

Dazu zählte auch, dass Abiy noch 2018 mit dem ehemaligen Erzfeind Eritrea nach knapp 20 Jahren Krieg Frieden schloss, indem er schließlich den umstrittenen Grenzort Badme an Eritrea abtrat (vermittelt wurde der Friedensschluss vom saudischen Königshaus und den Vereinigten Arabischen Emiraten, die selbstverständlich ihre eigenen geostrategischen Interessen dabei verfolgten). Für den Friedenschluss – aber auch seine Friedensvision für das gesamte Horn von Afrika – erhielt er den Friedensnobelpreis. Dies kann im Nachhinein als erster Sargnagel für Abiy gewertet werden, sorgten doch dieser Friedenschluss und seine Ideen für das gesamte Horn von Afrika gleichzeitig auch für einen Schulterschluss zwischen Addis Abeba und Asmara und dadurch für eine Stabilisierung und Freisetzung von wirtschaftlicher und politischer Energie und von Synergien. Zudem zählte Äthiopien noch vor gar nicht langer Zeit zu den zehn am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt.

Außerdem ernannte der progressive neue Ministerpräsident eine Frau zur Präsidentin und besetzte auch die Hälfte seines gesamten Kabinetts mit Frauen. Er entließ Tausende von politischen Gefangenen aus den Gefängnissen und hob eine ganze Reihe von Zensurmaßnahmen für die Medien des Landes auf. Auch dies war eben nicht im Sinne derjenigen, die "Afrika" als den eigenen Hinterhof betrachten und vor allem von Zwietracht und gesellschaftlichem Stillstand profitieren – trotz stets genau gegenteiliger eigener Verlautbarungen über "Freiheit und "Demokratie". Die Länder des afrikanischen Kontinents sollten besser zerstritten sein, sollten den systematisch reproduzierten Stereotypen entsprechen, damit man ihnen "helfen" und sie gleichzeitig kontrollieren und für die eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen benutzen kann.

Dem steht diametral entgegen, was Abiy in seinem im Oktober 2019 erschienenen Buch namens Medemer (in Amharisch etwa "Harmonie" oder auch "Zusammenkommen") beschreibt, um den Vielvölkerstaat Äthiopien nach Jahrzehnten der schwelenden Konflikte und des Autoritarismus tatsächlich zu vereinen. Im Zentrum der inklusiven Philosophie steht die Überzeugung, dass unterschiedliche und sogar gegensätzliche Ansichten zusammengebracht werden können, dass stets ein Kompromiss gefunden werden kann. Im Spiegel hieß es noch im April 2019:

"Er hat Äthiopien scheinbar umgekrempelt. Er wechselte die Spitzen fast aller Sicherheitsorgane aus und ließ reihenweise korrupte Behördenchefs verhaften. Sein Gesicht prangt auf Taxis und an Hauswänden in der Hauptstadt, aber auch in kleinen Dörfern. Die Leute lieben Abiy."

Das Tempo des von Abiy eingeleiteten Wandels fand im Volk breite Zustimmung und brachte gleichzeitig "die reaktionäreren Elemente aus dem Gleichgewicht". Zu diesen zählte auch die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Denn Abiy entmachtete Schlüsselfiguren der alten Führungselite aus der Nordprovinz Tigray, die mit Hilfe der Parteienkoalition der EPRDF die äthiopische Politik 30 Jahre lang dominiert hatte, dabei stets darauf bedacht, "ihre politische und wirtschaftliche Hegemonie über das ganze Land mittels eines repressiven Regierungssystems und einer zynischen Politik des Teilens und Herrschens" durchzusetzen.

Es ist auch im Kontext der heutigen Geschehnisse bemerkenswert, dass das Terrorism Research & Analysis Consortium (TRAC) die TPLF aufgrund zahlreicher Verbrechen zwischen den Jahren 1976 und 1990 in der Global Terrorism Database (GTD) als terroristische Gruppe aufführte. 1991 gelang es den "Rebellen" der TPLF allerdings, als "Friedenskämpfer" gemeinsam etwa mit der Freiheitsfront der Oromo (Oromo Liberation Front) das Mengistu-Regime zu stürzen. Die US-Administration unterstützte die Rebellengruppen "monetär, militärisch und durch die Sammlung von Informationen". Was unter dem Dach der EPRDF folgte, war allerdings alles andere als solche Strukturen, die Washington und seinen Partnern nach eigenem Bekunden außenpolitisch angeblich stets dermaßen am Herzen liegen.

Trotz des Sturzes Mengistus kam es zu Protesten – gegen Washington. Die Demonstranten beschuldigten die Vereinigten Staaten, "neue Machthaber in der Hauptstadt zu installieren und die Abspaltung von Eritrea, der Provinz am Roten Meer, zu unterstützen". Dass die TPLF die Wandlung vom Saulus zum Paulus mit Bravour absolvieren konnte, ist erneut Ausdruck einer rein interessengesteuerten Außenpolitik.

Im Juni 2018 detonierte auf einer politischen Kundgebung eine Bombe, als Abiy gerade die Bühne verlassen hatte. Zwei Menschen starben, 150 weitere wurden verletzt. Der Ministerpräsident selbst blieb unverletzt und erklärte anschließend, mutmaßlich an die Adresse der TPLF gerichtet:

"Ihr solltet damit aufhören. Ihr wart erfolgreich in der Vergangenheit – aber ihr werdet es in der Zukunft nicht mehr sein."

Ohnehin wurde darüber spekuliert, dass die TPLF-Kader nicht bereit seien, die lieb gewonnene Macht ohne Weiteres abzugeben. So mutmaßten äthiopische Beobachter bereits im April 2019, dass Äthiopien "für einen bewaffneten Konflikt vorbereitet" werde. Es drohe das, was "in Jugoslawien passiert" sei – also die Balkanisierung Äthiopiens.

Was den vorgeblichen Hütern von Demokratie und Freiheit an Äthiopien derweil ebenfalls bitter aufstoßen dürfte, sind die Beziehungen des Landes zu China, die Abiy weiter ausbaute. Längst ist das ostafrikanische Land ein Schlüsselstaat für das Projekt der Neuen Seidenstraße. Eines der aktuelleren Prestigeprojekte war der Bau und die Inbetriebnahme der 756 km langen ersten vollständig elektrifizierten grenzüberschreitenden Eisenbahnstrecke zwischen Äthiopien und Dschibuti – einem geostrategisch bedeutsamen kleinen Land an der afrikanischen Ostküste, in dem u.a. die USA (Camp Lemonnier), aber auch China Militärbasen in Afrika unterhalten. Im Falle Beijings handelt es sich um den bis dato ersten und einzigen militärischen Außenposten Chinas in Afrika.

Wie auch immer man den sicherlich ebenfalls nicht selbstlosen Einsatz Chinas in Äthiopien bewerten mag, er ist und bleibt ein Schlag für die Bestrebungen Washingtons und seiner Partner, nicht nur Chinas wachsenden Einfluss einzudämmen, sondern auch weiterhin durch das bewährte Prinzip "teile und herrsche" auch Ostafrika weiterhin zu dominieren. Dass sich Äthiopien und dadurch womöglich die gesamte Region tatsächlich stabilisieren und entwickeln, wäre da ein Szenario, das es unbedingt zu verhindert gilt.

Doch auch andere Länder wie etwa die Türkei stärken seit geraumer Zeit ihre Beziehungen zu Addis Abeba. Mit seinem Wunsch, "ausländische Investitionen anzuziehen, ist (Äthiopien) weit entfernt von der früheren Realität einer auf ausländischer Hilfe basierenden Wirtschaft". Zuletzt überstiegen Ankaras Investitionen 2,5 Milliarden US-Dollar. Auch was den Verkauf etwa türkischer Kampfdrohnen anbelangt, rückte man zuletzt näher zusammen. Zu den Ländern die auch kein Interesse am Zerfall der staatlichen Ordnung in Äthiopien haben und daher an der Seite von Addis Abeba stehen, zählt auch Russland - das der äthiopischen Regierung ebenfalls durch Waffenlieferung unter die Arme greift.

Was im Sinne einer neuen Realität tatsächlicher Selbstbestimmung außerdem keinesfalls geduldet werden kann, ist das Megaprojekt des Great Ethiopian Renaissance Dam (GERD). Im Jahr 2011 begannen die Bauarbeiten an diesem Staudamm für den Blauen Nil, bei dem es sich nach Fertigstellung mit 6.500 Megawatt um das größte Wasserkraftwerk Afrikas und das achtgrößte der Welt handeln soll. Im September gaben äthiopische Experten eine Liste weiterer Projekte bekannt, die man im Rahmen von GERD in den kommenden Jahren angehen wolle. Nicht nur sollen 15 weitere Wasserkraftwerke entstehen, die Liste umfasst außerdem 24 Windkraft-, 17 Geothermie- und 14 Solarprojekte, da Äthiopien nicht nur die Nutzung erneuerbarer Energien ausbaut, sondern sich zuletzt auch zunehmend zu einem Nettoexporteur von Strom in andere afrikanische Länder entwickelte. Der Vormarsch der TPLF könnte all dem ein jähes Ende bereiten. Vor wenigen Wochen erklärte Abiy:

"Der Blaue Nil ist für uns, die Äthiopier, von großer Bedeutung, ganz zu schweigen von seinem wirtschaftlichen Nutzen. Der [Blaue Nil] ist ein Symbol unseres Aufstiegs und Ausdruck unserer Fähigkeit, uns aus uns selbst heraus weiterzuentwickeln."

Und genau dies ist gerade nicht im Sinne derjenigen, die Äthiopien – oder vielmehr "Afrika" – möglichst als ewig abhängigen Bittsteller behalten wollen. Auf Argwohn und Kritik stößt GERD auch in seiner direkten Nachbarschaft, im Sudan und in Ägypten – zwei Länder, die ebenfalls vom längsten Fluss der Erde abhängen und eine mögliche Dominanz Äthiopiens fürchten. Nach Ansicht der äthiopischen Regierung steht Washington im Staudamm-Disput hinter Ägypten. Für Beobachter ist es kein Zufall, dass sich Berichte über sudanesische und ägyptische Söldner mehren, die mutmaßlich an der Seite der TPLF gegen die Zentralregierung in Addis Abeba kämpfen und – weit über die Grenzen von Tigray hinaus – nun kurz vor Addis Abeba stehen sollen. Ministerpräsident Abiy teilte zuletzt mit, dass die äthiopische Regierung über Informationen verfüge, wonach "weiße und schwarze" Söldner an der Seite der TPLF kämpften.

Die USA und ihre Verbündeten wiederum behaupten, dass die äthiopische Regierung angeblich eine Kampagne der ethnischen Säuberung in Tigray durchführe. Addis Abeba verhindere Hilfslieferungen in die Region, so dass Hundertausende von Menschen akut von Hunger bedroht seien. Kaum kommentiert werden hingegen Informationen, wie etwa die des ansonsten vielzitierten UN-Welternährungsprogramms, wonach hunderte Hilfstransporter zwar nach Tigray aufbrachen, aber nie mehr von dort zurückkehrten (und nach Angaben der äthiopischen Regierung für Militärtransporte zweckentfremdet würden). Dieser Umstand sei "das Haupthindernis" für eine effektive humanitäre Hilfe.

Was den Erhalt Äthiopiens als souveränen Staat angeht, mit einer tatsächlich noch vorhandenen Chance, zum Frieden zurückzukehren, sollten alle Alarmglocken läuten, wenn angesichts einer mutmaßlichen Blockade von Hilfslieferungen durch die Zentralregierung zuletzt Forderungen nach der "Einrichtung eines humanitären Korridors vom Sudan nach Tigray oder einer "Flugverbotszone über der vom Krieg zerrütteten Region" laut wurden, falls Addis Abeba sich weigere, Eingeständnisse in Sachen Hilfslieferungen zu machen.

Zugleich hatte man schon gewissenhaft vorgebaut und ausschließlich Addis Abeba an den Pranger gestellt. Und schon längst wird kräftig sanktioniert. Am Dienstag etwa beendete die Biden-Regierung den besonderen Handelsstatus Äthiopiens im Rahmen des euphemistisch als "African Growth and Opportunity Act" (AGOA) bezeichneten Programms der USA. Außerdem arbeitet das US-Außenministerium an einer Erklärung, "in der die Gräueltaten der äthiopischen Regierung an den Tigrayern als Völkermord bezeichnet werden". Auch TPLF-Mitglieder werden immer wieder als Ziel möglicher Sanktionen genannt – allerdings ohne das bislang entsprechende Maßnahmen eingeleitet worden wären.

Dagegen ergab u.a. eine gemeinsam von den Vereinten Nationen und der äthiopischen Menschenrechtskommission durchgeführte und am Mittwoch veröffentlichte Untersuchung, dass sich sowohl die äthiopischen Truppen als auch die TPLF schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig machten.

Und nun, da das Chaos in Äthiopien so gut wie perfekt ist, ist es der US-Sondergesandte Jeffrey D. Feltman, der nach Äthiopien reist, um demzufolge die Konfliktparteien für einen "Dialog" und eine "politische Lösung" gewinnen zu wollen. Nun ermahnten die USA die TPLF und ihre Einheiten gar, ihren Vormarsch zu stoppen. Die Zeit scheint nun reif, um die eigenen Konditionen für einen Frieden zu diktieren. Einen Frieden, den vermeintlich vor allem Addis Abeba mutwillig zu Grabe getragen hätte. Ob die Rechnung aufgeht, ist dennoch fraglich, da längst weitere Mächte dem zynischen geopolitischen Plan einen Strich durch die Rechnung machen können. Und doch sind die Wunden die Äthiopien erneut zugefügt wurden, bereits sehr tief.

Es muss verhindert werden, dass der humanitäre Imperialismus in Äthiopien einen weiteren fatalen Sieg erringt. Sollte das Land mit seiner jahrtausendealten Hochkultur tatsächlich und endgültig in einem Strudel ethnischer und auch von außen geschürter Gewalt versinken und letztendlich zerbrechen, würden die Schockwellen den gesamten afrikanischen Kontinent auf unabsehbare Zeit bis ins Mark erschüttern.

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