Ein Kommentar von Dakotah Lilly
Nach der jüngsten Bundestagswahl fragten sich viele, wie Die Linke so ins Abseits geraten konnte, dass sie ganze 30 Sitze verlor und zur kleinsten Fraktion im deutschen Bundestag wurde. Viele liberale Publikationen gaben Sahra Wagenknecht – einer der produktivsten Politikerinnen in der Linkspartei – wegen der Veröffentlichung ihres Buches "Die Selbstgerechten" umgehend die Schuld dafür. In ihrem Buch greift Wagenknecht die "Lifestyle-Linken" an, für die es mehr um Labels, Identität und Lebensstile als um die Grundanliegen der Arbeiterklasse geht, mit denen linke Politik überhaupt zu einer solchen Bedrohung für das politische Establishment gemacht wurde. Sie schreibt:
"Linksliberale erheben den Anspruch, für Vielfalt, Weltoffenheit, Moderne, Klimaschutz, Liberalismus und Toleranz zu einzustehen. Andererseits erklären sie allem den Krieg, was das linksliberale Denken als rechts erachtet: Nationalismus, Bodenständigkeit, Provinzialismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamophobie. Für Linksliberale sind Glaube, Nation und Heimat Symbole der Rückständigkeit."
Dies ist Teil eines viel größeren Problems, mit dem Die Linke seit Jahren konfrontiert ist. Viel zu viele bei den Linken organisieren und agitieren schnell um alles Mögliche andere, statt um jene Themen, mit denen die Arbeiterklasse am heftigsten verbunden ist. Das liberale Establishment verbrachte Jahre damit, herauszufinden, warum Politiker wie Donald Trump, Marine Le Pen, Nigel Farage und viele andere sogenannte "Rechtspopulisten" so populär wurden oder sogar an die Macht kamen.
Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit, niedrigerer oder stagnierender Löhne, Arbeitslosigkeit, Zwangsräumungen, Drogensucht und unzähligen anderen sozialen Missständen sollte dies eine Blütezeit für Die Linke sein, in der sie gedeihen könnte. Leider sind es die Rechtspopulisten, die diese Wut der Arbeiterklasse einfangen konnten, während Die Linke diese Chancen nicht ergriffen hat. Sie hat einfach keine Basis mehr bei den Arbeitenden oder sogar keine Fähigkeit mehr zur Analyse wirtschaftlicher Realitäten.
Wenn sich Die Linke mit einer gesunden Portion Populismus auf ihre Wurzeln in der Arbeiterklasse zurückbesinnen würde, könnte sie bei Wahlen auch gewinnen. Podemos, eine linkspopulistische spanische Partei, entstand 2011/2012 aus der "Movimiento 15-M" (Bewegung 15. Mai), die mit Protesten gegen die Sparmaßnahmen der spanischen Regierung Menschen auf die Straßen brachte. Podemos nutzte seinen linkspopulistischen Klasseninstinkt und sicherte sich bei den Wahlen 2015 mehr als fünf Millionen Stimmen.
Im Zuge von Massenprotesten gegen wirtschaftliche Missverhältnisse saßen auch der Chavismus in Venezuela und der Kirchnerismus in Argentinien jahrzehntelang an der Macht. Die französische linkspopulistische Gruppierung "La France Insoumise" (Rebellisches Frankreich) hat bei den Präsidentschaftswahlen 2017 sieben Millionen Stimmen erhalten. Gleichzeitig haben andere "linke" Kräfte, die den Populismus und den Klasseninstinkt desavouiert haben, an Unterstützung und Einfluss in der Bevölkerung verloren.
Die Demokratische Partei der USA kann man mit blühender Fantasie selbst alles andere als "links" bezeichnen, aber auch sie ist in die identitätspolitische Falle getappt. Bei den Wahlen 2016 trat eine Kandidatin des demokratischen Establishments gegen einen politischen Außenseiter an und bezeichnete dessen Anhänger als "ein Sammelsurium von Bedauernswerten". Ihr Gegenredner, ein politischer Außenseiter hingegen forderte ein Ende der Kriege im Ausland und sprach zu recht Themen an, die die amerikanische Arbeiterklasse bewegen, so etwa die Krise mit den Opioiden und die schrecklichen Handelsabkommen. Die Liberalen haben zur selben Zeit alle Register gezogen und jeden, der statt Hillary Clinton jemand anderen wählen wollte, als "sexistisch", "rassistisch" oder schlichtweg "homophob" bezeichnet.
Inzwischen machen sich Millionen von Menschen Sorgen um ihren Job, um die Zukunft ihrer Kinder, um unbezahlte Rechnungen und viele weitere Probleme, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist. Welche Antworten hat Die Linke diesen Leuten gegeben? Sie belehren Fritzchen und Lieschen lieber über die Notwendigkeit der korrekten Benutzung von Gender-Pronomen, als darüber zu sprechen, wie der Kapitalismus die Arbeiterklasse unten hält. Wenn sich eine Person aus der Arbeiterklasse fragt, ob eine zunehmende Migration zu niedrigeren Löhnen führt, dann hat ein Großteil der Linken nicht mehr dazu zu sagen, als dass sie ebendiese Person als einen Rassisten bezeichnet und der Fremdenfeindlichkeit beschuldigt.
Wir haben gesehen, was passiert, wenn Die Linke dem Volk nicht mehr zuhört und stattdessen moralinsaure Vorträge hält. Als beispielsweise die britische Labour-Partei ein zweites Referendum zum Brexit unterstützte, wurden sie an der Wahlurne abgestraft. Nach diesem Verrat an den Brexit-Wählern gründete der ehemalige Abgeordnete George Galloway die Arbeiterpartei Großbritannien (WPGB), die sich auf den Standpunkt stellt, es sei "nicht 'homophob’ oder 'rassistisch' für Sozialisten, ihre Aufmerksamkeit auf die Widersprüche zu richten, mit der die gesamte Arbeiterklasse in ihrem Kampf für den Sozialismus konfrontiert ist." Mit dieser Einstellung hat die WPGB einen Zustrom von neuen Mitgliedern und Aktivisten erlebt und ist damit ziemlich nahe daran, Galloway wieder ins Parlament zu bringen.
Die COVID-19-Pandemie hat viele Dinge zum Vorschein gebracht, einschließlich der Tatsache, dass viele bei Der Linken völlig realitätsfremd geworden sind. Bei der Ausrufung der Lockdowns wurden Millionen von Arbeitern und Kleinunternehmern beschimpft und angegriffen, weil sie diese Lockdowns infrage stellten und einfach weiterhin ihrer Lohnarbeit nachgehen wollten.
Diejenigen, die an einem Schreibtisch arbeiten, können möglicherweise vom Homeoffice aus arbeiten, aber das gilt nicht für einen Großteil der Arbeiterklasse. Erhebungen von Standortdaten zeigen, dass die Möglichkeit einer häuslichen Quarantäne ein Luxus war – nur für einige wenige. Die Armen oder die Arbeiterklasse konnten sich nicht einfach Essen nach Hause liefern lassen und andere dafür bezahlen, sich um Familienmitglieder zu kümmern oder es sich leisten, der produktiven Arbeit fern zu bleiben. Große Unternehmen und Reiche konnten sich die Lockdowns leisten, jedoch nicht die Armen auf dieser Welt. Die UNO berichtete, dass weltweit mehr Menschen aufgrund von wirtschaftlichen Störungen im Zusammenhang mit den Lockdowns an Hunger sterben könnten als unmittelbar an COVID-19. Viele Menschen jedoch, die sich selbst als "links" bezeichnen, brandmarkten jeden Andersdenkenden, der das Narrativ des Establishments infrage stellte, umgehend als "COVID-Leugner".
Eine wahrhaftige Linke hätte diese Wut aufgefangen, die Wut auf die Profiteure und Politiker, von denen die Arbeiterklasse im Stich gelassen wurde und die lediglich Krümel als sogenannte Konjunkturanreize verteilte. Eine auf die Arbeiterklasse orientierte Linke hätte für die Beschlagnahmung von Liefer-Unternehmen wie Amazon plädiert, und zwar zur Sicherung der Grundbedürfnisse – wenn schon verlangt wird, dass die Menschen zu Hause bleiben sollen. Sie hätte Zwangsräumungen untersagt, Löhne geschützt und diejenigen unterstützt, die weiterhin physisch zur Arbeit mussten – und vieles mehr. Nichts davon ist eingetreten – aber zumindest ist die Kinderfigur Mister Kartoffelkopf jetzt endlich "geschlechtsneutral". Sagen Sie das dem nächsten, der vor seiner Zwangsräumung bewahrt werden müsste!
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Übersetzung aus dem Englischen
Dakotah Lilly ist unabhängiger Politikwissenschaftler und Analyst. Seine Arbeiten wurden in Publikationen wie MintPress, Orinoco Tribune und Popular Resistance publiziert. Zu seinen Spezialgebieten gehören politische Ökonomie, Linkspopulismus, Venezuela und der Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Seine Webseite ist unter DakotahLilly.com zu finden.
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