von Tarik Cyril Amar
Am Dienstag sperrte Youtube RT DE und Der Fehlende Part, zwei Kanäle, die zum deutschsprachigen Zweig von RT gehören. Das russische Außenministerium wertete diesen Schritt als "Zensur" und "Aggression". Moskau drohte damit, die Plattform in Russland komplett zu sperren. Auch betonte man dort, dass die Sperrung nur mit "offensichtlicher Duldung, wenn nicht gar auf Drängen" der Berliner Regierungsbehörden hin geschehen konnte.
Dies wurde vom offiziellen Berlin dementiert.
Moskau indes warf den Fehdehandschuh hin: Man könnte, so die Warnung, "symmetrische Gegenmaßnahmen gegen deutsche Medien in Russland" verhängen. Nach Aussage russischer Diplomaten wurde diesen Medien "wiederholt nachgewiesen, dass sie sich in die inneren Angelegenheiten unseres Landes eingemischt haben".
In Anbetracht der Tatsache, dass RT DE im Vorfeld der Wahl zu einer der beliebtesten Nachrichtenseiten in Deutschland wurde, kamen einige Kommentatoren schnell zu dem Schluss, dass es sich um eine politische Entscheidung handelt – obwohl Berlin dies abstreitet. Dieses Thema ist aber beileibe nicht das einzige, das die Beziehungen zwischen den beiden Ländern belasten wird. Es ist jedoch ein weiteres Zeichen dafür, dass der vorsichtige Balanceakt, in dem Merkel es zu derartiger Höchstform brachte, zunehmend wackelig erscheint.
Konstantin Kossatschow, der frühere Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des russischen Föderationsrates und sein jetziger stellvertretender Sprecher, warnte, er sehe wenig Hoffnung auf eine allgemeine Verbesserung der Beziehungen zwischen Berlin und Moskau. Seine größte Sorge sei, dass der nächste Außenminister wahrscheinlich entweder den Grünen oder aber der FDP angehören werde – im Wesentlichen also den deutschen Marktliberalen: Beide, so seine Befürchtung, sind Russland alles andere als wohlgesonnen.
Kossatschows Sorge ist nachvollziehbar. Die Grünen wie auch die FDP betonen die liberale Rhetorik von "Werten und Regeln" und stehen Russland hochgradig kritisch gegenüber. Vor allem die Grünen haben sich sehr weit von ihren pazifistischen und NATO-feindlichen Ursprüngen entfernt. Die Partei weist heutzutage eine ausgeprägte interventionistische Ader auf. Auch ist sie "atlantisch" ausgerichtet, womit bei ihr die Loyalität dem amerikanisch geführten Block gegenüber über allem steht. Und nicht zuletzt pflegt sie eine ganz eigene, naive Beziehung zur Ukraine nach 2014.
Nach der Wahl vergangenen Sonntag ist eine Erneuerung der "Großen Koalition" zwischen den Konservativen der CDU/CSU und der gemäßigten Linken der SPD unwahrscheinlich. Obwohl sie eine Mehrheit der Sitze im deutschen Parlament vereinen würden, haben beide Seiten erklärt, daran kein Interesse zu haben. Damit bleiben, realistisch gesehen, nur zwei Möglichkeiten, eine Mehrheit zu bilden, die den Bundeskanzler wählen kann: entweder eine Koalition von CDU/CSU, angeführt von ihrem Kandidaten Armin Laschet, den Grünen und den deutschen Marktliberalen (FDP) oder aber von SPD, angeführt von Olaf Scholz, und auch hier wiederum Grünen und FDP.
Im Deutschen werden diese Dreierkoalitionen nach den Kombinationen der traditionell den Parteien zugeordneten Farben benannt. Im Falle der CDU/CSU-geführten Variante ähnelt sie der Flagge von Jamaika, also Jamaika-Koalition; die SPD-geführte Koalition hat Farben, die an eine (deutsche) Ampel erinnern, also Ampel-Koalition. Das Ausbleiben großer Überraschungen vorausgesetzt wird eine der beiden am Ende das Kommando übernehmen.
Wie Kossatschow feststellte, steht damit jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit fest, dass die Grünen und die FDP jeweils Juniorpartner sein werden. Dabei geht gerade das Außenministerium normalerweise an einen Juniorpartner.
Doch es gilt, noch weitere Faktoren zu berücksichtigen. Was lässt sich jetzt noch sagen?
Erstens: Das, was am ehesten zu einer Änderung der deutschen Russlandpolitik geführt hätte, nämlich eine links-links-grüne Koalition, der neben SPD und Grünen auch die dezidiert linke Die Linke angehören würde, wird es nicht geben. Nach den Ergebnissen, die der Linken-Vorsitzende in aller Öffentlichkeit als "beschissen" bezeichnete, ist diese Variante unmöglich.
Zweitens sind auch "Jamaika" und "Ampel" nicht gleich wahrscheinlich. Die "Ampel" hat aus zwei Gründen bessere Chancen: Ihr potenzieller Anführer Olaf Scholz ist zwar weit von einer absoluten Mehrheit entfernt, hat aber immerhin die Wahl gewonnen (mit 25,7 Prozent), wenn auch mit knappem Vorsprung – alldieweil der alternative Koalitionsführer Armin Laschet verloren hat (24,1 Prozent). Darüber hinaus konnte die SPD im Vergleich zur letzten Bundestagswahl deutlich zulegen (+5,2 Prozent), die CDU/CSU hingegen nahm stark ab (-8,9 Prozent). Dieses Ergebnis ist für die CDU/CSU in der Tat ein geschichtsträchtiges Fiasko.
Vor diesem Hintergrund wäre es für Laschet zwar legal, eine Koalition zu bilden und Kanzler zu werden. Doch wäre es für viele Deutsche, gelinde ausgedrückt, höchst kontraintuitiv. Vor allem für die potenziellen Juniorpartner der CDU/CSU würde es schwer fallen, dies zu rechtfertigen, insbesondere die Grünen, weil ihnen die SPD ideologisch näher steht.
Hinzu kommt, dass die Grünen, obwohl es für eine Koalition beide Parteien braucht, mit 14,8 Prozent mehr Stimmen haben als die FDP mit ihren 11,5 Prozent. Es ist zwar rechtlich nicht bindend, erschwert es aber den Grünen noch zusätzlich, eine "Jamaika"-Koalition einzugehen: Wie will ihre Führung ein solches Zugeständnis den eigenen Parteimitgliedern erklären? Und wie ihren Wählern?
Doch was würden "Jamaika" und "Ampel" – unabhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres jeweiligen Zustandekommens – für das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau bedeuten?
Beginnen wir mit der weniger wahrscheinlichen Variante: Sollte sich wider Erwarten "Jamaika" durchsetzen, würde sich die deutsche Russlandpolitik insgesamt nicht sehr verändern. So wurde Laschet bereits verdächtigt, "Russland gegenüber weich" zu sein – auch wenn das eine feindselige Übertreibung ist. In Wirklichkeit ist er ein Pragmatiker, der sich einfach nach dem Präzedenzfall richten würde: Er würde den Dialog mit einem gewissen Maß an Kritik und Konfrontation verbinden. Er würde es seinem Außenminister, egal ob von der FDP oder den Grünen, nicht gestatten, den Konflikt mit Moskau zu eskalieren – zumindest nicht über bloße Worte hinaus, um die Erwartungen des heimischen Publikums der jeweiligen Partei zu erfüllen.
Gleichzeitig würde er, parallel zu allen Bemühungen, die Beziehungen zu Moskau zumindest nicht schlechter als jetzt gestalten, auf der anderen Seite keine Spannungen mit seinen Koalitionspartnern, den USA, oder der NATO riskieren; auch nicht mit denjenigen EU-Mitgliedern, die eine harte Linie gegenüber Russland anstreben.
Wohl kann ein deutscher Außenminister eine starke Persönlichkeit mit einer eigenen Handschrift sein. Doch das ist nicht unbedingt immer der Fall; und auch ein starker Minister ist nicht in der Lage, die Außenpolitik als persönliches oder parteipolitisches Lehen zu behandeln, zumindest nicht lang. (Die deutschen Vorstellungen von "Kabinettsdisziplin", die Notwendigkeiten der Koalitionspolitik und nicht zuletzt die verfassungsrechtlich geschützte Befugnis (und die Verantwortung) des Bundeskanzlers, die Leitlinien der Politik zu bestimmen, laufen einem solchen Maß an Unabhängigkeit diametral entgegen.)
Im Ergebnis also würde sich eine Regierung Laschet etwa ebenso wenig aggressiv für eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland wie für Angriffe gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2 einsetzen.
Natürlich hängt das Verhältnis Deutschlands zu Moskau immer auch von anderen internationalen Beziehungen ab, vor allem von denen zu den USA, China und den anderen EU-Staaten. Auch in dieser Hinsicht ist es schwer vorstellbar, dass eine Regierung Laschet daran viel ändern würde: Wäre sie doch dogmatisch "atlantisch" ausgerichtet, also darin versagen, Europas dringendes Bedürfnis nach sicherheitspolitischer Unabhängigkeit von den unzuverlässigen USA anzuerkennen. Was China betrifft, so vertreten einige Beobachter den Standpunkt, dass hier sowohl die FDP als auch die Grünen auf eine konfrontativere Haltung drängen würden.
Das mag durchaus zutreffen, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass beide Parteien (zumindest auf Bundesebene) lange nicht an der Macht waren und daher leicht ideologische Illusionen hegen konnten, was der Westen tun kann, um seine "Werte" und "Regeln" durchzusetzen. Aber selbst wenn es da zu mehr Imponiergehabe kommen mag, die Wirklichkeit wird sich vermutlich durchsetzen: In diesem Bereich würde Deutschland unter Laschet genau das tun, was Deutschland auch jetzt tut: gute Beziehungen mit China aufrechterhalten, um dem Handel zu helfen, und das gleichzeitig mit einem sehr zögerlichen Hinterherlaufen ausbalancieren, wenn die USA ihren neuen "Kalten Krieg", diesmal gegen Peking, forcieren.
Im Übrigen halten nicht nur wirtschaftliche Interessen jedwede deutsche Führung davon ab, China gegenüber zu "hart" zu werden; wie die meisten Europäer wollen die deutschen Wähler schlicht an diesem neuen Krieg nicht teilnehmen, was Umfragen klar belegen.
Auch wenn Berlins Balanceakt immer schwieriger wird, würde es ihn unter Laschet so lange wie möglich fortsetzen.
Was ist nun mit dem wahrscheinlicheren Koalitionsergebnis, der "Ampel", die von der SPD und Olaf Scholz geführt wird? Auf den ersten Blick ist nicht viel anders: Plötzliche Schritte zur Verbesserung der Beziehungen zu Moskau sind nicht zu erwarten, auch wird keine grundsätzliche Infragestellung des "Atlantizismus" erfolgen; China wiederum wird ein De-facto-Partner bleiben, aber auch Gegenstand der Kritik. Die US-Politik der Eskalation von Spannungen und Konflikten mit China dürfte wahrscheinlich auf etwas höheren Widerstand stoßen. Letztlich aber wird sich auch eine deutsche Regierung auf der Basis einer Ampelkoalition unter Olaf Scholz am Balanceakt zwischen einer vernünftigen Haltung gegenüber China und dem Wunsch Washingtons nach mehr Konfrontation versuchen – solange es eben geht.
Doch im Detail gibt es Unterschiede. Zum einen spielte die Außenpolitik kaum eine Rolle im Wahlkampf. Vor allem in den Debatten wurde sie vernachlässigt. Selbst obwohl die Grünen und die FDP sich eine härtere Gangart gegenüber Russland (und China) vorstellen, deutet ihr Verhalten vor den Wahlen, sofern man darauf etwas geben kann, eher an, dass es keinesfalls klar ist, dass sie danach auch handeln. Natürlich muss sich eine Partei, die das Außenministerium übernimmt, mit Außenpolitik befassen. Aber sie könnte sich dabei trotzdem für Vorsicht entscheiden, um ihre innenpolitische Agenda nicht zu gefährden.
Zweitens kommt die SPD nicht umhin, ihren Wahlerfolg sorgfältig zu analysieren. Und dieser ist zu einem Großteil auf eine Lagerverschiebung in den Bundesländern zurückzuführen, die früher Teil der DDR waren. Das wiederum verspricht Auswirkungen über diese Wahl hinaus: Wenn die SPD ihr Comeback fortsetzen will, darf sie Ostdeutschland nicht enttäuschen. Die wichtigsten Erwartungen, die sie dort erfüllen muss, sind zwar innenpolitischer Natur – sie liegen im sozialen Bereich, einschließlich der Renten, und im Bereich der Infrastruktur. Doch ist die Bevölkerung in den neuen Bundesländern auch tendenziell positiver gegenüber Russland eingestellt als die der alten, wie Umfragen immer wieder zeigen. Die SPD täte schon aus guten wahltaktischen Gründen gut daran, in diesem Bereich die Vorsicht walten zu lassen.
Und drittens könnte sich in Bezug auf die USA auch der "Atlantizismus" der SPD als weniger doktrinär erweisen als der der Konservativen. Dies betrifft insbesondere eine wichtige Frage, mit der sich die nächste Regierung wahrscheinlich befassen muss: ob Deutschlands kleine Flotte veralteter Tornado-Jets ersetzt werden soll oder nicht. Diese Flugzeuge haben eine besondere politische Bedeutung, da sie US-Nuklearwaffen tragen können – was bedeutet, dass sie in der Politik der sogenannten "nuklearen Teilhabe" eine entscheidende Rolle spielen.
In der SPD gibt es nämlich, anders als in der CDU/CSU, starke Kritiker dieser aus dem Kalten Krieg althergebrachten Politik, die noch vor etwas mehr als einem Jahr zu heftigen Auseinandersetzungen in der damals regierenden Großen Koalition mit der CDU/CSU führte. Aber die Tornados zu ersetzen wird teuer. Olaf Scholz hat jedoch versprochen, Sozialleistungen auszubauen. Wenn ihm nun eine Koalitionsbildung gelingt, wird die FDP dabei sein – doch die FDP hasst Steuern. Alles in allem ist es also möglich, dass unter einer "Ampel"-Koalition die Tornados samt der Atombomben, die sie transportieren sollen und der überholten Politik der "nuklearen Teilhabe" geopfert werden könnten – und zwar in einer Kombination aus grundsätzlicher Kritik an Atomwaffen und aus der Notwendigkeit, kein Geld zu verschwenden. Das würde wiederum die Beziehungen zwischen Washington und Berlin verkomplizieren.
Unabhängig davon, welche Koalition sich herauskristallisiert, sind plötzliche Schritte unwahrscheinlich – zum Guten oder zum Schlechten. Auch wenn einiges dafür spricht, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russland aufrechterhalten und sogar ausbauen will, gibt es mehr als genug Pulverfässer, die deren Fundament bedrohen, wie die Entwicklungen dieser Woche gezeigt haben.
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Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er twittert unter @tarikcyrilamar.