Ein Kommentar von Dagmar Henn
Vorab, und das kann man nicht oft genug wiederholen, das Grundrecht, das Artikel 5 des Grundgesetzes gewährleistet, lautet: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten." Es heißt nicht: "Jeder hat das Recht, das, was amtlich für wahr befunden wird, in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern." Es ist keine Wahrheitsfreiheit. Denn dann wäre nur noch jene Äußerung legitim, die in Übereinstimmung mit der die Wahrheit definierenden Institution steht, die man einem literarischen Vorbild folgend "Wahrheitsministerium" oder "MiniWahr" nennen könnte. Wenn man sich mit der Frage der Meinungsfreiheit befasst, muss man diesen Punkt im Blick behalten.
Es geht nicht darum, ob einem jede Meinung gefällt, es geht nicht darum, ob jede Meinung richtig ist. Die Bedeutung der Meinungsfreiheit besteht darin, dass das Recht, sie zu haben und äußern zu können, eine Grundvoraussetzung für eine demokratische Gesellschaft ist, weil sie einen Faktor darstellt, der die für das Funktionieren einer Demokratie (und das gilt sogar unabhängig von der Spielart, ob repräsentativ oder direkt oder Rätedemokratie) unabdingbar erforderliche Gleichheit der Rechtssubjekte herstellt.
Natürlich wird dieses Recht verzerrt, unter anderem durch die Kontrolle über die technischen Verbreitungsmöglichkeiten. Ein berühmtes Zitat zum Thema Pressefreiheit lautet: "Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten." Tatsächlich sind es in der Bundesrepublik, wenn man sich die Besitzverteilung von Medienkonzernen ansieht, längst keine zweihundert reichen Leute mehr, sondern nur noch eine Handvoll. Aber das Internet hat, weil es für die Verbreitung einer Meinung dort nicht mehr braucht als einen Computer und eine Webseite, die Spielregeln verändert; es hat die Verbreitungsmöglichkeit wieder demokratisiert. Diesen Punkt sollte man immer im Hinterkopf behalten, wenn von Information oder Desinformation die Rede ist.
Die Dokumentation des SWR, in der es um "geheime Meinungsmacher" gehen soll und darum, "wie wir im Wahlkampf manipuliert werden", befasst sich mit diesen Fragen allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie bezieht offen Stellung gegen Meinungsfreiheit, arbeitet höchst manipulativ und formuliert letztlich eine zutiefst antidemokratische Position. Wie, das werden wir in der Folge herausarbeiten.
Der Einstieg in diesen Film scheint unschuldig. Vor dem Reichstagsgebäude wird eine Familie Koch aus Hessen interviewt. Der Kommentar sagt dazu: "Monate vor der Wahl treffen wir zufällig Familie Koch aus Hessen." Zufällig? Diese Dokumentation arbeitet durchgängig mit zwei Kameras und Tonmann. Das ist keine Truppe, die zufällig unterwegs ist. Sie treffen diese Familie an den Pfingsttagen, während der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Was nicht gesagt wird, ist, wie viele andere Teilnehmer oder Familien von den Filmemachern interviewt wurden und wie lang das Gespräch mit dieser Familie tatsächlich dauerte.
Dokumentarfilme sind nie ein Abbild der Wirklichkeit. Hinter den letztlich verwendeten 45 Minuten dürften mindestens 200 Stunden gefilmtes Material stehen. Das heißt, was wir sehen, ist ein zwangsläufig sehr selektives halbes Prozent des Rohmaterials. Aber es gibt unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Hier wurde die befragte Familie eindeutig benutzt, um Stichworte zu liefern, an denen man sich in der Folge abarbeiten kann: Baerbock, Soros, Wahlmanipulation.
Es ist leider inzwischen üblich, sich die "Talking Heads", die sprechenden Köpfe, die in solchen Filmen wichtig sind, so zurechtzuschneiden, dass sie das gewünschte Ergebnis liefern. Und Hunderte von "Reality-Soaps" haben die Maßstäbe für den Umgang mit den Menschen, die man in die Öffentlichkeit stellt, erodiert. Dennoch: Der Umgang mit der anfangs gefilmten Familie bleibt denunziatorisch. Mit Sicherheit sind die Interviewer nicht mit der Aussage auf sie zugegangen: "Würden Sie uns schnell mal ein paar Verschwörungstheorien liefern, die wir brauchen, um in einem Film über alle herzuziehen, die abweichende Meinungen vertreten?"
Man hätte mit dieser Aussage anders umgehen können. Aber was tut der SWR? Auf die Sätze, die die drei Familienmitglieder äußern, folgt Krimimusik (die durch die komplette Sendung hindurch immer wieder zur künstlichen Erzeugung von Spannung dient) und der Satz: "Zensur, George Soros, Wahlfälschung. Solche Behauptungen häufen sich vor den Wahlen in den sozialen Medien." Da-Da-Da-Damm. Darauf folgt die Einblendung des Titels.
Man irrt am Folgetag kurz durch die Mengen. Es wird erwähnt, die Demonstrationen seien verboten. Das Verbot ist den Autoren kein Anlass zur Kritik. Sie beobachten: "Überall, wo sich kleine, versprengte Gruppen sammeln, werden sie von den Youtubern und Bloggern der Szene live begleitet."
In diesem Moment passiert schon der zweite Teil eines simplen manipulativen Kunstgriffs. Der erste Kunstgriff ist bereits anhand des Titels geschehen, mit dem "Wie-wir-manipuliert-werden". Es wird subtil eine Frontstellung aufgebaut zwischen dem "wir" der Überschrift, das den Zuschauer sofort einbezieht, und der "Szene". Die Verwendung des Wortes "Szene" für eine völlig amorphe Mischung aus Demonstranten unterschiedlichster politischer Herkunft und Gesinnung, die nur die Absicht eint, gegen die Corona-Maßnahmen protestieren zu wollen, schafft gleich Distanz zwischen "denen" und dem via Titel generierten "uns".
Als Nächstes wird ein Ausschnitt aus Filmaufnahmen eines auf der Demonstration anwesenden Bloggers aus den Bundestagsgebäuden gezeigt. Dass der besagte Blogger über einen Bundestagsabgeordneten der AfD in diese Gebäude gelangt ist, wird ebenfalls gleich zur Denunziation genutzt. Denn es ist ja eine "Szene"; die "Szene" ist, dazu dient dieser Schnipsel vor allem, AfD-nah.
Dass dem Blogger vorgeworfen wird, banale Aufnahmen aus banalen Bürofluren der Abgeordnetenbürohäuser zu dramatisieren, entbehrt nicht eines gewissen Humors, wenn dies durch Medienvertreter geschieht, die ihre Umfragetour bei den Freunden der Zensur als neuesten James Bond verkaufen.
Auch an dieser Stelle wäre es möglich gewesen, mit diesem Blogger zu reden und selbst wenn man meint, das wären alles Feinde der Demokratie, diesen Punkt aus dem Gespräch zu entwickeln und hierdurch zu belegen, ohne zu denunziatorischen Mitteln zu greifen. Man kann auch Menschen, mit deren Meinung man ganz und gar nicht übereinstimmt, darstellen, ohne ihre Menschenwürde zu verletzen. Aber auch der Blogger ist keine Person mit einem Anrecht auf Meinung, sondern erfüllt nur eine Funktion in der angestrebten Erzählung. So, wie es die Funktion der Familie Koch war, die "Anderen" möglichst kognitiv beschränkt einzuführen, so ist es die Funktion des Bloggers, den "Anderen" mangelnde journalistische Qualität zu unterstellen.
Es ist ja nicht so, als gäbe es nichts. Abgesehen vom Lieblingsfeind RT DE beschränkt sich die Dokumentation aber auf kleinere Lichter. Sie legt sich nicht mit den Nachdenkseiten an oder mit einem wie Dirk Pohlmann und dem Wikihausen-Team oder mit KenFM beziehungsweise Apolut. Man geht jeder Situation aus dem Weg, in der tatsächlich etwas belegt werden müsste.
Gehen wir zurück zu besagtem Blogger im Bundestag. Er sagt, er habe nicht im Sitzungssaal filmen dürfen. Die Macher der Dokumentation kontern, dass Phönix die Debatte live übertragen hätte. Das ist eine halbe Antwort, und sie ist ein kleines Beispiel dafür, wie hier mit Informationen umgegangen wurde. Phoenix übernimmt für seine Übertragungen die Aufnahmen, die die Bundestagsverwaltung selbst ins Netz stellt, andere Aufnahmen sind aber nicht zugelassen. Faktisch sind also beide Aussagen richtig. Die zweite Aussage, die Übertragung durch Phoenix, wird aber so eingesetzt, als widerlege sie die erste.
Nachdem der Blogger derart erledigt wurde, folgt der Übergang zum Hauptfeind: "Nicht nur Youtuber, auch ein russischer Sender begleitet Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen besonders ausführlich. Auch wenn RT, wie hier, ohne Kommentar auskommt, die Bildsprache ist eindeutig. Friedliche Bürger werden Opfer einer Übermacht Uniformierter. Eingekesselt, drangsaliert, abgeführt. Welche Wirkungen solche Aufnahmen im Netz haben, werden wir später sehen."
Das ist eine sehr interessante Stelle. Es geht um Livestreams. Da ein Streamer jemand ist, der schlicht mit der Kamera unterwegs ist und diese Bilder im Moment ihres Entstehens überträgt, unterliegt die Auswahl der Bilder dem Zufall. Wenn es unter diesen Voraussetzungen zu einer Anhäufung von Aufnahmen polizeilicher Übergriffe kommt, dann legt dies nahe, dass sehr viele solcher Übergriffe stattgefunden haben. Anders als bei Filmaufnahmen, wie sie die öffentlich-rechtlichen Nachrichten liefern, die je nach Bedarf von Demonstrationen, die mehrere Stunden dauern, entweder zehn sehr geruhsame oder zehn sehr actiongeladene Sekunden zeigen.
Daraus eine "Bildsprache" zu machen, ist purer Zynismus. Wäre es denn eine Erfüllung der journalistischen Aufgabe, wenn man einen polizeilichen Übergriff vor der Nase hat, dabei die Kamera abzuwenden und, sagen wir mal, ein Taubenpaar auf dem nächsten Baum zu filmen? Ist es nicht das Festhalten gerade solcher Momente, was einmal mit dem Begriff der "vierten Gewalt" gemeint war? Der Kommentar, den die beiden SWR-Autoren dazu abgeben, impliziert, RT DE und nicht die Berliner Polizei sei für das Gefilmte verantwortlich. So und nicht anders ist die Anwendung des Begriffs "Bildsprache" auf einen Akt der ungefilterten Wiedergabe der Wirklichkeit zu verstehen.
Aber vorerst wendet sich unsere Dokumentation noch einmal der "Szene" zu. Unter dramatischer Musik wird behauptet, "den Organisatoren der Proteste geht es um mehr als um Pandemiegesetze"; sie würden die "Systemfrage stellen". Aha, denkt sich der politisch gebildete Mensch, jetzt geht es um das Eigentum an Produktionsmitteln … mitnichten. Welcher Satz ist es, der hier belegen soll, dass diese "Szene" völlig unberechenbar ist?
"Ich bin der Meinung, wir als Volk sollten gewisse Entscheidungen treffen, ich möchte nicht in einem Wahlzyklus von vier Jahren an einem Tag eine Entscheidung treffen, die ich vielleicht aufgrund der veränderten Situation in drei Wochen noch mal widerrufen möchte."
Nichts an diesem Satz ist rechts, Nazi, böse oder gar undemokratisch. Es ist schlicht die Forderung nach mehr direkter Demokratie. In allen Bundesländern besteht die Möglichkeit, über Volksentscheide direktdemokratische Entscheidungen herbeizuführen. Und die Aussage, mehr mitwirken zu wollen als einmal in vier Jahren per Stimmabgabe, wäre eigentlich begrüßenswert, weil eine lebendige Demokratie genau das braucht, Menschen, deren Bedürfnis nach politischer Mitwirkung nicht mit ein paar Kreuzen alle paar Jahre befriedigt ist.
Aber für die beiden SWR-Autoren ist das bedrohlich. Sie sagen das nicht, aber sie suggerieren es über die Musik. Und dann wird das Ganze noch gesteigert. Der Erzähler meldet nach einem weiteren Crescendo: "In anderen Beiträgen, die wir im Netz finden, werden Rechtsprechung und Verordnungen in Frage gestellt."
Ja wirklich? Wahrhaftig? Es gibt Beiträge, die nicht schreiben, "das ist aber eine tolle Verordnung", oder "ich freue mich sehr über dieses Urteil"? Ganz gewöhnliche Menschen aus der "Szene" maßen sich an, Rechtsprechung und Verordnungen zu kritisieren – und dann will dieser Pöbel auch noch mehr Demokratie als ein paar Kreuzchen alle paar Jahre?
Wir sind erst bei Minute sieben von 45. Aber schon ist klar umrissen, wer zu "uns" gehören darf: Nur jene, die alle Maßnahmen gut finden, die damit zufrieden sind, wählen zu dürfen und die nichts wissen wollen von Übergriffen der Polizei, zumindest sofern sie gegen die "Anderen", die "Szene" erfolgen. Die sich in einer Welt, die in Kundige und Publikum geteilt wird, brav mit der Rolle des applaudierenden Zuschauers bescheiden.
Ach, dann gibt es noch ein kleines Zwischenspiel. Unsere Helden besuchen eine Gruppe auf Telegram, die sich "Soldaten und Reservisten" nennt, und beschweren sich dann im Kommentar über den militärischen Ton. Das ist, wie wenn man sich bei "Nutten und Freier" über pornografische Inhalte beschweren würde. Für das Bedrohungsszenario muss man aber noch ein wenig mehr tun. Also folgt noch dieser Satz: "In anderen Ländern könnte einiges, was wir hier lesen, als Aufruf zum Militärputsch verstanden werden."
Nun, da ist ja der gute alte Witz, der besagt, wo es keine US-Botschaft gibt, gibt es auch keinen Militärputsch. Aber diesen Witz zu verstehen, setzt historische Kenntnisse voraus, auf die man bei dieser Truppe wohl vergeblich hoffen würde. Putsch klingt einfach so schön gruselig und gefährlich. Auch wenn eine Telegramgruppe, von der eine tatsächliche Putschgefahr ausginge, eher "Offiziere und Generäle" hieße.
Die Einleitung hat jedenfalls aus Nichts und viel Streichorchester schon einmal einen ordentlichen Popanz aufgebaut. Damit sie ordentlich die Helden mimen können, die beiden Kolporteure im Kampf gegen das "digitale Paralleluniversum (...) derer, die an die ganz große Verschwörung glauben".
Der Rest ist eigentlich nur noch eine Abfolge von Aussagen, die dazu dienen, die anfangs aufgebaute Behauptung zu untermauern. Dabei sind sie nicht pingelig bei ihrer Auswahl. Sandro Gaycken, einer, der mal beim Chaos Computerclub war, aber schon längst auf die dunkle Seite der Macht gewechselt ist, zur NATO; ein Christoph Schott von Avaaz, einer Organisation, die unglaubwürdig wurde, kaum nachdem sie ins Leben gerufen worden war, ein noch schlimmerer Fall von Astroturfing als Campact; Correctiv, die von Bertelsmann zum Facebook-Wahrheitsministerium geadelt wurden. Es findet sich niemand in der ganzen Reihe, der das Narrativ, also die Erzählung von Desinformation in Frage stellt. Im Gegenteil, die ganze Blase vertritt die Meinungsbildung betreffend eine Verschwörungstheorie.
Nehmen wir das erste Zitat eines der angeführten Experten: "Also die wählen auf der Basis einer nicht existierenden Realität, und da muss man leider sagen, das ist nicht mehr im Sinne des demokratischen Prozesses."
Das sagt der oben bereits erwähnte "NATO-Berater" Sandro Gaycken. Implizit bedeutet dies, nur eine bestimmte Sicht auf die Realität (bei seiner Beschäftigung zum Beispiel eine NATO-konforme) sollte zur Ausübung des Wahlrechts berechtigen. Der "demokratische Prozess" verlangt Konformität mit einer "existierenden Realität."
Es gibt ein freies und gleiches Wahlrecht. Dieses Wahlrecht ergibt sich für die Bundestagswahl aus der Volljährigkeit und der Staatsbürgerschaft. Es ist kein Klassenwahlrecht mehr, das an Besitz gebunden war. Man muss dafür kein Abitur nachweisen und schon gar nicht eine bestimmte Gesinnung oder Staatstreue. Auch das ist Voraussetzung der Demokratie im modernen Sinne.
Mehr noch: Die "nicht existierende Realität" ist im Politischen das, woraus Veränderungen und Fortschritt erst entstehen kann. Frauenwahlrecht beispielsweise. Sozialer Wohnungsbau. Politische Ziele gleich welcher Art gehören naturgemäß einer "nicht existierenden Realität" an. Ein demokratischer Prozess, der Konformität voraussetzt, ist keiner mehr.
Weiter im Kommentar: "Schott und sein Team durchsuchen die Abgründe im Netz nach Gerüchten und Legenden, abstrusen Geschichten, die sich wahnsinnig schnell verbreiten und das Potenzial dazu haben, Massen zu verunsichern, aufzuheizen und zu polarisieren."
Das Bild der "Anderen" wird hier um einen weiteren Aspekt ergänzt. Denn nicht nur, dass pauschal abweichende Erzählungen zu "abstrusen Geschichten" werden. Es ist die Rede von "Massen", die "verunsichert, aufgeheizt und polarisiert" werden. Warum? Weil Massen, das schwingt darin mit, dumm und manipulierbar sind, während die Erzähler, ihre Unterstützer und – das soll damit bewirkt werden – der Zuhörer selbstverständlich nicht Teil dieser tumben Masse sind.
Auch hier treffen wir wieder auf eine antidemokratische Sicht. Sie wird später noch einmal verstärkt in der Aussage, die der Medienwissenschaftler Pascal Jürgens trifft: "Inhalte, die im Wesentlichen die Eliten von Deutschland, die Eliten der Politik angreifen und die das Ziel haben, sie unglaubwürdig zu machen."
Der Begriff der Elite ist die logische Ergänzung zur Vorstellung der tumben Masse. Denn wer, wenn nicht eine Elite, sollte Letzterer die Richtung weisen? Und wenn man sich auf diese vordemokratische (oder postdemokratische?) Sicht einmal eingelassen hat, dann ist es natürlich das ultimative Böse, Eliten anzugreifen oder sie unglaubwürdig zu machen. Schließlich ist die Glaubwürdigkeit die Voraussetzung dafür, dass die Elite die tumbe Masse im Griff hat.
Nein, eine lebendige Demokratie ist keine Elitenherrschaft. Es gibt in ihr keinen unüberwindbaren Graben zwischen Wahlvolk und Gewählten. So zumindest wurde es einmal gesehen. Die Aussagen jener, die so beharrlich meinen, gegen Desinformation kämpfen zu müssen, zeigen aber, dass sie nicht nur an eine Herrschaft von Eliten glauben, sie halten sich selbst für einen Teil derselben, während die Masse am besten schlicht glaubt, was man ihr vorsetzt.
Derselbe Gedanke, noch einmal anders formuliert, bei einer Vertreterin des "Teams" von Avaaz: "Das sind ja auch Leute, die gebildet sind und eigentlich informiert sind, die sich jetzt zum Teil von den etablierten Medien abwenden (...) Wir trauen der Regierung nicht, wir trauen den etablierten Medien nicht, und in Hinblick auf die Wahl, wohin kann das jetzt politisch führen?"
Der Avaaz-Vertreter Schott führt ganz nebenbei die Gelbwesten-Proteste in Frankreich auf Falschnachrichten zurück. Dabei waren es keineswegs Falschnachrichten, sondern ganz konkrete, reale Vorhaben der französischen Regierung wie Sozialabbau und CO2-Besteuerung. Aber um das zu wissen, musste man sich mit ihnen befassen, was die sogenannten etablierten Medien nicht taten. Weshalb man sich schon mit dem gedachten Widerspruch gegen diese Behauptung quasi selbst überführt.
"Mit ihren Methoden messen Pressrelations und Newsguard exklusiv für uns Puls und Fieber der Gesellschaft. Wie stark heizt sich der Unmut auf, und wer schürt das Dauerfeuer im Netz?" Wieder die gleiche Botschaft. Gibt es wirklich keinen Grund für Unmut in dieser Gesellschaft, berechtigte Klage, angebrachte Zweifel? Jeder Abstand von der herrschenden Meinung wird sofort zur Desinformation erklärt.
Durchexerziert wird das an der neuen Partei Die Basis. Hatte sie es doch gewagt, in einem Video den Gedanken des Wahlbetrugs zu erwähnen. Die Dokumentation befasst sich nicht damit, woher solche Befürchtungen kommen könnten, dann wäre man sehr schnell an dem Punkt angekommen, dass die Wahrnehmung, mit den eigenen Interessen oder gar Nöten keinerlei Rolle zu spielen, sehr schnell zu diesem Gedanken führt, das Problem daran aber nicht der Gedanke, sondern dessen Ursprung ist. Sprich, in einer politischen Landschaft, in der sich alle irgendwie vertreten fühlen, verbreitet sich auch keine Furcht vor Wahlfälschung. Letztere ist nur ein Symptom eines gesellschaftlichen Zustands, den vor einigen Jahren selbst die Universität Princeton beim statistischen Abgleich, wessen Interessen die besten Chancen auf Verwirklichung hätten, als Oligarchie bezeichnete. Die Ergebnisse aus Princeton wurden von einer deutschen Universität für Deutschland bestätigt.
Nein, diese Dokumentation erledigt das Symptom mit einer verkürzten Darstellung einer eigentlich durchaus kritischen Studie. Und dann wird diese Sorge lächerlich gemacht, indem erzählt wird, das gleiche Meinungsforschungsinstitut, das ermittelt habe, ein Fünftel der Deutschen fürchte Wahlfälschungen, habe ja auch die AfD in Sachsen gleich stark wie die CDU gesehen … Und weil dieses Meinungsforschungsinstitut für die Bild-Zeitung in einer Umfrage ermittelt hat, dass die Hälfte der Deutschen Angst vor einer Kanzlerin Baerbock hat, muss an dem Meinungsforschungsinstitut etwas faul sein.
Auch hier nutzt die Dokumentation vorhandenes Halbwissen. Denn Meinungsforschungsinstitute verrichten weit überwiegend Auftragsarbeiten. Für entsprechendes Kleingeld finden sie auch heraus, ob eher Männer oder eher Frauen eine Zahncreme mit Lakritzgeschmack verwenden würden. Das sagt nichts über das Institut aus.
Dieser Umweg dient im Grunde nur dazu, die Umfrage über Baerbock zum einen ins Reich der Fantasie zu verweisen und zum anderen darauf die Verschwörungstheorie aufzubauen, es laufe tatsächlich eine Kampagne gegen Baerbock. Dieser Teil des Films stammt aus dem Juli. Damals flog ihr gerade ihr retuschierter Lebenslauf zugegeben mit großem Knall um die Ohren. Nur, dass der Herr von der Firma Pressrelations, die auch so eine Art Marktforschungsunternehmen ist, dabei von "Desinformationsnarrativen" spricht, führt in die Irre. Denn die allermeisten Vorwürfe rund um Baerbocks Biografie erwiesen sich als wahr und können daher keine Desinformation sein. Außer man erklärt alles, was man nicht hören will, zur Desinformation.
Baerbocks Foto mit Soros wird ebenfalls zum Teil einer Verschwörungstheorie erklärt. Auch wenn sie es selbst gepostet hat, was darauf hindeutet, dass sie auf dieses Bild stolz ist, was wiederum völlig legitim belegt, dass sie zumindest Sympathien für den Herrn hegt. Was sagt der Kommentar dazu? "Angeblich habe die Finanzelite die Kontrolle über die Regierung übernommen, verkörpert durch das World Economic Forum und personifiziert durch George Soros und Klaus Schwab.(…) Auch CDU-Direktkandidat Hans Georg Maaßen nutzt das Wort vom Great Reset als Kampfbegriff."
Völlig aus der Luft gegriffen ist das mit der Finanzelite nicht. Ob man nun auf den milde behandelten Großbetrug Cum Ex schaut oder auf die oben bereits erwähnte Princeton-Studie. Auch das World Economic Forum hat mit Kräften daran gearbeitet, sein Kungeltreffen für Politiker und Superreiche wie eine Weltregierung wirken zu lassen. Das negative Spiegelbild ist da die logische Konsequenz. Klaus Schwab hat ein Buch geschrieben, in dem er seine Fantasie vom Great Reset darlegt – es ist überall käuflich zu erwerben.
"Verschwörungstheoretiker machten aus dieser Vision das Schreckensszenario einer Ökodiktatur." Nein, das war Herr Schwab persönlich. In besagtem Buch. Und das, was er da beschreibt, für ein Schreckensszenario zu halten, ist das gute Recht jedes Lesers.
Und George Soros? Über den informiert sich das SWR-Duo gleich auf seiner eigenen Webseite. Eigentlich ein etwas unübliches Verfahren, betrachtet man doch auch kritische Quellen, aber vermutlich waren diese nicht immer nett genug. Die Briten sollen heute noch etwas angefressen sein, was den Herrn betrifft, wegen damals, als er das britische Pfund kaputtspekulierte und sich dabei mehrere Milliarden verschaffte.
Nein, Soros ist ein Guter und alle Positionen gegen ihn stammen aus Ungarn, aus Orbáns Wahlkampf.
Das ist nun wirklich eine Verschwörungstheorie. Niemand ist darauf angewiesen, Kritik an Soros von den Ungarn zu übernehmen. Es gibt genug auf Deutsch, Englisch und Französisch. Dass Soros immer eine Politik vertritt und fördert, die ihm und seinesgleichen zugute kommt, ist schon vielen aufgefallen. Dass von ihm finanzierte Organisationen einen eigenartigen Drall bekommen, sobald es zum Beispiel um die NATO geht, auch.
Aber wie an anderen Stellen wird hier mit Kontaktschuld operiert. Das hatten wir bei dem Dreieck AfD-Abgeordneter, Blogger, RT DE; das wird beim Umgang mit dem Meinungsforschungsinstitut Insa wiederholt, das unglaubwürdig ist, weil sein Ergebnis zu günstig für die AfD war, weshalb es der AfD nahe stehen müsse; das wird eingesetzt bei Maaßens Erwähnung in Verbindung mit dem Great Reset, als würde die Tatsache, dass Maaßen dagegen ist, jedes weitere Befassen damit unnötig machen; und es wird ein weiteres Mal eingesetzt bei der Behauptung, Orbán sei der Urheber der Kritik an Soros.
Der Sender kla.tv wird erst als Verbreiter von Verschwörungstheorien zu Baerbock gebrandmarkt, dann folgt das Zitat "... wurde sie fünf Jahre lang im Young Leaders Programm von Klaus Schwab ausgebildet". Dieser Punkt ist allerdings eine Tatsache, keine Verschwörungstheorie, und gibt durchaus Anlass zu legitimer Kritik. Die aber von den Machern der Sendung auf diese Art und Weise sogleich für unzulässig erklärt wird ...
Wie sehr die Macher ihre Paranoia pflegen, zeigt sich, wenn sie allen Ernstes in einem Trailer von RT DE nach verborgenen Botschaften suchen, Selbstironie völlig verkennen und dann noch die Peinlichkeit begehen, die russische Botschaft um eine Stellungnahme zu dieser vermeintlichen Entdeckung zu ersuchen. Sie konnten sich vermutlich gerade noch zurückhalten, den Trailer rückwärts anzusehen.
Und was wünschen sich diese Experten? Pascal Jürgens beispielsweise: "Im Moment steht der Rechtsstaat bei Telegram außen vor, wenn Menschen sich mit Desinformationen versorgen, weil er nicht löschen kann, weil er keine Warnhinweise versehen kann und weil er nicht weiß, wer diese Menschen sind in der Anonymität."
"Sich mit Desinformationen versorgen", ruft das Bild eines Junkies auf der Suche nach Stoff auf. Der "Rechtsstaat" kann nicht löschen und nicht "mit Warnhinweisen versehen". Nun, wenn er ein Rechtsstaat ist, ist das auch nicht sein Job. Nur wenn Straftaten begangen werden, ist er gefragt. Aber diese sogenannten Warnhinweise von Correctiv auf Facebook beispielsweise garnieren jeden noch so soliden kritischen Text zu Corona und den Maßnahmen. Dies geschieht mit staatlicher Beteiligung und Finanzierung und ist eigentlich ein Übergriff der Exekutive, deren Aufgabe darin besteht, das, was der Souverän beschließt – selbst wenn dies mittelbar über Repräsentanten geschieht – schlicht umzusetzen.
Wenn die Exekutive sich das Recht nimmt, eine Wahrheit zu definieren und durch nicht rechenschaftspflichtige parastaatliche Organe durchsetzen zu lassen, maßt sie sich etwas an, was alleinige Aufgabe des Souveräns ist. Wenn eine Regierung in dem Ausmaß, wie es in den vergangenen Jahren Usus geworden ist, meint, in das Denken des Volkes eingreifen zu müssen, kann man ihr eigentlich nur empfehlen, sich schlicht ein anderes Volk zu suchen. Demokratisch ist das gewiss nicht.
Der einzige Trick, der es möglich macht, dass solche Manöver nach wie vor von vielen toleriert werden, besteht in der Behauptung, es gebe einen bösen Feind, der Gleiches versucht. Strukturen wie Correctiv und Avaaz tun nichts anderes, als diese Erzählung kontinuierlich zu verstärken. So beschwert sich Herr Schott von Avaaz über die Berichterstattung zu den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, für die sich Millionen von Zuschauern interessierten: "Und das ist, denke ich, vor allem spannend, weil RT DE (…) auf Facebook da problemlos ein Millionenpublikum erreicht. Mit Sachen, die man eben im Fernsehen auch sehen würde (...) Und das, es gibt eben gar keine Regeln dazu."
Man fragt sich beim Lesen dieser Sätze, was er sich so vorstellt. Ein Verbot für jegliche Berichterstattung außerhalb der "etablierten Medien"? Demonstrationen, die diese nicht zeigen, darf auch sonst niemand zeigen? Oder alles, was nicht in der Tagesschau läuft, ist grundsätzlich Desinformation? Wie oben bereits erwähnt, es ging hier um Livestreams, das ist die einzige Form der Berichterstattung, die (noch) nicht gefälscht werden kann.
Wenn die Wirklichkeit den "etablierten Medien" nicht gefällt, ist dies schlecht für die Wirklichkeit?
Meinungsfreiheit und Pressekonzerne, das ist der wirkliche Widerspruch, an dem diese Republik zeit ihres Bestehens leidet. Und dieser Widerspruch hat sich durch Internet-Plattformen gerade etwas abgemildert. Nur die Nachwuchskräfte, die sich selbst als die künftige Funktionselite eines oligarchischen Staates sehen, fühlen sich hierdurch in ihren Interessen bedroht. Sie versuchen, das dem Publikum als Bedrohung der Demokratie unterzujubeln. Und wenn der SWR-Beitrag noch öfter als ganz am Ende behauptet hätte, Zensur dürfe keine Antwort auf Falschnachrichten werden – er singt das Hohelied der Zensur und nutzt alle verfügbaren Tricks der Propaganda, um das Publikum dabei auf seine Seite zu ziehen.
Das, was in diesem Beitrag als Schattenriss der von den Autoren als ideal vorgestellten Gesellschaft sichtbar wird, mag vieles sein, eine Demokratie ist es nicht. Da bleibt zu hoffen, dass die "Szene" diese Möchtegernelite rechtzeitig am Aufstieg hindert.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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