Kommentar von Dmitri Sosnowski
Das Absinken Estlands im braunen Sumpf wird immer schneller und unaufhaltsamer. Die Ehrung von SS-Veteranen und das offene Anbeten von Nazi-"Helden" ist dort zur Staatspolitik geworden. Am vergangenen Sonntag, dem 22. August 2021, wurde in Estland eine Gedenkstätte für Mitglieder bewaffneter nationalistischer Gruppierungen errichtet. Das Denkmal für die "Waldbrüder" wurde in dem Dorf Hüti im Kreis Võru, Gemeinde Rõuge, mit beinahe staatlichen Ehren enthüllt. Die russische Botschaft in Estland verurteilte die Errichtung des Denkmals für die "Waldbrüder" aufs Schärfste. Für die Esten war an dieser Sache nichts peinlich oder irritierend: nicht einmal, dass gerade erst am Vortag die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten in Moskau niedergelegt hatte.
Denn eine Leidenschaft für Nazi-Symbole überzieht das estnische Informationsfeld gleich einem braunen eitrigen Ausschlag.
Vor ein paar Jahren bot mir in Tallinn ein Journalist einer führenden estnischen Zeitung an, ein gemeinsames Foto zu machen. Zuvor hatten wir ein langes Gespräch darüber, wie in Deutschland gegen den Neonazismus gekämpft wird, und ich stimmte zu. Und da zieht mein Gesprächspartner plötzlich seine Jacke aus – und darunter kommt ein T-Shirt mit einem riesigen Waffen-SS-Emblem zum Vorschein. "Wir kämpfen auch", sagt er mir völlig aufrichtig.
Bei den estnischen Nazis sind die Vorstellungen von Gut und Böse völlig durcheinandergekommen. Sie lachen offen über europäische Werte, in denen, könnte man meinen, die Verherrlichung des Nationalsozialismus keinen Platz zu haben scheint. Europa schweigt sich leider aus, verschließt die Augen und tut so, als habe es nichts damit zu tun. Die Geschichte des estnischen, lettischen und litauischen "Widerstands", wie man dort die Legionäre der Waffen-SS und "Waldbrüder" so gern nennt, wird dem Rest Europas oft als Kampf gegen den angeblichen Terror der "blutbeschmierten KGB-Spitzel" und "Judäobolschewiken" dargestellt. Selbst die Jüdische Allgemeine, eine Zeitung, die Interessen jüdischer Kreise in Deutschland vertritt, porträtiert die Aufmärsche der Waffen-SS-Legionäre als eine Demonstration gegen die Kremlpolitik. Schwer zu sagen: Ist das jetzt Naivität oder politische Konjunktur?
Baltische Kollaborateure ermordeten über 13.000 Zivilisten
So ist beispielsweise gut bekannt, dass während des Krieges mehrere SS-Divisionen im Baltikum rekrutiert wurden. Kämpfen mussten sie nur selten – dafür führten sie aber täglich Erschießungen durch und leisteten überhaupt ihren Anteil zur "Lösung" der Judenfrage.
Die Schlächter aus dem Sonderkommando des lettischen SS-Korps, befehligt vom SS-Sturmbannführer Viktors Arājs, erschossen und verbrannten über 13.000 Zivilisten und töteten jeden Juden (und jeden, der mit den Juden sympathisierte), der ihnen vor die Flinte lief. Andreas Nachama, damals Leiter der Berliner Stiftung "Topographie des Terrors", antwortete einmal auf meine Frage nach den Gründen für das Aufblühen des Neonazismus in den baltischen Staaten: "Sie haben einen arischen Minderwertigkeitskomplex. Sie wollen noch über Rosenberg und Himmler stehen."
Nachama erzählte auch von anderen "freiwilligen" Formationen – den SchuMa (Schutzmannschaften). Diese waren Sonderkommandos, die formal nicht zur SS gehörten. Auf ihrer Grundlage wurde im Jahr 1942 die Estnische Legion und ein Jahr später die Lettische Legion gegründet. Diesen Formationen schlossen sich rund 100.000 Freiwillige an.
Der Westen: Sichere Zuflucht für baltische SS-Schlächter
Eine weitere lehrreiche Geschichte: Am 24. Juni 2018 wurde in der estnischen Kleinstadt Mustla eine Gedenktafel für Obersturmbannführer Alfons Rebane enthüllt. Über seine "Heldentaten" während des Krieges ist viel bekannt. Biografen schreiben meist schwärmerisch von seinem beispiellosen "Mut", für den er mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet und mehrfach befördert wurde. Dabei bemühen sich einige Historiker, seine Arbeit in der SS weißzuwaschen, indem sie betonen, er sei nur kurze Zeit in der SS und daher "nicht wirklich ein Verbrecher" gewesen.
"Ich muss daran erinnern, dass Rebane einer derjenigen war, die aus SS-Angehörigen und Hilfspolizisten, die vor der Roten Armee geflohen waren, 'Waldbrüder'-Banden bildeten. Übrigens geschah dies nicht ohne die Hilfe der ehemaligen Verbündeten der UdSSR im Kampf gegen den Faschismus – der Angelsachsen."
Rebane kam noch vor der Kapitulation Hitlers in Kontakt mit dem britischen MI6: Dieser sammelte bereitwillig Nazi-Abschaum auf und schuf aus ihm den Untergrund für den Kampf gegen die Sowjetunion. Rebane kam schnell auf einen gemeinsamen Nenner mit dem britischen Geheimdienst. Er ging in den Untergrund und leitete jahrelang verschiedene Operationen der "Waldbrüder": Er terrorisierte die örtliche Bevölkerung und organisierte Sabotageakte.
Sehr lehrreich ist gerade die Geschichte seiner "Legalisierung". Anfang der 1950er-Jahre, als die Bewegung der "Waldbrüder" praktisch zerstört war, floh der alte Nazi nach Westdeutschland. Technisch gesehen galt er immer noch als Offizier der Wehrmacht und der Waffen-SS. Nach einem merkwürdigen Verfahren, das es damals gab und teilweise auch heute noch gibt, konnte er mit einer deutschen Rente rechnen – was bedeutete, dass ihm auch eine Niederlassungserlaubnis sicher war. Rebane stellte also einen Antrag, dieser wurde ihm sofort bewilligt – und er zog in die Stadt Augsburg, in der er bis zu seinem Tod im Jahr 1976 als braver Bürger lebte.
Nur ein kleines Baltikum? Nein! Ganz Europa
Verehrung von Nazis, Denkmäler und Renten für SS-Legionäre in Estland und anderswo bilden nur die Spitze des Eisbergs. Nationalsozialistisches Gedankengut erfreut sich in ganz Europa wachsender Beliebtheit. In Schweden marschieren Glatzköpfe mit Hakenkreuz auf dem Ärmel, in der Ukraine wurden die Symbole und Grußformeln der OUN-UPA-Banden in den Rang staatlicher Symbole und Grußformeln erhoben. Estland eröffnet Nazi-Gedenkstätten, Buchläden in Tallinn sind voll mit dubioser Nazi-Literatur.
Im sowjetischen Film "Siebzehn Augenblicke des Frühlings" wird der Figur des Gruppenführers Müller in den Mund gelegt:
"Wenn irgendwann, irgendwo 'Heil' gerufen wird, bedeutet das, dass wir dort erwartet werden."
Versteht man das in Europa? Ich denke, nein.
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Übersetzt aus dem Russischen
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Alexander Sosnowski ist Chefredakteur der deutschen Zeitschrift World Economy, Schriftsteller und Publizist.