von Dagmar Henn
Am Ende der australischen Spionageserie Pine Gap, in der sich Australien in einem Konflikt zwischen China und den USA letztlich für China entscheidet, sagt die australische Leiterin der Spionagestation zu ihrem US-Kollegen: "Die USA müssen lernen, in Würde zu altern."
Wenn man das Agieren der Bundesregierung in den letzten Tagen betrachtet, ist man versucht, diesen Satz als Hinweis zu übernehmen. Aber es ist natürlich schwer, wenn man gerade erst anfängt, das Großmachtgehabe zu entwickeln, wie mit der Fregatte im chinesischen Meer, dann so einen groben Nasenstüber zu verdauen wie die Ereignisse in Afghanistan in den letzten Tagen. Ganz davon zu schweigen, mit der Tatsache klarzukommen, von einer aufsteigenden so rasch zu einer absteigenden Macht zu werden. Ist es doch erst wenige Jahre her, dass das Auswärtige Amt unter der Leitung von Steinmeier davon fantasierte, "Europa zu führen, um die Welt zu führen."
Jetzt sollen die Bundestagsabgeordneten nachträglich den Einsatz von 600 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan absegnen, die am Flughafen Kabul die Evakuierung der "Ortskräfte" genannten Kollaborateure absichern sollen. Das ist die Konsequenz einer kolossalen Fehleinschätzung der politischen Lage in Afghanistan, die – das betonte Heiko Maas auf seiner Pressekonferenz am 16. August immer wieder – in engster Zusammenarbeit mit den Verbündeten erarbeitet worden sei. So formulierte das Regierungssprecher Seibert am 18. August: "Wir haben den Durchhaltewillen der afghanischen Armee falsch eingeschätzt."
Wohl nicht nur den Durchhaltewillen, sondern auch die Unterstützung, die die von den Besatzern gestützte Regierung in der Bevölkerung besaß. Mehr noch – Pepe Escobar erwähnt in seiner Analyse ein kleines Detail, das eigentlich selbst einem halbblinden Nachrichtendienst noch auffallen hätte müssen, wenn diese Information stimmt (und Escobar ist meist bestens informiert). Er schreibt: "Die afghanischen Truppen, die schon seit Monaten keinen Sold erhalten hatten, wurden (von den Taliban) bezahlt, sie nicht zu bekämpfen."
Eine Armee, die nicht bezahlt wird, kämpft selten; das war schon immer so. Sie tut das erst recht nicht, wenn die Stimmung in der Bevölkerung gegen diesen Kampf ist. Aber wie kann es sein, dass all die versammelten Schlapphüte, das, was sich so nett "intelligence community", Geheimdienstgemeinde, nennt, es nicht mitbekommen, wenn die Armee oder selbst nur Teile von ihr über Monate kein Geld sehen? Und dann in Ermangelung dieser simplen, aber essenziellen Information zu einer vollkommen falschen Einschätzung kommt, wie: "Übernahme Kabuls durch Taliban vor 11. September eher unwahrscheinlich", (was die BILD aus einem BND-Report zitierte)?
Die 600 Bundeswehrsoldaten, die jetzt am Kabuler Flughafen stehen, teilen sich diesen Ort mit 6.000 US-Soldaten, die zum selben Zweck, zur Absicherung der Evakuierung, diese Einrichtung besetzt halten. Wobei die Bundesregierung, die, wenn man Maas lauscht, keinen Atemzug macht, ohne sich engstens mit den Verbündeten abzusprechen, rätselhafterweise einen Einsatz bis zum 30. September vorsieht, während die USA in Doha mit den Taliban gerade über eine Akzeptanz bis Ende August verhandeln.
Aber ganz so einfach, wie getan wird, ist die Frage der Evakuierung nicht. Laut Regierungssprecher Seibert erfolge diese auf Grundlage der Zustimmung der entschwundenen afghanischen Regierung zum Einsatz der ausländischen Truppen, und auf Grundlage des Gewohnheitsrechts, nach dem ein Staat seine Staatsbürger evakuieren dürfe. Seine Staatsbürger schon.
Aber die "Ortskräfte" sind keine Deutschen, und auch, wenn es deutsche (aber nicht US-amerikanische) Tradition ist, die Kollaborateure mitzunehmen und für spätere Gelegenheiten aufzuheben, gibt es diesbezüglich keine völkerrechtliche Grundlage, auch nicht als Gewohnheitsrecht. Und nach bisherigen Berichten lassen die Straßensperren der Taliban ausländische Staatsbürger auch ungehindert zum Flughafen, Afghanen allerdings nicht. Die 600 Bundeswehrsoldaten werden daran, selbst wenn sie vor allem aus dem KSK stammen und laut Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ein "robustes Mandat" haben, mit "taktischer und strategischer Beinfreiheit", nicht viel ändern können, selbst wenn sie rumballern, was das Zeug hält.
Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan, Markus Potzel, der von 2014 bis 2016 deutscher Botschafter in Kabul war, soll nun in Doha dafür sorgen, dass die besagten Ortskräfte abziehen können. Das "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte", ein Verein ehemaliger Bundeswehrsoldaten, ist empört über dieses Zuwenig und Zuspät: "Wir haben seit Langem darauf gedrängt, die Ortskräfte zu evakuieren, bevor die großen Städte besetzt sind. Dass man letztendlich sogar gewartet hat, bis die Hauptstadt Kabul eingenommen ist, hätten wir uns nie vorstellen können." Schließlich hätten sie sich auf die deutschen Zusagen verlassen: "Viele haben uns erzählt, hätte die Politik nicht ständig versprochen, dass es eine Chance auf eine Ausreise nach Deutschland gibt, hätten sie sich nach Pakistan oder Iran absetzen können."
Allerdings, Potzel hat wenige Trümpfe in der Hand. Das beginnt damit, dass der Flughafen Kabul unter der Kontrolle der US-Truppen steht und die Zahl der Flüge, die unter deutscher Regie stattfinden können, von deren Entscheidungen abhängt: "Ob wir die Flüge durchführen können, hängt davon ab, ob wir die entsprechenden Slots bekommen von der amerikanischen Seite" (Kramp-Karrenbauer). Es geht weiter mit dem Auslandsvermögen des afghanischen Staates, das die USA, freundlich wie sie sind, sogleich eingefroren haben, und das Potzel nicht wieder auftauen kann. Das einzige Angebot, das er machen könnte, wäre, die Fortsetzung der ebenfalls sofort eingefrorenen deutschen Hilfsprojekte anzubieten; dafür allerdings dürften zumindest die dort tätigen afghanischen Mitarbeiter gerade nicht das Land verlassen.
Gut, in Hilfsprojekte ging immer nur ein winziger Bruchteil der Mittel, die in diesen Einsatz flossen. Leider hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) seine diesbezüglichen Informationen schon durch die schlichte Mitteilung, alle Projekte seien gestoppt, ersetzt, sodass Zahlenverhältnisse nur von US-amerikanischer Seite zu haben sind. Dort jedenfalls wurden zwar drei Billionen Dollar für den Truppeneinsatz ausgegeben, aber laut SIGAR-Report insgesamt im Verlauf der fast 20 Jahre nur 145 Milliarden für Hilfsprojekte; das sind ganze 4,8 Prozent, von denen laut SIGAR ein großer Teil auch noch in der afghanischen Korruption versickerte. Selbst wenn man großzügig annimmt, dass bei den Deutschen der Anteil doppelt so hoch war, die Welt bewegen diese Summen nicht.
Überhaupt ist der ganze Ablauf etwas seltsam. Es ist klar, dass die beabsichtigten Flüge aus Kabul nur durch Verhandlungen mit den Taliban überhaupt möglich sind; auch 6.000 Soldaten reichen nicht aus, um einen sicheren Flugbetrieb gegen ihren Willen zu gewährleisten, weil sie einen Perimeter absichern müssten, der selbst Raketenbeschuss verhindert.
Wenn man aber mit den Taliban erfolgreich verhandeln kann, warum dann überhaupt diese militärische Nummer? Dann ließe sich auch aushandeln, dass schlicht jeder, der ausreisen will, dies auch darf; die Bundesregierung übernimmt die Ticketkosten, und das Ganze läuft im normalen zivilen Flugbetrieb. Immerhin wurde bereits eine Amnestie verkündet, auch für afghanische Mitarbeiter der Besatzungstruppen.
Diese Abschiedsshow des Militärisch-Industriellen Komplexes ist nicht billig; allein der Bundeswehreinsatz soll 40 Millionen Euro kosten. Sie soll sicher nicht nur zumindest den Eindruck vermitteln, man sei groß und mächtig, um von der realen Niederlage abzulenken. Während die reale Entwicklung mit der absehbaren Unterstützung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) eine zarte Hoffnung auf einen echten Frieden nährt, wird mit diesem Spektakel und all den es begleitenden Geschichten von Not und Elend den Bevölkerungen der westlichen Länder eingehämmert, dass hier nur Übel zu erwarten ist. Eine propagandistische Vorbereitung auf die künftige "Achse des Bösen": Taliban-Pakistan-China, wie sie Escobar es erahnt.
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