von Tilo Gräser
"Gehorsam macht frei" – dieser Buchtitel klingt wie ein Kommentar zum Geschehen in der COVID-19-Pandemie. In dem, was der Autor, der französische Historiker Johann Chapoutot, aufgeschrieben hat, geht es allerdings nicht darum, sondern um: "Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute", so der Untertitel. Und doch findet sich das, was da zu lesen ist, auch in den aktuellen Ereignissen wieder. Denn Gehorsam spielt auch in der Corona-Politik der Bundesregierung zweifellos eine wichtige Rolle, ebenso in deren medialer Begleitung, wie an der aktuellen Debatte um die rechtliche Stellung Ungeimpfter zu sehen ist.
Der Autor des Buches ist Professor an der Pariser Universität Sorbonne. Er beschreibt, wie es dazu kam, dass der fanatische faschistische Jurist und ehemalige SS-Offizier Reinhard Höhn 1956 in Bad Harzburg die "Akademie für Führungskräfte" gründete. Diese "Akademie" durchliefen mehr als 600.000 bundesdeutsche Führungskader aus Wirtschaft, Verwaltung und auch aus der Bundeswehr. "Höhns beispielhafter Aufstieg zum Marketing-Guru wirft die beunruhigende Frage auf: Wie stark ist unsere Arbeitswelt noch heute vom Geist der NS-Zeit geprägt?"
Der Autor macht auf Folgendes aufmerksam:
"Die Geschichte des Managements beginnt lange vor der Zeit des Nationalsozialismus, doch wurde sie während der zwölf Jahre des Dritten Reiches fortgesetzt und das Nachdenken vertieft – in diesen Jahren entstand das Muster für die Theorie und Praxis des Managements der Nachkriegszeit."
Der Autor wollte aber keine grundlegende Analyse der kapitalistischen Lebens- und Arbeitsweise vorlegen. Ebenso wenig wollte er behaupten, "Management sei per se eine kriminelle Tätigkeit", wie er erklärt. Sein Buch über den "furchtbaren Juristen" und Management-Theoretiker Höhn sieht er als "Fallstudie, die sich auf zwei für das Nachdenken über die Welt, in der wir leben und arbeiten, interessante Befunde stützt: Junge Juristen – Akademiker und hohe Beamte des Dritten Reiches – haben sich intensiv mit Fragen des Managements befasst, weil die nationalsozialistischen Zukunftspläne einen gigantischen Bedarf an zu erschließenden Ressourcen und zu organisierender Arbeit implizierten".
Aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft
Höhn sei einer der aktivsten Juristen im faschistischen Deutschland gewesen, die sich mit Fragen der modernen Verwaltung beschäftigten, so Chapoutot. Er habe bis 1945 zahlreiche Aufsätze und Bücher verfasst, auch zur schwindenden Rolle des Staates. "Nach 1945 änderte Höhn seine Auffassung und seine Lehre in keiner Weise", schreibt der französische Historiker. Er habe sich nach dem Untergang des Dritten Reiches daran gemacht, "eine Art von Menschenführung zu entwickeln und ins Werk zu setzen, die dem Geist des 20. Jahrhunderts ebenso entsprach wie dem germanischen Wesen – von Natur aus frei" zu sein.
Der Historiker erinnert in seinem Buch daran, dass die deutschen Faschisten "in der Tradition und Nachfolge des Sozialdarwinismus, des Rassismus und der Eugenik" standen. Diese Denkrichtungen aus der Mitte der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft haben den Untergang ihrer extremsten Protagonisten schadlos überstanden, was sich bis heute zeigt. Das eigentümliche Freiheitsverständnis der deutschen Faschisten ist laut Chapoutot das der freiwilligen Unterordnung in einer Gemeinschaft, die als "das Unterpfand der Freiheit des Einzelnen" gelte.
Aus dieser Sicht sei das Verhältnis zwischen "Führer" und Volk anders als der absolutistische Gegensatz zwischen Fürst und Untertan. Der "Führer" sei kein Diktator, "sondern das, was er beschließt, ist entstanden aus Gemeinschaftsgeist", wird Höhn aus einem seiner Bücher zitiert. Die "Volksgemeinschaft" habe sich auch in der Wirtschaft wiedergefunden, schreibt Chapoutot, in der "Betriebsgemeinschaft" aus Betriebsleitern und Beschäftigten als Kern eines Unternehmens.
Es gebe in dieser Sicht keine Klassengegner mehr, nur noch "frei und freudig" Mitarbeitende, egal in welcher Position. So habe auch das Dritte Reich seinen Vordenkern wie Höhn als "Hort der Freiheit" gegolten, für all jene, die sich freiwillig ein- und unterordnen unter die "zahllosen Führer auf allen Ebenen, beim Militär, in der Politik, in der Wirtschaft oder im Zivilleben": "Ihre Gefolgschaft war frei, weil die Befehle der Führer Ausdruck des tieferen Willens und der Schicksalshaftigkeit der 'germanischen Rasse' waren."
Beschränkte Freiheit und nachgeholfene Freiwilligkeit
Der Autor macht darauf aufmerksam, dass es mit der angeblichen Freiheit der Einzelnen in der Gemeinschaft nicht so weit her war, wie vielleicht erhofft. "Allein die vollkommen entindividualisierte Arbeit im Dienst nationaler oder 'rassischer' Größe lasse den Einzelnen in Würde leben", gibt er die Vorstellungen der faschistischen deutschen Vordenker wieder. Der "germanische Mensch" sei als "Mensch der Gemeinschaft und Arbeit" gesehen worden, der sich immer arbeitswillig zeigen sollte.
"Notfalls musste dieser Arbeitswilligkeit mit Chemie nachgeholfen werden, einer weiteren bemerkenswerten Errungenschaft germanischer Genialität – die massenhafte Verabreichung von Methamphetaminen in Form von Pervitin-Pillen an Arbeiter und Soldaten … legt davon Zeugnis ab."
Heute heißt das "Neuro-Enhancement" oder "Doping im Job", und Crystal Meth gilt als "Droge der Workaholics" – alles ganz freiwillig eingeworfen.
Die faschistischen Vordenker haben den Einzelnen reduziert "auf eine Sache, ein Objekt, das nützlich sein muss, um eine Daseinsberechtigung zu haben", so Chapoutot. Sie degradierten die Menschen "zum Werkzeug, zum "Menschenmaterial", zu einem Faktor der Produktion, des Wachstums und des Wohlstands.
Diese Sicht, hervorgebracht mit der Entwicklung des Kapitalismus als Wirtschaftssystem und -ordnung, ist nicht rein faschistisch. Sie bestätigt, was Max Horkheimer 1939 schrieb: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." An ihr hat sich bis heute nichts geändert, auch nicht daran, dass "Arbeitsunwillige", "Unproduktive" oder "leistungsunfähige Wesen" als "lebensunwürdige Menschen" galten, die vernichtet werden durften, woran der Autor erinnert. Der Unterschied ist, dass heute die tödliche Konsequenz dieses Denkens nicht mehr offen propagiert wird.
Vergnügung zur Steigerung der Arbeitsleistung
Chapoutot zeigt ebenso, dass die faschistische Führung nicht nur auf Druck gegen die deutsche Bevölkerung setzte. Um ihre Ziele durchzusetzen, sei sie "peinlichst darauf bedacht" gewesen, "im Arbeits- und Wirtschaftsleben wie auch im Alltag auf die Zustimmung der Bevölkerung bauen zu können. Zustimmung per Gefolgschaft zu erhalten, war ihr ständiges Bestreben bis zuletzt". Überwachung und Repression seien nur begleitende Maßnahmen "eines umfassenden politischen Bemühens um Gefolgschaft" gewesen.
Im wirtschaftlichen Bereich sei es um eine "Menschenführung" – die in den USA längst "Management" hieß – gegangen, "die belohnt und Anreize schafft, um zu motivieren und eine produktive Gemeinschaft zu bilden". "Es galt, den Arbeiter nicht zu entmutigen, sondern ihm vielmehr Anlass zum Träumen zu geben." Dabei sei auch auf Erkenntnisse aus den USA zurückgegriffen worden, unter anderem von Henry Ford, dem laut Chapoutot "skrupellosen tayloristischen Potentaten, Großmeister der Fließbandproduktion und der körperlichen Ausbeutung, Verfasser antisemitischer Schriften und aufrichtigen Bewunderer des Dritten Reiches".
Die Arbeitsleistung sollte durch Freude gesteigert werden, die wiederum durch Vergnügungen und Freizeitangebote erzeugt werden soll. Der Historiker meint dazu: "Es erstaunt, wie modern manche Aspekte des Nationalsozialismus waren." Das war die Grundlage für den Aufstieg des ehemaligen SS-Offiziers Höhn (erst SS-Standartenführer, ab 1944 SS-Oberführer) – als "eine Art Josef Mengele des Rechts" – zum "Management-Guru" in der alten Bundesrepublik, dessen Lehren erst nach Jahrzehnten in Frage gestellt wurden.
"Wie Klaus Barbie und vielen anderen gelang Prof. Dr. Höhn sein Neuanfang, ohne dass er sich verwandeln musste. Er wurde nach dem Krieg zu dem, der er immer gewesen war."
Chapoutot beschreibt in seinem Buch die Seilschaften der Faschisten in der Bundesrepublik, die Höhns Wiederaufstieg ermöglichten. Mit Hilfe seines Netzwerkes, über das er dank seiner SS-Vergangenheit verfügte, wurde Höhn 1953 Direktor der Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft (DVG), "einer Art Denkfabrik der deutschen Industrie".
Freiheit zu gehorchen als Mittel gegen Klassenkampf
Diese beschloss später, die "Akademie für Führungskräfte" in Bad Harzburg zu gründen, um Manager nach US-Vorbild auszubilden – geleitet vom früheren SS-Oberführer Höhn. Der vom ehemaligen SS-Offizier propagierte "Weg zur Delegation von Verantwortung" habe auch die Bundeswehr-Spitze interessiert, die von "innerer Führung" und dem "Bürger in Uniform" sprach. Chapoutot gibt wieder, was Höhn darunter verstand: In dessen Managementvorstellungen war "man frei zu gehorchen, frei, die von der Führung definierten Ziele umzusetzen. Die einzige Freiheit besteht in der Wahl der Mittel, niemals in der Wahl der Ziele".
"Dieses sogenannte Harzburger Modell wurde für Jahrzehnte zum bundesrepublikanischen Vorzeigeprojekt", bis es ab den 1970er Jahren langsam von weiterentwickelten Modellen abgelöst wurde. Auch in der Bundesrepublik war laut dem Historiker eine der Hauptsorgen Höhns, den Klassenkampf aus dem wirtschaftlichen und dem politischen Leben auszuschließen. Darauf habe er mit seinem Modell einer Zusammenarbeit mit den "Mitarbeitern" geantwortet.
"Die neuen hierarchischen Beziehungen sollten die Gefahr eines Konflikts zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern abwenden." So sollte das Unternehmen als "Produktions- und Leistungsgemeinschaft" eine gemeinschaftliche Harmonie zwischen "Führung" und "Gefolgschaft" pflegen.
Höhns Stern begann mit Enthüllungen über seine faschistische Vergangenheit zu sinken, unter anderem durch das 1965 in der DDR erschienene "Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik". Und sein Harzburger Modell wurde dem Historiker zufolge ab den 1970er Jahren als "allzu detailliert und umständlich angesehen". 1989 meldete die Harzburger Akademie nach mehr als 600.000 Absolventen schließlich Konkurs an, schreibt Chapoutot. Dennoch hätten die Nachrufe der bundesdeutschen Leitmedien den im Jahr 2000 verstorbenen "Management-Guru" Reinhard Höhn als "genialen Manager, begnadeten Lehrer und unermüdlichen Forschergeist" gepriesen. Unternehmen wie Aldi würden seine Empfehlungen bis heute umsetzen.
Altes Denken mit aktuellen Folgen
Der Historiker beschreibt, wie die "Lehren" des ehemaligen SS-Offiziers weiter wirken – weil sie unabhängig von ihm gelten: "Unsere Gesellschaften haben sich angewöhnt, das 'Management durch Angst' und die nahezu vollständige Entfremdung des zum schlichten 'Produktivkapital', zur puren 'Humanressource' oder zum 'Produktivkapital' reduzierten Individuum mit der 'Globalisierung' und dem aus ihr resultierenden Konkurrenzdruck zu erklären oder zu rechtfertigen."
Bis heute ist die viel gepredigte Autonomie der Einzelnen nur eine Fassade, stellt der Historiker fest. Höhns Werdegang sieht er als "Parabel, anhand derer sich die Welt, in der wir leben, lesen und verstehen lässt". Der ehemalige SS-Offizier habe auch nach 1945 die Idee bewahrt, "dass es im Lebenskampf wie im Wirtschaftskrieg darauf ankomme, leistungsfähig zu sein und Leistung zu ermutigen". Das dabei verwendete Vokabular sei nicht nur für das faschistische Denken typisch, sondern es "ist viel zu oft auch noch das unsere", stellt der Historiker fest.
"Die Nationalsozialisten haben es nicht erfunden – es entstammt dem militärischen, wirtschaftlichen und eugenischen Sozialdarwinismus der westlichen Welt der Jahre 1850 bis 1930 –, doch sie verkörperten und veranschaulichten dieses Vokabular auf eine Weise, die uns darüber nachdenken lassen sollte, wer wir sind, was wir denken und tun."
"Wenig Anlass zu Optimismus"
Das extreme Beispiel Höhn zeigt für Chapoutot, dass das Management nicht neutral ist, "sondern ganz und gar verbunden mit einem Zeitalter der Massen". Und: "Im Zeitalter der Dienstleistungsgesellschaft und der galoppierenden Virtualität scheint die Organisation der Arbeit zur einzigen Realität geworden zu sein", schreibt er.
"In dieser Welt ist das Management König und die schlimmsten Probleme, denen man begegnet (physische und psychische Leiden bis hin zur Selbsttötung), sind genau diejenigen, die es selbst schafft."
Für den Historiker gibt es beim Blick auf die heutige Management-Realität "wenig Anlass zu Optimismus". Die soziale und rechtliche Gegenwart zeichne "ein sehr düsteres Bild der Arbeitswelt".
Was er beschreibt, steht in Verbindung zur gesellschaftlichen Lage insgesamt – und zu den aktuellen Ereignissen und Vorgängen in der COVID-19-Pandemie. Ganz offen wird den Menschen von den Regierenden erklärt, sie würden frei werden, wenn sie gehorchen. Das hat auch damit zu tun, dass Politik längst nur als Management von Gesellschaft verstanden und ausgeübt wird: Die Bürger sind frei, auszuführen, was ihnen von oben als "gut" und "richtig" vorgegeben wird.
Chapoutot stellt am Ende seines Buches fest: "Unser Blick auf uns selbst, auf die anderen und auf die Welt" sei geprägt "durch Begriffe wie 'Führung', 'Kampf' und 'Management' sowie durch Jahrzehnte einer in höchstem Maße produktiven Wirtschaft und einer daran ausgerichteten Unterhaltung". Für Letztere stehen TV-Sendungen wie "Der Schwächste fliegt" oder solche, in denen "Das Supertalent" gesucht wird. Der Historiker warnt zu Recht vor den Folgen solchen Denkens, vor der "zunehmenden Realitätsferne unserer Art zu wirtschaften und unserer 'Werte'".
Johann Chapoutot: "Gehorsam macht frei – Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute"
Propyläen Verlag 2021. 176 Seiten; ISBN: 9783549100356; 22 Euro
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