Sahra Wagenknecht: Merkels Corona-Politik bedient die Interessen großer Unternehmen

Sahra Wagenknecht teilt aus: Die Bundesregierung verfolge eine "fragwürdige Strategie", sie werfe "großen Unternehmen viel Steuergeld hinterher". Die Klimabewegung mache Klimaschutz zu einem "Elitenthema". Die Linke sei zu einer "Akademikerpartei" geworden.

Sahra Wagenknecht hält die Corona-Politik für "fragwürdig" – insbesondere Schulschließungen und Millionen-Hilfen für Großkonzerne, während "kleine Selbstständige und Gewerbetreibende weitgehend im Stich gelassen werden". Im Interview mit dem Nachrichtenportal Watson kritisiert die Linken-Politikerin sowohl die Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch die Corona-Politik der Bundesregierung. Sie spricht darüber, warum Teile der Klimabewegung den Klimaschutz zu einem "Elitethema" machen und weshalb sie weiter zu ihrer eigenen Position in der Flüchtlingsfrage steht. Sei übt dabei scharfe Kritik auch an ihrer eigenen Partei, die zu einer "Akademikerpartei" geworden sei, weil sie mehr mit dem "identitätspolitischen Rummel um Quoten und Diversity" kokettiert, statt "sich für die Benachteiligten einzusetzen".

Wagenknecht sieht eine direkte Verantwortlichkeit der Bundeskanzlerin Merkel dafür, dass sich in der Corona-Krise die Ungleichheit in Deutschland verschärft habe. Merkel habe "mit ihrer Politik vor allem einflussreiche wirtschaftliche Interessengruppen bedient".

"Großen Unternehmen" werde "viel Steuergeld hinterhergeworfen, obwohl sie gleichzeitig hohe Dividenden an ihre Aktionäre ausgezahlt haben". Wagenknecht führt die Unternehmen BMW und VW als Beispiele vor, die ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit schickten und dennoch Dividenden ausgeschüttet haben.

"Es ist fragwürdig, wenn solche Unternehmen Geld vom Staat bekommen. […] Kleine Selbstständige und Gewerbetreibende wurden weitgehend im Stich gelassen. Solo-Selbstständige, Freiberufler und Künstler, die seit Monaten nicht mehr arbeiten dürfen, bekommen bis heute keine echte Unterstützung, sondern werden auf Hartz IV verwiesen."

Zudem beinhalte das Kurzarbeitergeld erhebliche Diskriminierungen für geringverdienende Personen. Gerade die Bevölkerungsgruppen, die vor der Corona-Krise schon wenig hatten, "haben durch die Maßnahmen besonders viel verloren".

"Wer vorher in einem Restaurant gearbeitet hat, kann mit 60 oder 67 Prozent des Gehalts kaum überleben."

Die Schulschließungen erachtet die Linken-Politikerin als "dramatisch". Insbesondere "Kinder aus ärmeren Familien leiden darunter, dass sie nicht mehr in die Klassen dürfen". Home-Schooling funktioniere nur, "wenn Mama oder Papa entsprechende Unterstützung leisten". In vielen Fällen ist das nicht realisierbar. Daher plädiert sie dafür, "Präsenzunterricht und Kontakte zuzulassen, wo immer es geht". Natürlich müsse man das Infektionsrisiko niedrig halten, aber:

"Alle Schulen dichtzumachen, nur weil Kinder keine starke Lobby haben, ist eine fragwürdige Strategie. Zumal Kinder und Jugendliche selbst durch Corona kaum gefährdet sind."

"Nähe zur AfD" wegen Kritik an deutscher Flüchtlingspolitik?

Vom Interviewer wird Wagenknecht auf eine "Nähe zur AfD" angesprochen: "Sie vertreten ähnliche Positionen wie die AfD" – in der Corona-Politik wie zuvor in der Flüchtlingspolitik. Wagenknecht zerstreut diese Behauptung, die ein "besonders dummer Vorwurf" sei. Sie interessiere, "was richtig ist, und nicht, was die AfD sagt".

Diese Art der Debatte sei "problematisch", da sie von den eigentlichen Inhalten ablenke. Statt sie in "eine schräge Nähe zur AfD zu rücken", sollte man sich besser mit ihren Argumenten auseinandersetzen. Überhaupt dürfe sich die Linke nicht abschrecken lassen von Themen, die auch von der AfD aufgegriffen werden. Es gehe darum "sinnvolle Konzepte vorzulegen, statt die realen Probleme wegzureden". Deswegen verteidige Wagenknecht auch ihre Position in der Flüchtlingsfrage.

"Es lässt sich doch nicht leugnen, dass Zuwanderer für Lohndrückerei missbraucht werden. Und natürlich gibt es auch Konkurrenz um Sozialwohnungen und generell um bezahlbaren Wohnraum. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Recht auf Asyl für Verfolgte unterstützt, aber ebenso für eine Begrenzung der Zuwanderung plädiert. Wer diese Menschen moralisch diffamiert und als Rassisten beschimpft, treibt sie nach rechts."

Das gesamte Herangehen in der Flüchtlingsdebatte hält Wagenknecht für verkehrt: "Uns interessieren Flüchtlinge erst, wenn sie in Europa sind." Stattdessen müsste man über Fluchtursachen diskutieren und über Perspektiven der Geflüchteten in ihren eigenen Ländern. Dort müsste die Hilfe ansetzen, denn die "am meisten Bedürftigen schaffen es nie nach Europa". In Ländern wie Libanon, Jordanien oder Kenia gebe es "riesige Flüchtlingslager" in denen die Menschen "oft schon in der zweiten oder dritten Generation wie in einem Gefängnis" leben – "ohne jede Hoffnung und Perspektive". Dort rekrutierten islamistische Terrorgruppen ihre Anhänger. Diese Themen werden in Deutschland ausgeblendet.

Schließlich sei es kein Zufall, "dass die meisten Flüchtlinge, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, aus drei Ländern stammen: Syrien, Irak und Afghanistan". In diesen drei Ländern haben "westliche Staaten ihre Kriege geführt und Kriegsparteien hochgerüstet" – mit dem Resultat einer massenhaften Flucht der Bevölkerung.

"Wenn man über Flüchtlinge redet, muss man auch über Kriege reden. […] Und dann fühlen wir uns superedel, wenn wir von den vielen Millionen Menschen, die durch diese Kriege alles verloren haben, einige hier aufnehmen. Wir sollten lieber die Kriegseinsätze beenden und den Wiederaufbau vor Ort unterstützen."

Die Linke als "Akademikerpartei"

Sahra Wagenknecht ist wegen ihrer Standpunkte in der Flüchtlingsfrage innerhalb ihrer eigenen Partei heftig kritisiert worden. Darauf angesprochen, antwortet sie:

"Es gibt Leute, die meinen, dass jeder, der hohe Zuwanderung kritisiert, ein halber Nazi ist. Meist sind das Leute, die in Wohnvierteln leben, wo die Flüchtlinge gar nicht hinkommen, und die auch keine Gefahr laufen, mit ihnen beruflich in Konkurrenz zu treten. Für mich ist ein solches Herangehen nicht links. Es hat dazu beigetragen, dass die linken Parteien heute von Geringverdienern und Nicht-Akademikern kaum noch gewählt werden."

Dieses Vorgehen ist ein strukturelles Problem – nicht nur in der deutschen Linkspartei, sondern auch für "viele andere linke Parteien in Europa". Die Parteiführungen bedienen Themensetzungen und eine Sprache, "die sich vor allem an Studierende und akademisch Gebildete in den Großstädten richtet".

"Wir sind mehr und mehr zu einer Akademikerpartei geworden."

Damit habe Die Linke den Fokus verloren auf die Personen, für die sie sich eigentlich einsetzen muss: für die Benachteiligten, "für die Menschen, die in harten und in der Regel wenig inspirierenden Jobs arbeiten, die um ihr bisschen Wohlstand kämpfen müssen, so sie überhaupt welchen haben". Es sei Aufgabe der Linken, für die Menschen da zu sein, "die sonst gar keine Lobby haben".

Die Linke drohe sich zu verlieren in dem "identitätspolitischen Rummel um Quoten und Diversity", bei dem es letztlich nur um "bessere Chancen für bereits Privilegierte" gehe. Die "ganze Identitätspolitik" nütze dem ärmsten Teil der Bevölkerung wenig. Die Debatten "über Diversity oder über Frauenquoten" werden nicht geführt bei "Pizzaauslieferern oder Reinigungskräften, da ist das alles sowieso übererfüllt, sondern bei Vorstandsposten in Unternehmen, bei gehobenen Stellen in der Verwaltung oder in den Medien" – sprich bei Personen aus der gehobenen Mittelschicht.

"Klimaschutz darf kein Elitenthema bleiben"

Ähnliche Tendenzen sieht Wagenknecht auch in der Klimabewegung, wie etwa Fridays for Future, das überwiegend an Gymnasien und Hochschulen stattfand, "aber kaum an Real- und Berufsschulen": "Die meisten Jugendliche kamen aus der gehobenen Mittelschicht". Entsprechend wurden die Themen aufgegriffen.

"Heute haben Ärmere oft den Eindruck: Wenn die über Klima reden, dann steigen bei mir die Preise, dann wird mein Leben noch härter. Solche Ängste wurden von der Bewegung oft ziemlich kalt abgebügelt."

Das sei deswegen besonders problematisch, weil der Klimawandel "ein Menschheitsthema" sei und eine "verantwortungsvolle Klimapolitik" unbedingt "gesellschaftliche Akzeptanz" finden müsse. Das gehe aber nicht bei einer einseitigen Herangehensweise.

"Indem große Teile der Klimabewegung sich auf die Forderung nach einer CO²-Steuer fokussiert haben, haben sie aber das Gegenteil erreicht. Wer Sprit, Strom und Öl verteuert, vertieft die soziale Spaltung, weil das die Ärmeren und die untere Mittelschicht besonders trifft, die einen größeren Anteil ihres Gehalts für Heizung, Strom und das Auto ausgeben müssen."

Statt sich beständig auf die Konsumtionsebene einzuschießen, müsse man mehr darüber reden, dass wir anders produzieren müssen". Beispiele seien der immense Verschleiß von Geräten, die von Unternehmen so produziert werden, dass sie "schnell kaputtgehen und sich nicht reparieren lassen".

Außerdem müsse man über Globalisierung und Kapitalismus reden. Kapitalismus bedeute, "dass nach dem Kriterium gewirtschaftet wird, aus Geld mehr Geld zu machen". Dafür müsse nicht nur "immer mehr und möglichst billig" produziert werden, sondern auch "Raubbau an der Natur und exzessives Wachstum gehören zur DNA dieser Wirtschaftsweise". Im Zuge der Globalisierung seien Jahr für Jahr mehr riesige Containerschiffe unterwegs.

"Wer Menschen ein schlechtes Gewissen einredet, weil sie ein altes Dieselauto fahren – und gleichzeitig immer neue Freihandelsabkommen abschließt, ist ein Heuchler. Denn diese Abkommen sorgen dafür, dass immer mehr Produkte, die man hier produzieren und anbauen könnte, aus tausenden Kilometer Entfernung hierher transportiert werden: mit extrem hohen Emissionen."

Wagenknecht begrüßt die jugendliche Klimabewegung ausdrücklich. Aber es reiche nach ihrer Ansicht nicht aus, überwiegend auf "Fragen des Lifestyles" zu sehen. Und man dürfe nicht nur auf den akademischen Teil der Bevölkerung abzielen. Es gehe darum, "die weniger wohlhabende Hälfte der Bevölkerung" zu erreichen – "Menschen, die nie die Chance hatten, ein Gymnasium oder eine Hochschule zu besuchen". Manche dieser Menschen "wählen aus Verzweiflung rechts, weil sie das Gefühl haben, alle anderen haben sie im Stich gelassen". Genau für diese Menschen müsse linke Politik gemacht werden. Ansonsten ist sie eben "nicht links".

"Die Frage ist ja nicht, ob man über Klimaschutz und Gleichberechtigung redet, sondern wie. Wenn man Klimapolitik zur Lifestyle-Frage macht und vieles verteuern will, dann muss man sich nicht wundern, dass sich die abwenden, für die das Leben schon in den letzten Jahren immer schwerer geworden ist."

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