von Kani Tuyala
Das sich aktuell live und in Farbe abspielende Drama um Afghanistan ist geradezu beispiellos. Bei dem endgültigen Sieg der Taliban handelt es sich dabei nicht um eine Niederlage der genauso oft wie fälschlich zitierten "Internationalen Gemeinschaft", sondern um ein Fiasko epischen Ausmaßes für die Vereinigten Staaten und ihre engsten Verbündeten selbst.
Dabei schien der Sieg dem damaligen US-Präsidenten bereits zum Greifen nahe. Im Dezember 2001 gab George W. Bush zu Protokoll:
"Dank unseres Militärs, unserer Verbündeten und der tapferen Kämpfer in Afghanistan ist das Taliban-Regime am Ende."
Tatsächlich wurden die Taliban damals gestürzt. Und ganz offiziell ging es der damaligen US-Administration dabei auch um den vermeintlichen Aufbau "demokratischer Strukturen" ("nation building"). Doch der wahre, asymmetrische Krieg setzte dann vorhersehbar nach dem Sturz der Taliban ein. Und wer für sich in Anspruch nimmt, zumindest einen gewissen Geschichtssinn sein Eigen zu nennen, musste bei den Worten des George W. Bush sicherlich zweimal hinhören. "Tapfere Kämpfer"? Das Taliban-"Regime"? Die Begriffe waren und sind, wie auch dieses Beispiel illustrierte, je nach Interessenlage offensichtlich beliebig austauschbar.
Um eine mutmaßliche "sowjetische Marionettenregierung" in Afghanistan zu stürzen, griffen die USA Ende der 1970er Jahre auf Angehörige verschiedener afghanischer Volksstämme zurück. Die Guerilla-Gruppierungen, die als "Mudschahedin" bekannt wurden, galten dabei als heroische "Freiheitskämpfer".
Kenner der gepflegten Hollywood-Propaganda werden sich vielleicht noch an den populären Streifen aus dem Jahr 1988 erinnern, in denen ein gewisser Vietnam-Veteran namens John Rambo an der Seite der Mudschahedin in den Kampf gegen das "Reich des Bösen" zieht. Für die Mudschahedin handelte es sich "um einen heiligen Krieg", bei dem von den heute sicherlich als "Islamisten" bezeichneten "Rebellen" auf brutalste Methoden und Taktiken zurückgegriffen wurde. An "Modernisierung" und "Frauenrechten" hatten sie absolut keinen Bedarf. Im Gegenteil ging es ihnen darum, genau derlei "gottlose" Entwicklungen zu verhindern. In einem Artikel des Guardian aus dem Jahr 1999 heißt es:
"Amerikanische Beamte schätzen, dass zwischen 1985 und 1992 12.500 Ausländer in afghanischen Lagern, die die CIA mit aufgebaut hat, in Bombenbau, Sabotage und Stadtguerilla-Kriegsführung ausgebildet wurden."
Im Jahr1998 führte jedoch der US-Historiker William Blum ein Interview im Novel Observateur ins Feld, in dem das offizielle damalige und heute noch immer gängige Narrativ hinterfragt wird. So hielt der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates demzufolge in seinen Memoiren fest, dass die US-Geheimdienste bereits sechs Monate vor dem schließlich erfolgten Einmarsch der Sowjetunion im Dezember 1979 damit begannen, den Guerilla-Kämpfern der Mudschahedin finanziell, militärisch und logistisch unter die Arme zu greifen.
Im erwähnten Interview verweist die geopolitische graue Eminenz etlicher US-Regierungen, Zbigniew Brzeziński, darauf, dass die US-Geheimdienste mutmaßlich erst nach dem Eingreifen der Sowjetunion "offiziell" 1980 damit begannen, die Mudschahedin zu fördern. Brzeziński ergänzte:
"Die bis heute streng gehütete Realität ist jedoch eine völlig andere: Es war der 3. Juli 1979, als Präsident Carter die erste Direktive für geheime Hilfe an die Gegner des prosowjetischen Regimes in Kabul unterzeichnete."
Der Einmarsch sowjetischer Truppen sei in dem Sinne provoziert worden, als dass man die entsprechende Wahrscheinlichkeit "wissentlich erhöht" habe.
Aufgrund des geopolitischen Kurzzeitgedächtnisses in den Reihen der Verfechter von "Freiheit" und "Menschenrechten" gerät auch immer wieder in Vergessenheit, dass der Sprössling eines saudischen Baulöwen, Osama bin Laden, 1979 von Saudi-Arabien aus in Afghanistan eintraf, um sich an die Seite der US-geförderten Mudschahedin zu stellen und sich im Dschihad gegen die "gottlosen Russen" zu bewähren.
Einmal vor Ort, legte er den Grundstein für die berühmt-berüchtigte Bergfestung des Terrornetzwerks Al-Qaida in den unzugänglichen Bergregionen des Hindukusch.
"Osama bin Laden baute bei Chost tief in den Bergen des Hindukusch einen von der CIA finanzierten Tunnelkomplex mit Militärdepots, Ausbildungszentren und medizinischen Einrichtungen."
Die Al-Qaida (die Basis, das Fundament) wurde 1987 zur Unterstützung der gegen die Sowjetarmee kämpfenden Mudschahedin gegründet. Schließlich wandte sich Osama bin Laden gegen seine Washingtoner Schutzherren und wurde für die USA zur Ausgeburt des Bösen im "Krieg gegen den Terror".
Im Kampf um die "Freiheit" Afghanistans bediente man sich auch des berüchtigten Warlords Gulbuddin Hekmatyār und seiner Kämpfer der Hizb-i Islāmī (der Islamischen Partei), mit denen er zum Kopf der schlagkräftigsten Mudschahedin-Fraktion aufstieg. Doch ganz ohne wohlwollende Förderung ging es auch hier nicht. So handelte es sich auch bei Hekmatyār um einen "Verbündeten der CIA im Kampf gegen die Sowjetunion". Doch auch der pakistanische Geheimdienst (ISI) zog an der Seite der USA im Hintergrund die Fäden. Zudem war der Warlord als guter Freund von Osama bin Laden bekannt und war in seinen Methoden kaum weniger skrupellos und menschenverachtend.
Nachdem sich Hekmatyār in den 1990er Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg schließlich gegen seine ehemaligen Mudschahedin-Kameraden wandte, werfen schließlich die Taliban unter ihrem Kopf Mullah Umar den zwischenzeitlich zum "Heroinschmuggler" avancierten Hekmatyār im Jahr 1996 aus Afghanistan. Der Tod tausender Zivilisten soll auf das Konto des Top-Islamisten und seiner Islamischen Partei gegangen sein – wobei Hekmatyār bei der CIA mutmaßlich besonders hohes Ansehen genoss, da man ihm, aufgrund seines außerordentlichen Sadismus und seiner Unerbittlichkeit zutraute, den Kampf "über Afghanistan hinaus bis in die Sowjetunion zu tragen". Später versuchten die USA, sich des umtriebigen und längst unbequem und zum globalen Terroristen ausgerufenen ehemaligen "Freiheitskämpfers" durch einen Luftangriff zu entledigen.
Völlig wertfrei lässt sich konstatieren, dass es die ebenfalls radikal-islamischen Taliban waren, die das vor allem unter der Ägide der US-Administration angerichtete Chaos unter Kontrolle bekamen.
Die Folge der verdeckten Operationen gegen die keineswegs unbescholtene Regierung in Kabul, die zur militärischen Kampagne der Sowjetunion führte, war die Errichtung eines islamischen Gottesstaats in Afghanistan. Der mehr schlecht als recht ferngesteuerte Kampf der Mudschahedin gilt wiederum als Geburtsstunde des Terrornetzwerks Al-Qaida. Der Kreis des ewigen Krieges hat sich damit ein weiteres Mal geschlossen.
Während der Zeit der engen Zusammenarbeit zwischen US-Geheimdiensten und den Mudschahedin aller Couleur erreichte zudem die afghanische Opium-Produktion eine nie gekannte Blütezeit. Alfred McCoy, Professor für südostasiatische Geschichte an der University of Wisconsin erklärte:
"Wenn ihre lokalen Verbündeten in den Drogenhandel verwickelt waren, störte das [die] CIA nicht. Sie waren bereit, weiterhin mit Leuten zusammenzuarbeiten, die stark in den Drogenhandel verwickelt waren."
Nach Angaben des Cost of War Projects an der Brown University kostete das zwanzigjährige afghanische Abenteuer, das auch militärische Handlungen in Pakistan umfasste, den US-Steuerzahler satte 2,2 Billionen US-Dollar. Nicht eingerechnet sind die Kosten für die Versorgung kriegsversehrter Veteranen. 3.600 Soldaten der "westlichen Allianz" bezahlten mit ihrem Leben. Aufseiten der an den Kriegshandlungen unbeteiligten Zivilisten waren es demzufolge mehr als 71.000 Menschen die den Tod fanden. Insgesamt wird geschätzt, "dass 241.000 Menschen als direkte Folge des Krieges starben. Diese Zahlen umfassen nicht die Todesfälle durch Krankheiten, den Verlust des Zugangs zu Nahrung, Wasser, Infrastruktur und/oder andere indirekte Folgen des Krieges".
"Unser Land wurde befreit und die Mudschahedin haben in Afghanistan gesiegt."
Dieser Satz stammt nicht aus dem Jahr 1989, also dem Jahr, als die Sowjetsoldaten wieder aus Afghanistan abzogen. Er stammt demzufolge von einem Taliban nach der Übergabe der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die "Marionettenregierung" von Washingtons Gnaden an die radikalen Muslime. Für viele Afghanen stand die Regierung nur noch für ausufernde Korruption, Chaos und Plünderung – was auch den mutmaßlich unerwartet schnellen Vormarsch der Taliban in den letzten Wochen mit erklären kann.
Dass die USA den Krieg nicht gewinnen konnten, war der US-Regierung eigentlich "seit Langem" schmerzhaft bewusst geworden. Es gab nach Beginn der Invasion kein klar definiertes Ziel, und man tat "sich schwer, die Kräfte zu verstehen", die man zu bekämpfen vorgab. Die Parallelen zum Vietnam-Desaster sind dabei unübersehbar. So hieß es etwa im Intelligencer 2019:
"Trotz der Anzeichen, dass der Krieg zu einem schwarzen Loch geworden war, das Geld und Menschenleben verschlang, überschwemmten Beamte sowohl der Bush- als auch der Obama-Regierung Afghanistan mit Truppen und Ausrüstung (aid)."
Dabei stellt sich die Frage, inwiefern es bei militärischen Kampagnen wie dem Auftakt zum "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan darum geht, diese auch im klassischen Sinne zu "gewinnen". So besteht das Interesse des militärisch-industriellen-Komplexes ja gerade in möglichst nicht endenden oder nahtlos ineinander übergehenden Militäreinsätzen. Eine klare Strategie, ein definiertes Ziel des eigenen militärischen Einsatzes ist da nur zweitrangig.
Dabei haben die entsprechenden Interessengruppen offensichtlich leichtes Spiel, verfügen sie doch über ein solides und erstklassiges Lobbyisten-Netzwerk bis in allerhöchste Regierungskreise. Auch für Afghanistan erhielt man auf diese Weise "mühelos die nötige Unterstützung von Demokraten und Republikanern im Kongress".
Das Ergebnis sind wie so oft Hunderttausende von Toten und Vertriebenen, die dann als Flüchtlinge an die Pforten der Wertegemeinschaft klopfen. Das Nachsehen haben aber auch die Steuerzahler, die in der Regel Krieg ablehnen und dabei zusehen müssen, dass "zuhause" die Menschen verarmen, kein Geld für Gesundheit und Schulen da ist, während dennoch Billionen in immer neue Kriege fließen.
Jenseits der schon längst einsetzenden Umdeutung der Geschehnisse für die eigene Bevölkerung, stellt das afghanische Fiasko mit all den nun ausgestrahlten Bildern von unendlichem Leid, Zerstörung und Verzweiflung den Super-GAU für den Rest des Ansehens dar, den die transatlantische Gemeinschaft außenpolitisch noch besaß.
Dazu zählt am Ende nun auch der furchtbare Verrat an den afghanischen "Scouts", die ihr Leben zur Unterstützung der Invasions- und Besetzungstruppen aufs Spiel setzten und nun vor dem Nichts stehen und dann das Schlimmste befürchten - obgleich die Taliban zuletzt verkündeten, auch ihnen Amnestie gewähren zu wollen.
Am Dienstag kündigten die Taliban zudem an, zukünftig auch Frauen an der Regierung Afghanistans beteiligen zu wollen. Enamullah Samangani von der Taliban-Kulturkommission erklärte im afghanischen Staatsfernsehen: "Das islamische Emirat will nicht, dass Frauen zu Opfern werden".
Dem islamischen Recht entsprechend, sollten sie in der Regierung mitarbeiten. In diesem Zusammenhang zeigte sich der ehemalige Präsident des Bundesnachrichtendienst (BND) August Hanning am Montag überzeugt, dass von den Taliban nun ein wohl eher gemäßigtes Auftreten zu erwarten sei, denn auch sie hätten einen Modernisierungsprozess durchlaufen.
Bei all dem findet der Abzug aus Afghanistan allerdings womöglich nur vordergründig statt. So wurde etwa im April berichtet, dass die USA nach dem schmachvollen Rückzug wohl "höchstwahrscheinlich" auf eine "undurchsichtige Kombination aus geheimen Sondereinsatzkräften, Auftragnehmern des Pentagons und verdeckten Geheimdienstmitarbeitern" zurückgreifen werden. Vorgegebenes Ziel sei der weitere Kampf gegen Al-Qaida und/oder den Islamischen Staat (IS) – also gegen zwei Terror-Phänomene, die auf das eigene Wirken in der Region zurückgehen.
Bei seiner ersten Stellungnahme nach der faktischen Machtübernahme der Taliban erklärte US-Präsident Biden am Montag, die USA könnten Terrorgruppen wie Al-Qaida auch ohne eine permanente Militärpräsenz in einem Zielland effektiv bekämpfen. Das US-Militär zeige dies ja bereits in anderen Ländern wie etwa Somalia oder Jemen. Falls nötig, könne dies künftig auch in Afghanistan geschehen.
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