Hat die vierte Welle begonnen? – Die Medienkampagne läuft bereits

Laut den deutschen Mainstream-Medien läuft die vierte Welle bereits. Voll durchschlagen soll diese aber erst im Oktober – nach der Bundestagswahl. Widersprechende Meinungen finden kaum Raum und zur Not werden Plattitüden zu Argumenten: "Nach jedem Tal folgt ein Hoch."

von Mark Hadyniak

"Die vierte Welle hat begonnen", zumindest wenn es nach der Zeit geht. Zwar seien es "noch immer relativ wenige Menschen" mit einem positiven Corona-Befund – am 14. Juli, als der Artikel erschien, lag die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland bei 6,8 positiven Corona-Befunden auf 100.000 Einwohner –, dennoch steht für die Zeit fest:

"Die Tendenz ist klar steigend. Die vierte Welle, so sieht es aus, hat begonnen."

Mit dieser Meinung steht die Wochenzeitung aus dem Medienkonzern Holtzbrinck nicht allein. Seit Mitte letzter Woche läuft eine mediale Kampagne, mit der die "vierte Welle" in die Öffentlichkeit getragen wird.

Der Fernsehsender n-tv berichtet von einem "Stolpern" in die "vierte Welle". Die Stuttgarter Zeitung will wissen: "Die vierte Welle rollt bereits". Der Bayerische Rundfunk berichtet schon vorsorglich: "Was Sie über die vierte Corona-Welle wissen sollten". Die Tageszeitung B.Z. aus dem Hause Springer berichtet von zweistelligen Inzidenzen aus Berlin und fragt: "Rollt etwa die vierte Welle an?". Der Spiegel lässt fragen: "Geht Deutschland wieder steil?"

Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) ist sich am Donnerstag sicher: "Die vierte Welle geht los" und fragt am Freitag: "Wie gefährlich wird die vierte Welle?". Die Argumentation ist exemplarisch für die meisten Medienanbieter:

"Eindeutig steigend ist die Tendenz. Die Delta-Variante treibt die Zahl der Corona-Infektionen wie erwartet wieder nach oben – wenn auch auf niedrigem Niveau."

Wiederholung der Kampagne zur "dritten Welle"?

Die startende Medienkampagne erinnert an jene vor der "dritten Welle". Damals wie heute wurde eine Breitseite von nahezu allen deutschen Mainstream-Medien gefeuert, um die "dritte Welle" in die Öffentlichkeit zu tragen. Die damals verwendeten Mechanismen lassen sich in meinem Artikel von Ende Februar nachlesen.

Interessant ist, dass eine solche Medienkampagne nicht linear mit gleichbleibendem Druck vorangetrieben wird, sondern – wie ich am Beispiel von "Kindern als Pandemie-Treiber" aufgezeigt habe – eine Art Wellenbewegung mit Hoch- und Tiefphasen vollzieht. So ist es auch im Fall der "vierten Welle".

Vor dem aktuell vollzogenen medialen Rundumschlag gab es bereits Ende Juni eine Hochphase, in der die "vierte Welle" durch die Medien transportiert wurde. Damals titelte etwa die Welt: "Auf dem Weg in die vierte Welle". Das ZDF ließ fragen: "Alles klar für die vierte Welle?". Die FAZ schilderte die "Sorge vor der vierten Welle" und sah einen "Wettlauf mit der Delta-Variante". Während der WDR noch fragte, "Wie verhindern wir die vierte Welle?", konstatierte die Nachrichtenplattform nordbayern.de, die mit den Nürnberger Nachrichten assoziiert ist: "Die vierte Welle wird kommen – und nur das Impfen hilft gegen Corona." Die Süddeutsche Zeitung entfachte eine ganze Artikelreihe mit Beiträgen wie "Wie stark wird die vierte Welle?", "Vierte Welle: Wie blicken Sie auf den Herbst?" oder "Die vierte Welle im Gepäck?"

Nach Alpha nun Delta?

Eine weitere Parallele: Während die dritte Welle mit der britischen Mutante des Coronavirus (B.1.1.7, heute Alpha-Variante genannt) assoziiert wurde, wird die vierte Welle in Zusammenhang mit der Delta-Variante (B.1.617.2, ehemals indische Mutation) des Corona-Virus gebracht. Damals wurde behauptet, die Alpha-Variante sei tödlicher, könne sich schneller ausbreiten und zu schwereren Verläufen führen. Zwei Monate später wurde im Fachmagazin The Lancet Infectious Diseases eine Studie veröffentlicht, in der zwar "Hinweise auf eine erhöhte Übertragbarkeit" der Alpha-Variante gesehen werden. Allerdings gelang es den Wissenschaftlern nicht, einen Nachweis für eine höhere Sterblichkeit bei einer Infektion mit dieser Variante zu erbringen.

Derzeit wird auf vergleichbare Weise über die Delta-Variante spekuliert, ob sie "tödlicher" als andere Corona-Mutationen sei – so etwa beim Focus, bei RTL oder der B.Z. Was hilft es, wenn namhafte Experten, wie der Vorstandsvorsitzende der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, analysieren, dass die Delta-Variante zwar ansteckender sein könne, aber "nach heutigen Erkenntnissen wohl nicht wesentlich gefährlicher als die bisherigen Varianten" sei? Oder wenn der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Burkhard Rodeck, zu dem Schluss kommt, die Delta-Variante sei wahrscheinlich zu rund 60 Prozent ansteckender, allerdings, "was die Sterblichkeitsrate angeht, eher unterhalb der anderen Varianten anzusiedeln"? Diese Positionen passen nicht ins Bild der rollenden Medienkampagne. Sollten sie in einigen Monaten mit Studien untermauert werden, ist die Kampagne längst gelaufen.

Augenfällig ist hingegen ein Unterschied zwischen dritter und suggerierter vierter Welle: die Anzahl der positiven Corona-Befunde und damit die Höhe der Sieben-Tage-Inzidenz. Als die Medienkampagne zur dritten Welle Ende Februar ihren Lauf nahm, listete das Robert Koch-Institut (RKI) tägliche Neubefunde in Tausenden auf: am 15. Februar waren es 7.248, am 2. März schon 9.485. Die Sieben-Tage-Inzidenz stieg von 59 (15. Februar) auf 65 (2. März). Aktuell (Stand: 19. Juli) liegt die Inzidenz bundesweit bei 10,3 – einer von 10.000 Bundesbürgern ist betroffen –, es wurden 546 neue Corona-Befunde gezählt.

Vielleicht wird aus diesem Grund auch in den Mainstream-Medien eine Abkehr von der Inzidenz als Indikator für das Pandemie-Geschehen diskutiert? Das RND fragt: "Ist die Inzidenz überhaupt noch aussagekräftig?"

Wenn nicht sofort, dann im Oktober

Wenn sich eine vierte Welle aus den Zahlen noch nicht deutlich ablesen lässt, werden manche Medienanbieter kreativ. Das ZDF etwa ist sich sicher, dass "der Eindruck trügt", denn "seit zehn Tagen steigen die Infektionszahlen in Deutschland wieder – und zwar rasant". Da sich diese Rasanz nicht an den absoluten Zahlen festmachen lässt, zeigt das ZDF eine Kurve, in der die relative Zunahme von Tag zu Tag dargestellt wird – mit Anstiegen von sieben Prozent am 9. Juli bis 56,5 Prozent am 17. Juli. Die so konstruierte Kurve weist über die Höhepunkte im Januar, März und April hinaus. Das ZDF resümiert:

"Die Zahl der Neuinfektionen wächst so schnell wie seit Beginn der zweiten Welle im Oktober vergangenen Jahres nicht mehr."

Passend, um diese Argumentation zu stützen, erschien am 16. Juli eine Studie der Technischen Universität Berlin. In dieser wird der Anstieg der Inzidenzen als "beunruhigend" bezeichnet. Durch eine Modell-Rechnung kommen die Forscher zu dem Bild, dass sich eine neue Infektionswelle im Herbst abzeichnet. Das Modell ergebe "unter allen derzeit realistisch erscheinenden Bedingungen eine vierte Welle bei den Erwachsenen, welche mit der Verlagerung von Aktivitäten in Innenräume im Herbst verstärkt werden wird":

"Laut unseren Simulationen wird im Oktober ein exponentieller Anstieg bei den Krankenhauszahlen starten.

Falls die derzeitige Entwicklung anhält, wird dies sogar früher beginnen und sich im Oktober dann noch mal verstärken."

Die Wissenschaftler sind keine Epidemiologen oder Mediziner, sondern Statistiker, Informatiker, Meteorologen, Verkehrs- und Mobilitätsforscher – angeführt von dem Informatiker und theoretischen Physiker Kai Nagel. Das Forscherteam nutzt Mobilfunkdaten aus Berlin, um das Infektionsgeschehen zu modellieren und glaubt, daraus zum Beispiel ableiten zu können, dass die Schulen nach den Sommerferien nicht ohne Schutzmaßnahmen öffnen sollten, sondern Lüftungssysteme brauchen gemeinsam mit täglichen Schnelltests und Maskenpflicht bei Bedarf.

Die Forscher, vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) als "Pandemie-Modellierer" bezeichnet, gehen sogar so weit, zu sagen:

"Nur, wenn die Impfstoffe gegen Delta deutlich besser wirken als derzeit bekannt, oder wenn eine Impfquote von 95 Prozent erreicht wird, dann bleibt diese Welle in unseren Simulationen aus."

Diese Meinung passt ins Bild und wird daher von zahlreichen Mainstream-Medien aufgegriffen: Deutsche Welle, FAZ, Focus, RBB, RND, RTL, Spiegel, Tagesspiegel, ZDF und Zeit – nur um einige zu nennen. Kritisch hinterfragt wird diese Studie nicht – etwa welche Expertise zur Erforschung einer Pandemieentwicklung die Informatiker, Statistiker und Meteorologen haben. Ihr Modell des Pandemieverlaufs deckt sich vortrefflich mit der laufenden Medienkampagne. Und der Oktober als Ausgangspunkt einer neuen Welle ist ebenfalls passend – nach der Bundestagswahl am 26. September.

Epilog – Ein Glückskeks als Experte

In einer umfassenden Medienkampagne sollen möglichst viele Zielgruppen erreicht werden. Es wundert daher nicht, wenn auch ein scheinbar unpolitischer Medienanbieter wie das Jugendmagazin Bravo aus der Bauer Media Group mitmischt. Neben Tipps für die "Intimrasur für Mädchen und Jungs", Fragen zu Penis und Vulva und Informationen zum Thema Selbstbefriedigung, verspricht Dr. Sommer auch Antworten auf die Frage "Wann geht die vierte Welle der Corona-Pandemie los?". Die Begründung für den Start der vierten Welle ist besonders drollig:

"Nach jedem Tal folgt bei einer Welle wieder ein Hoch."

Ein Glückskeks-Spruch reicht aus, um bei den Jugendlichen für Impfungen, Maskenpflicht und Lockdowns zu werben:

"Noch immer gilt: eine Maske tragen, schützt auch gegen die Delta Variante.

Analysen zeigen: Ein Runterfahren des öffentlichen Lebens, kann eine Welle abflachen. Das könnte auch in Zukunft ein Mittel bleiben, die Pandemie einzudämmen. Noch ist nicht klar, ob mögliche zukünftige Lockdowns auch für vollständig Geimpfte gelten werden.

Außerdem wird allen Bürger*innen empfohlen, sich impfen zu lassen, da eine ausreichend geimpfte Bevölkerung als Wellenbrecher dienen kann."

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