von Bradley Blankenship
Die USA verließen den Flugplatz nach fast 20 Jahren. Sie stellten zunächst noch den Strom ab und flogen dann in die Dunkelheit – ohne den neuen afghanischen Kommandanten der Basis zu benachrichtigen. Der erfuhr vom Abflug der US-Amerikaner erst zufällig mehr als zwei Stunden später. So berichtete es die Nachrichtenagentur Associated Press unter Berufung auf afghanische Militärkreise.
Die US-Streitkräfte hinterließen rund 3,5 Millionen einzelne Gegenstände: Von Wasserflaschen über Telefone bis hin zu zivilen Fahrzeugen, von denen viele allerdings keine Zündschlüssel an Bord hatten. Berichten zufolge gingen die Lichter auf dem Areal abrupt aus, und es waren weit und breit keine Wachen mehr zu sehen – was von einer Heerschar von Plünderern als Signal betrachtet wurde, in die nunmehr verlassene Basis einzudringen. Anderen Berichten zufolge sitzen auf dem Areal des Flugplatzes Bagram noch etwa 5.000 Gefangene in Haft – viele von ihnen mutmaßliche Taliban-Aktivisten.
Nach fast zwei Jahrzehnten Besatzung ohne klare militärische Ziele zeigt dieser planlose Rückzug vom Hauptstützpunkt, von dem aus viele US-amerikanische und NATO-Operationen in Afghanistan starteten, dass die US-geführte Koalition nie einen klaren Plan für das Land hatte. Gleiches könnte man von vielen anderen Ländern sagen, die von westlichen Streitkräften besetzt sind.
Dies wird jedoch viele nicht überraschen. Tatsächlich brachte der Stabschef des ehemaligen Außenministers Colin Powell, Colonel Larry Wilkerson, der zum Zeitpunkt der Invasion Afghanistans an vielen Entscheidungen des Militärs beteiligt war, dieses Fehlen einer strategischen Linie in einer Rede im Jahr 2018 perfekt auf den Punkt.
Er argumentierte, dass die USA trotz gewisser strategischer Überlegungen im Pentagon keine wirklich klare Strategie in Afghanistan hätten. Eines der Beispiele dafür, die Wilkerson anführte, wäre eine Aufrechterhaltung einer Präsenz in Afghanistan, um das US-Militär für ein Eingreifen in Pakistan sprungbereit zu halten, sollte einmal die Bedrohung entstehen, dass dessen Nukleararsenal in die Hände von Militanten fallen sollte. Oder um Afghanistan als Operationsbasis gegen Chinas Projekt der neuen Seidenstraße, der Belt and Road Initiative, zu nutzen, um dem so auch militärisch Steine in den Weg zu legen. Oder etwa als Ausgangspunkt für amerikanische Geheimdienste, um von dort aus Spannungen in Chinas Autonomer Region Xinjiang bezüglich der dort lebenden Uiguren zu instrumentalisieren.
Es ist nicht bekannt, ob irgendeine dieser Überlegungen seit Wilkersons Abgang ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, aber die Antwort ist wahrscheinlich nicht so eindeutig – wie auch alles andere im Gewirr von Washingtons Bürokratie und weil so viele Regierungszweige beteiligt sind, von denen viele um Einfluss und Finanzen konkurrieren.
Nehmen wir das Beispiel Syrien, um diesen Punkt zu veranschaulichen: Im Frühjahr 2016 tauchten Berichte auf, dass vom Pentagon unterstützte kurdische Milizen gegen die von der CIA unterstützten Rebellen kämpften, was Washington in Bezug auf die US-Außenpolitik in Bezug auf Syrien total in Verlegenheit brachte. Diese Situation hat offenbart, welch ein Durcheinander im nationalen Sicherheitsapparat der USA herrscht, mit seinen verschiedenen Diensten, die alle unterschiedliche Ziele verfolgen.
Zum Beispiel wollte der eine Dienst, die CIA, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad stürzen, während ein anderer, das Pentagon, den islamischen Staat (IS) bekämpfen wollte. Diese beiden Ziele widersprachen sich, denn al-Assad war der Hauptgegner des IS. Und tatsächlich machte das Ziel der CIA, ihn möglichst zu stürzen, überhaupt erst das zweite Ziel möglich, da die CIA selbst zunächst die militante Opposition gegen die Assad-Regierung bewaffnet hatte, aus deren Schoss sich später der IS formierte.
In ähnlicher Weise ist vermutlich das Verstehen der Besetzung Afghanistans durch die USA und die NATO genauso kompliziert, wenn nicht sogar noch komplizierter, denn es könnte mehrere Erklärungen dafür geben, warum sie so lange dauerte. Ein offensichtlicher Grund, der auch als Grund für den Protest einiger NATO-Mitglieder gegen den Rückzug der USA angesehen werden könnte, ist die Tatsache, dass Afghanistan quasi als Labor für die Neuentwicklung von Waffen diente.
Natürlich werden Kriege oft für solche Zwecke geführt. Man muss sich nur das Interview von Sacha Baron Cohen mit dem ehemalige Vizepräsident Dick Cheney in der Sendung "Who Is America?" ansehen, um zu verstehen, warum er über den ersten Irakkrieg von seinem "Lieblingskrieg" sprach, als die USA ihre neuen experimentellen Waffen zum Einsatz bringen konnten, während die globale Macht der ehemaligen Sowjetunion gerade am Schwinden war.
In Afghanistan scheinen die Waffenproduzenten weltweit das Fehlen klarer strategischer Ziele dankbar auszunutzen, um ihre Waffen weiter zu entwickeln. Tschechien zum Beispiel – ein europäisches NATO-Mitglied, aber keineswegs ein globaler militärischer Akteur – war überraschenderweise einer der besonders enthusiastischen Unterstützer des Krieges in Afghanistan.
Präsident Miloš Zeman gehörte immer wieder zu den führenden Kritikern eines US-Abzugs und hat seine Meinungsverschiedenheit gegenüber hochrangigen US-Beamten mehrfach und öffentlich deutlich gemacht. Diese Hardliner-Position eines Landes mit wenig oder gar keinem strategischen Interesse an Zentralasien mag verwirrend erscheinen, bekommt aber einen Sinn, wenn man bedenkt, dass Tschechiens Wirtschaft seit geraumer Zeit von der Schwerindustrie abhängig ist – vor allem vom Fahrzeugbau und der Rüstungsindustrie, und zwar mit einem wachsenden Verteidigungssektor.
Tatsächlich genehmigte die tschechische Regierung vor wenigen Monaten die Schaffung einer Agentur für zwischenstaatliche Verteidigungskooperation, die den tschechischen Unternehmen beim Verkauf ihrer Waffen auf der ganzen Welt helfen soll, ganz nach dem Vorbild ähnlicher Agenturen in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Israel. Vor diesem Hintergrund kann nicht ausgeschlossen werden, dass das starke Engagement in Prag für diesen "ewigen Krieg" von seiner Rüstungsindustrie vorangetrieben wurde.
Natürlich ist dies nicht der einzige Teil der Gleichung – und wir werden vielleicht nie das gesamte strategische Kalkül hinter dieser fast 20-jährigen Besatzung erfahren, die im Interesse des globalen Friedens und der Sicherheit keinerlei greifbare Ergebnisse brachte. Stattdessen bleibt uns nach Jahrzehnten des Todes und der Zerstörung nur noch der Rückzug der USA und ihrer Verbündeten im Gedächtnis – auf eine Weise, die anscheinend von einem Artikel in der Satirezeitschrift "The Onion" inspiriert wurde, der den prophetischen Titel trug: "Die USA schleichen mitten in der Nacht leise aus Afghanistan."
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Übersetzung aus dem Englischen. Bradley Blankenship ist ein in Prag lebender amerikanischer Journalist, Kolumnist und politischer Kommentator. Er hat eine Kolumne bei CGTN und ist freiberuflicher Reporter für internationale Nachrichtenagenturen, darunter die Nachrichtenagentur Xinhua. Er twittert auf @BradBlank
Mehr zum Thema - Afghanistan: Taliban greifen erstmals seit Abzug der US-Truppen eine Provinzhauptstadt an