von Dagmar Henn
Propaganda begreift man am besten am lebenden Beispiel, und gerade lässt sich diese aufs Feinste studieren – an der deutschen Berichterstattung über die Rede des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping zum 100. Jahrestag der Gründung der KP Chinas. Aus einer Rede, die über eine Stunde dauerte und deren Niederschrift elf Seiten lang ist, werden überall dieselben drei Sätze zitiert, und das ohne den erforderlichen Zusammenhang.
Natürlich ist es billiger und weniger arbeitsintensiv, nur drei Sätze aus einer Agenturmeldung zu kopieren, statt die komplette Rede selbst zu lesen – sofern nicht gleich die Meldung selbst ganz kopiert wird. Und den Kontext einer Rede zu begreifen, erfordert manchmal ein wenig historisches Hintergrundwissen, das man ebenfalls nicht immer voraussetzen kann.
Xi jedenfalls hat den entscheidenden Hintergrund für die Aussagen, die ihm hierzulande als aggressiv ausgelegt werden, in der Rede selbst noch einmal ins Gedächtnis gerufen: "Nach dem Opiumkrieg von 1840 wurde China schrittweise auf eine halbkoloniale, halbfeudale Gesellschaft reduziert und erlitt schwerere Verheerungen als jemals zuvor. Das Land erlitt eine enorme Erniedrigung, die Menschen wurden großem Schmerz ausgesetzt, und die chinesische Zivilisation wurde in die Finsternis gestoßen."
Wer es weniger poetisch ausdrücken will, spricht von den zerstörerischen Folgen des Opiumhandels, den mehrfachen Überfällen durch westliche Mächte, dem Zerfall der staatlichen Struktur, einer verbreiteten Opiumsucht, die in manchen Regionen ein Viertel der Bevölkerung erfasste, allgegenwärtiger Kriminalität und Korruption und als Sahnehäubchen obendrauf dem Überfall durch Japan begleitet von Massakern an der chinesischen Bevölkerung.
Das war der Ausgangspunkt, an dem sich China im Jahr 1949 nach dem Sieg der Volksbefreiungsarmee befunden hatte. Inzwischen wurde offiziell verkündet, dass es im ganzen Land, immerhin dem bevölkerungsreichsten der Erde, keine absolute Armut mehr gibt. Diese Bilanz ist durchaus beeindruckend, da muss man noch nicht einmal den Vergleich zu Indien ziehen, das damals etwas bessere Ausgangsvoraussetzungen hatte.
Und ja, dieses Ergebnis ist die Leistung der KP Chinas und nicht europäischer Entwicklungshelfer oder Kolonialmächte. Das ist eine nüchterne historische Tatsache, und man könnte sie einfach anerkennen.
Die sehr realen und folgenreichen "100 Jahre der Erniedrigung" nach 1840 haben natürlich etwas damit zu tun, dass Xi die Fähigkeit Chinas betont, sich zu verteidigen. Was macht die Westdeutsche Allgemeine daraus? "Präsident Xi wendet sich mit brachialen Worten an die USA".
Die Referenz Xis auf die Jahrzehnte, in denen China der Spielball fremder Mächte war, bezeichnet sie als "Opfer-Mythos". Und dann macht sie aus Sätzen, die im Grunde nur besagen: Wir unterwerfen niemanden und lassen uns auch nicht unterwerfen, und in denen Xi mit der Metapher der Großen Mauer aus Stahl ein völlig defensives Bild nutzt, selbst wenn sich mögliche Angreifer daran die Köpfe einrennen, ein "Wer dies wage, dem würde 'an der Großen Mauer aus Stahl, geschmiedet von 1,4 Milliarden, der Kopf blutig geschlagen'."
In der offiziellen englischen Übersetzung ist an dieser Stelle die Rede von einem Kollisionskurs mit der Mauer; was schlicht besagt, der Angreifer fügt sich den Schaden selbst zu. Es gibt keine schlagenden Chinesen, und schon gar kein Blut.
Weiter mit der WAZ. Es ist ebendiese Passage, die sie als "offensichtliche Drohung an die USA" verbucht. Das ist ein eigenartiges Verständnis von Drohung. Im normalen Sprachgebrauch ist der Satz "Ich schlage dich" eine Drohung, aber nicht der Satz "Wenn du mich schlägst, dann ..." Denn bei Letzterem ist doch klar, dass der andere der Aggressor ist.
Der Spiegel treibt mit diesen Sätzen das gleiche Spiel und leitet sie, damit der Leser gleich weiß, wohin die Reise geht, mit der Bemerkung ein, der Staatspräsident verpacke seine Drohungen in teils bemerkenswerte Metaphern.
Der Tagesspiegel, der ansonsten schlicht die dpa-Meldung kopiert, erklärt gleich in der Überschrift: "Präsident Xi Jinping warnt vor 'Großer Mauer aus Stahl'".
Die Tagesschau subsumiert diese wenigen Sätze unter "nationalistische Töne" und nutzt ebenfalls eine möglichst martialische Formulierung: ein "Blutvergießen an einer Großen Mauer aus Stahl". Und die bösen Chinesen hätten darauf noch "besonders großen Jubel und Applaus" gespendet.
Das Handelsblatt findet die ganze Szenerie so noch zu langweilig. Bei ihm "schwört" Xi "das Volk gegen 'ausländische Mächte' ein" und lässt ihn, der – das kann man bei CGTN überprüfen – die ganze Zeit ruhig und beherrscht gesprochen hat, immer wieder "rufen".
Ja, schon der Ort der Rede stößt ihnen allen sauer auf. Sie fühlen sich an Maos Proklamation der Volksrepublik erinnert. Beim Handelsblatt wird die Erinnerung so übermächtig, dass aus dem grauen Anzug, den Xi trägt, gleich ein Mao-Anzug mit Stehkragen wird, obwohl der nicht stehende Kragen auf jeder Aufnahme deutlich zu sehen ist. Und schließt daraus messerscharf: "Xi sticht hervor, er ist der Auserwählte."
Keine Überraschung, dass mit seinen Sätzen zu Taiwan in etwa das Gleiche passiert ist. Der Satz, in dem von friedlicher Wiedervereinigung die Rede ist, wird unterschlagen; stattdessen wird die Formulierung von der Zerschlagung der Bestrebungen zur Unabhängigkeit Taiwans zitiert, meist ohne dabei zu erwähnen, dass das durch die Festlandchinesen und die Taiwaner gemeinsam geschehen soll. In diesem Zusammenhang ist auch wieder das Handelsblatt besonders fantasievoll; es erwähnt, Taiwan habe nie der 1949 neu gegründeten Volksrepublik China angehört ... Nun, die DDR hat ebenfalls nie der BRD angehört; trotzdem soll das eine Wiedervereinigung gewesen sein.
Selbstverständlich können jene, die Xi in seiner Rede mit den scheinheiligen Predigern gemeint hat, die glauben, sie hätten das Recht, China zu belehren, es auch in diesem Zusammenhang nicht lassen. Fast überall wird erwähnt, in Hongkong sei eine Demonstration am heutigen Tag wegen der Pandemie verboten. Und dann wird hinzugefügt, Kritiker sähen darin einen Vorwand.
Echt? Die Chinesen verbieten EINE Demonstration? Wegen Corona? Das ist ja unfassbar diktatorisch, das würde bei uns nie ... Moment ... Entschuldigung, doch ... Nein, nicht nur eine ... Aber trotzdem, das sind die Chinesen. Da muss das böse politische Gründe haben.
Die dpa-Meldung überschlägt sich geradezu als scheinheiliger Prediger, wenn auch in Kurzfassung: "Das Jubiläum der Partei wird überschattet von ausländischer Kritik an Chinas hartem Kurs in Hongkong, Menschenrechtsverstößen, unfairen Handelspraktiken, militärischen Muskelspielen gegenüber Taiwan oder in Territorialstreitigkeiten unter anderem im Südchinesischen Meer." Überschattet? Weil alle 1,4 Milliarden Chinesen täglich die Westpresse lesen und deshalb ganz erschüttert sind über diese vielen Vorwürfe, angesichts derer solche Lappalien wie die Beseitigung der Armut völlig verschwinden?
Die WAZ verwickelt sich bei ihren Vorwürfen in Widersprüche: Da wird einerseits der chinesischen Staatsführung vorgeworfen, sie habe "ihre alte diplomatische Maxime der Zurückhaltung durch einen überselbstbewussten Patriotismus ausgetauscht", aber andererseits soll die Partei "Paranoia und Verunsicherung (...) aus allen Poren" aussenden (sic!).
Die völlige Verkehrung der Geschichte schafft aber wieder einmal die Tagesschau. Denn die chinesischen Kommunisten sollten doch, so der Kommentar, besser in sich gehen und ihre Sünden aufarbeiten, statt das Jahrhundert zu feiern – "Jubelstimmung statt Aufarbeitung". Und der Bericht über die Feier wird mit dem Zitat eines chinesischen Politologen garniert, der gerne den Stichwortgeber für Westmedien macht: "In den vergangenen Jahren habe sich die Kommunistische Partei Chinas zu einer extrem nationalistischen und faschistoiden Partei entwickelt, sagt der Politologe Wu Qiang."
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