Ein Kommentar von Karin Kneissl
Mit der Devise "America is back" machte sich US-Präsident Joe Biden Mitte Juni auf den außenpolitischen Weg nach Europa, traf sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Genf und konnte davor in den NATO-Gremien die Beziehungen mit der Türkei auffrischen, dem Land mit der zweitgrößten Armee in der Militärallianz. Recht zufrieden kehrte Biden nach Washington zurück, denn im Großen und Ganzen galt für ihn: "Mission accomplished".
Zwei Wochen später hielten die 27 Staats- und Regierungschefs ihren Europäischen Rat ab. Es handelt sich um das wichtigste Entscheidungsgremium der Europäischen Union, die noch immer zwischenstaatlich funktioniert. Für die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel war es die letzte Ratssitzung. Ein europäisches Vermächtnis kann Merkel, die seit über 15 Jahren an der Spitze der wichtigsten Volkswirtschaft der EU steht, vorerst nicht hinterlassen.
Schlagzeilen statt diplomatischem Handwerk
Für zwei Themen setzte sich Merkel mit all ihrer politischen Autorität ein und musste herbe Rückschläge einstecken. Erstens wollte sie einen Neubeginn zwischen der EU und Russland, den mittel- und osteuropäische Mitglieder aber ablehnen. Der deutsch-französische Vorschlag eines solchen Dialogs mit Russland wurde abgeschmettert. Ein derart wichtiges Vorhaben sollte umfassend hinter den Kulissen in Abstimmung mit allen Betroffenen vorbereitet und nicht als Überraschung zum Frühstück am Tag des Ratstreffens serviert werden.
Das Ergebnis ist bedauerlich. Für derartige Initiativen von Staatschefs gibt es den diplomatischen Stab in den Außenministerien. Konkrete Weisungen und solide Vorbereitungen über die Botschaften wären erforderlich gewesen, um einen Dialog zwischen der EU und Russland erfolgreich zu organisieren. So aber handelte sich das deutsch-französische Tandem eine heftige Abfuhr ein. Außenpolitik und Diplomatie lassen sich wie vieles andere nicht per Schlagzeile gestalten, sondern erfordern harte Arbeit.
Vielmehr soll nun ein Katalog "der Eindämmung und des Pushback" abgearbeitet werden, den der für die EU-Außenpolitik zuständige Kommissar Josep Borrell just am Tag des Genfer Treffens der Präsidenten Russlands und der USA in Brüssel veröffentlichte. Ein solcher Weg klingt mehr nach Sackgasse denn nach dringend erforderlichen neuen Wegen. Die seit 31. Juli 2014 verhängten EU-Sanktionen wurden für weitere sechs Monate verlängert. "Im Westen nichts Neues" – so ließe sich in Anlehnung an den Roman von Erich Maria Remarque das Kommuniqué des Ratstreffens resümieren, wie ich dies bereits an anderer Stelle zum Thema geschrieben hatte.
Die Türkei und die Migrationsbrille
Darüber hinaus bemüht sich die Kanzlerin konsequent um ein pragmatisches Verhältnis zwischen der Türkei und der EU. Eine Entspannung im östlichen Mittelmeer, wo es neben Erdgasförderprojekten auch um alte und neue Grenzdispute geht, zeichnet sich ab. Der Brüsseler Blick auf die Türkei erfolgt ausschließlich durch die Migrationsbrille. Alle anderen Themen wie Zollunion, Kooperationen oder die Grundsatzfrage des Verhältnisses zwischen der Türkei und der EU müssen sich diesem unterordnen.
Eine solche Sichtweise engt das Gesamtbild ein. Weder wird diese Migrationsoptik der internationalen Politik gerecht, noch trägt sie dazu bei, die vielen Ursachen der Migration zu beseitigen. Der gemeinsame Nenner der EU ist der, dass die Türkei eine Art Puffer für das unlösbare Dossier Migration ist. Seit der Schaffung der euro-mediterranen Partnerschaft im Jahr 1995 diskutieren die EU-Staaten über dieses Thema, doch erreicht wurde bislang nichts.
Merkel hatte letztlich einsehen müssen, dass im günstigsten Fall bilaterale oder trilaterale Verträge über die Rückführung illegaler Migranten möglich sind. Eine gemeinsame Koordination funktioniert nicht. Hieran hat die deutsche Politik aber spätestens seit Herbst 2015 einen konkreten Anteil. Indem die Türkei in Migrationsfragen seit dem Jahr 2016 dazwischengeschaltet wird, lässt sich aus EU-Warte das Thema verwalten – irgendwie im Sinne eines Durchwurschtelns.
Bilateral oder doch multilateral
Welche Form der Diplomatie zukunftsweisend ist – die bilaterale oder eher die multilaterale –, ist eine altbekannte Kontroverse. Es handelt sich um mehr als eine akademische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Denkschulen. Die bilaterale Diplomatie ist eine klassische Form der Beziehungen zwischen zwei Staaten. Multilaterale Verhandlungen, wie wir sie aus den Gremien der UNO und anderer internationaler Organisationen kennen, sind jüngeren Datums. Doch die großen Konferenzen vergangener Jahrhunderte, wie der Westfälische Frieden 1648 oder der Wiener Kongress 1814, waren deren Vorläufer.
Im außenpolitischen Alltag zeigt sich wiederholt, dass diese beiden Formen sich nicht im Sinne eines Entweder-oder ausschließen, sondern einander ergänzen. Wäre die bilaterale Schiene bereits obsolet, dann müssten auch die bilateralen Botschaften in den 27 Mitgliedsstaaten der EU geschlossen werden. Gerade in Vorbereitung gemeinsamer Positionen erweisen sich diese traditionellen zwischenstaatlichen Kanäle als unentbehrlich.
Die interne Zersplitterung in der EU schreitet aber spätestens seit der Finanzkrise und der Rettungspakete voran. Zum Nord-Süd-Graben kam mit der Migrationskrise im Jahr 2015 der Ost-West-Graben, der sich gegenwärtig als ein noch viel tieferer erweist. Fast möchte man meinen, die Diplomatie versage auf allen Linien und es verbleibe lediglich eine emotionsgeladene mediale Auseinandersetzung. Die EU ist wieder ausreichend mit sich selbst beschäftigt – und wenn es nur um ein Gesetz über den Umgang mit Homosexualität und Transsexualität im Schulunterricht in Ungarn geht. Die großen außenpolitischen Themen bleiben auf der Strecke.
Die Türkei und Russland vertiefen ihre bilaterale Kooperation
Umso interessanter ist dann auch, wie dynamisch die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Russland allen geopolitischen Unstimmigkeiten zum Trotz vorankommen. Nachdem die EU im Frühjahr 2014 den Bau der Erdgaspipeline South Stream wegen Fragen des Wettbewerbsrechts abgesagt hatte, folgte einige Monate später der Plan einer direkten Verbindung von Russland in die Türkei.
Russlands Außenminister Sergei Lawrow und sein türkischer Amtskollege Mevlüt Çavuşoğlu trafen sich kürzlich in Antalya, dem Reiseziel Nummer eins unter russischen Touristen in der Türkei.
Vor wenigen Tagen waren Dutzende Staatschefs und Außenminister beim Antalya Diplomacy Forum zu Gast. An der Energiedebatte des Forums habe ich teilgenommen und wie bereits zuvor beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum Anfang Juni mit Staunen erlebt, wie professionell Konferenzen auch in Zeiten der Pandemie durchgeführt werden, ohne dass zwischenmenschliche Begegnungen zu kurz kommen. Wer meint, die "Zoom-Diplomatie" werde nun die nächste große Ära in der internationalen Politik einläuten, hat die Diplomatie nicht verstanden.
Umso relevanter ist daher, was die russische und auch die türkische Diplomatie bearbeiten und gestalten. Die beiden Regierungen tun dies sowohl auf bilateraler Ebene als auch in multilateralen Gremien, ob bei den Astana-Konferenzen zur Lage in Syrien oder in den vielen regionalen Formaten zu Eurasien und Asien. Lawrows kürzlich veröffentlichter Essay, der Grundsatzfragen des Völkerrechts und der multipolaren Konstellation der Weltpolitik behandelt, ist ein lesenswertes Puzzleteil in einem größeren Gefüge. Ob bilateral oder multilateral, auf und zwischen den Konferenzen in Sankt Petersburg und Antalya tut sich mehr, als in Brüssel wahrgenommen wird.
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Die ehemalige Außenministerin von Österreich, Dr. Karin Kneissl, gab im Juni 2020 ihr Buch "Diplomatie Macht Geschichte – Die Kunst des Dialogs in schwierigen Zeiten" (Olms Verlag, Hildesheim) heraus. Die wesentliche Aussage lautet: Diplomatie ist Dialog unter allen Umständen.
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