von Tom Fowdy
Es überrascht niemanden, dass der schnelle Rückzug der USA aus Afghanistan zu einem massiven Vormarsch der Taliban geführt hat, die innerhalb weniger Wochen Hunderte von Provinzen überrannt haben und weiterhin Territorium erobern, ländliche Gebiete einnehmen und die großen Städte umzingeln. Das Ende des stagnierenden und anscheinend sinnlosen Konflikts ist natürlich begrüßenswert. Die Dynamik der Taliban wurde trotz ihrer militanten Ideologie vorrangig immer vom Wunsch getragen, die ausländischen Invasoren aus ihrem Land zu vertreiben, das die letzten 40 Jahre in einem Zustand des Ruins und der Verzweiflung verbracht hat.
Während Joe Biden kürzlich erklärte, dass er sich wünsche, Afghanistan "möge über seine eigene Zukunft entscheiden", muss wohl kaum eine Entscheidung getroffen werden, denn ob es jemand mag oder nicht, das Ergebnis ist unvermeidlich. Die Taliban übernehmen wieder mit Gewalt die Kontrolle und werden diese behalten, selbst wenn die Friedensgespräche erfolgreich sein sollten, und sie werden ein untrennbarer Bestandteil der Zukunft dieses Landes sein. Was kann und sollte in diesem Fall in Bezug auf Afghanistan getan werden? Wird die Welt ein neues, von den Taliban geführtes "islamisches Emirat" akzeptieren? Manche mögen sich mit Schrecken an die Zeit vor 20 Jahren erinnern, als Afghanistan unter den Taliban vorgeworfen wurde, Osama bin Laden und Al-Qaida zu beherbergen, die man mit dem 11. September in Verbindung brachte. Versuche, die Taliban zurückzudrängen, waren jedoch völlig erfolglos und haben auf allen Seiten einen hohen Tribut gefordert.
Jeder Fortschritt in der Zukunft dieses Landes muss sich letztendlich der Realität stellen und anerkennen, dass es nicht möglich ist, die Taliban loszuwerden. Und wenn es nicht gelang, sie in 20 Jahren NATO-Intervention zurückdrängen, dann wird sie nichts zurückdrängen. Die beteiligten regionalen Parteien, darunter China, Russland, Indien und Pakistan, müssen bereit sein, eine Reihe von Strategien und Eventualitäten für dieses Szenario zu schaffen. Die Geschichte kann sich nicht wiederholen, aber natürlich wird sie ein politischer, ideologischer und strategischer Paradigmenwechsel für Zentral- und Südasien sein. Wer sind die Taliban? Was wollen sie?
Sie sind eine Gruppierung, die vom Großteil der Welt als extremistisch und gefährlich betrachtet wird. Wir kennen sie als Militante und Fantasten, und sie haben eine schlechte Bilanz im Umgang mit Frauen. Aber sind sie wirklich verrückte Islamisten, die genauso wie ISIS auf eine gewalttätige und zerstörerische Welteroberung versessen sind? Nicht ganz. Die Taliban sind dogmatisch und furchterregend, aber dennoch rational, mit engen, spezifischen Zielen. Ihre Ideologie wird von einem religiösen Nationalismus untermauert, der versucht, den Islamismus als einigende Kraft in einem Land zu nutzen, das stark von immensen Stammes- und ethnischen Spaltungen heimgesucht wurde – ein Problem, mit dem viele postkoloniale Staaten konfrontiert sind, einige mehr, andere weniger.
Die scheinbar dogmatische und aggressive Einstellung der Taliban wird durch die ständige Hand fremder Kräfte, die ihr Land untergraben, noch verschärft, wodurch Afghanistan seiner Stabilität und Legitimität beraubt wurde. Sie haben NATO-Truppen und Diplomaten ins Visier genommen, aber sie sind nicht irrational darauf versessen, jeden Ausländer zu töten. Ich habe Geschichten von Leuten gehört, die in nichtmilitärischer oder politischer Funktion durch Afghanistan reisten und zu ihrer eigenen Sicherheit lokale Kleidung trugen. Mir wurde gesagt, dass Taliban-Mitglieder tatsächlich freundlich zu jenen waren, die Bereitschaft zeigten, Afghanistan auf nicht feindliche Weise zu umarmen.
Die USA betrachten das Land natürlich seit jeher mit einem Tunnelblick: Das Erbe bin Ladens hat in Washington den Glauben hinterlassen, dass die Taliban davon besessen sind, Terrorismus in die ganze Welt zu exportieren. Falsch: Sie wollen nur ihr Land zurück. Und ob es uns gefällt oder nicht, die Taliban scheinen dazu bestimmt zu sein, es zurückzubekommen – was also ist die Antwort? Die Strategie für das Management eines neuen Afghanistan unter den Taliban sollte wirtschaftsorientiert sein, nicht militärisch. Es geht darum, einem Land die Chance zu geben, aus der Spirale von endlosem Krieg und Zerstörung herauszukommen, etwas, das etwa drei Generationen in diesem Land erleben mussten.
Hier könnte China eine Rolle spielen. Während sich die pakistanischen Taliban und Belutschistan-Islamisten gegen Peking stellen, könnte eine Taliban-Regierung in Kabul mehr als bereit sein, die Beziehungen zu China zu erleichtern, einfach aus der pragmatischen Erkenntnis heraus, dass ihr Land dringend wirtschaftliche Hilfe braucht. Und statt einer aufständischen Macht werden die Taliban jetzt die Status-quo-Macht sein.
Dementsprechend würde ein Afghanistan nach den USA gut in Chinas Belt and Road Initiative (BRI) passen. Nicht nur, weil das Land Infrastruktur braucht, sondern weil das Land ein entscheidendes Drehkreuz zwischen Süd-, West-, Zentral- und Ostasien ist. Als Binnenstaat hängt sein Wohlstand davon ab, dass durchgehende Straßen und Eisenbahnlinien gebaut werden können, was in den letzten 20 Jahren völlig unmöglich war. Afghanistan hat das Potenzial, ein Zentrum für Handel und Gewerbe zu werden. Peking kann dies unterstützen, aber auch andere Staaten, darunter Russland und Indien, ebenso wie Länder im Nahen Osten, die einem Taliban-Afghanistan gegenüber immer freundlich gesinnt waren, wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Wohlstand kann letztendlich der Schlüssel zur Schaffung von Stabilität im Land sein. Wenn die Taliban wirtschaftlich zufrieden sind, müssen sie weder Gewalt herbeiführen noch einen Opiumhandel betreiben. Viele der Probleme des Landes sind auf die einfache Realität zurückzuführen, dass das vom Westen unterstützte Regime in Kabul korrupt ist und es an Stabilität mangelt. Im Gegensatz dazu haben die Taliban echte Legitimität, weshalb die USA sie – im Gegensatz zu ISIS – einfach nicht wegbomben konnten.
Solange Afghanistan ein verarmtes und zerbrochenes Land ist, das vom Krieg heimgesucht wird, werden die Taliban nie verschwinden. Es muss einen neuen Fahrplan für den Umgang mit den Taliban geben, der keinen Krieg beinhaltet. Die Amerikaner waren während ihrer ganzen Zeit dort völlig unfähig, die intensiven sozialen und wirtschaftlichen Realitäten des Landes zu verstehen, und verbreiteten den Unsinn, der Kampf dort sei nichts anderes als einer der Demokratie gegen den Terrorismus. Afghanistans Leiden haben den Islamismus seit Langem zu einer harten, aber einigenden Kraft gemacht. Dem entgegenzuwirken ist ein Rohrkrepierer, und deshalb haben die letzten 20 Jahre nichts gebracht. Jetzt ist es an der Zeit, das anzuerkennen und damit zu arbeiten, sei es auf wirtschaftlicher oder sicherheitstechnischer Ebene. Die Kommentare von Joe Biden sind bedeutungslos, weil er aus dem Spiel ist. Es ist an der Zeit, das gescheiterte US-Experiment in Afghanistan auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu werfen und abzuwarten, was andere sich einfallen lassen.
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Übersetzt aus dem Englischen. Tom Fowdy ist ein britischer Autor und Analytiker für Politik und internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Ostasien.