US-Mainstreammedien wachen auf: Radikalen Lobby-Gruppen geht kein Russlandhass weit genug

Der politische Diskurs der USA hat sich so radikalisiert, dass sogar der Mainstream dies zu spüren bekommt – vor allem beim Thema Russland. Von echter Einsicht oder gar Tauwetter-Launen ist das US-Establishment indes noch immer meilenweit entfernt.

Kommentar von Paul Robinson

Mit die beliebteste Taktik derjenigen, die Russland bei jedem Anlass kritisieren wollen, ist das Verleumden nuancierterer Stimmen als "Werkzeuge des Kreml" oder schlimmer. Ein jüngster offener Brief könnte das erste Zeichen einer Gegenreaktion sein. Doch warum erst jetzt?

In einem von über hundert US-amerikanischen Akademikern und ehemaligen Regierungsbeamten unterzeichneten Aufruf wird gegen die Behandlung des Experten Matthew Rojansky protestiert, der kürzlich vom Weißen Haus für einen Posten im Nationalen Sicherheitsrat der USA in Betracht gezogen wurde: Rojansky zog mit seinen vergleichsweise gemäßigten Ansichten zur Osteuropapolitik den Zorn hartgesottener Anti-Russland-Aktivisten auf sich, die sich selbst im Auftrag sahen, eine unerbittliche Kampagne gegen seine Ernennung zu starten.

Dabei war auch die Lobbygruppe Ukrainian Congress Committee of America (zu Deutsch etwa: Ukrainisches Kongress-Komitee Amerikas): Diese verfasste  einen offenen Brief an US-Präsident Joe Biden mit dem Appell, Rojanskys Kandidatur abzulehnen.

Kurz darauf kam denn auch die Nachricht, dass Rojansky, übrigens Direktor des der Sowjetforschung gewidmeten Kennan-Instituts im Woodrow Wilson International Center for Scholars, die Kandidatur für den Posten tatsächlich verweigert wird. Im ersten der genannten offenen Briefe, der von mehreren ehemaligen Botschaftern in Russland und in der Sowjetunion unterzeichnet wurde, wird beklagt:

"Die persönlichen Angriffe auf Herrn Rojansky zielten darauf ab, seinen Ruf zu schädigen – und gleichzeitig die politische Debatte zu unterbinden."

Weiter heißt es darin:

"[Es] wurden unbegründete Anschuldigungen erhoben, einige davon haarsträubend (von Herrn Rojansky als angeblichem 'Kreml-Aktivisten'), und einige wiederum auf trügerische Art moderat. [...] Wissenschaftler, Experten und politische Entscheidungsträger müssen sorgfältig neue Fakten verinnerlichen und regelmäßig alte Annahmen in Frage stellen: Die einzige Garantie dafür ist ein ganzes Spektrum von Perspektiven, die durch eine lebhafte Debatte zum Ausdruck kommen. [...] Wir, die Unterzeichner, möchten mit diesem Brief das Ideal der Freiheit, Fragen zu stellen und zu diskutieren, verteidigen."

Wie kann man darauf antworten, außer mit einem lauten "Hurra"? Eine solche Antwort ist längst überfällig.

Und doch ... ja, doch, irgendwie riecht dieser Brief nicht ganz genießbar. In ihrem Plädoyer zur Verteidigung Rojanskys beschweren sich die Unterzeichner des Briefes darüber, dass Rojanskys Gegner ihn als "umstritten" darstellten – dem sei nicht so. Im Gegenteil:

"Herr Rojansky ist ein angesehenes Mitglied der Expertengemeinschaft in Washington, DC. Seine Vorstellungen liegen durchaus innerhalb der Grenzen einer ernsthaften Debatte über die Russlandpolitik der USA."

Rojanskys Feinde stürzten sich auf seine Kritik an den extremeren Kommentaren der Anti-Kreml-Lobby. So beschwerte sich Rojansky in einem Artikel in der Moscow Times aus dem Jahr 2017 zum Beispiel über die "Paranoia im Stil des Kalten Krieges über den russischen Buhmann". Doch daraus bereits zu schließen, dass Rojansky in irgendeiner Weise "weich gegenüber Russland" eingestellt sei, wäre schlicht falsch. Im selben Artikel schrieb er nämlich auch:

"[Der russische Präsident Wladimir] Putin ist ein riesiges Problem für die Vereinigten Staaten. [...] Er hat jede zarte Blüte der liberalen Demokratie in Russland zertreten, ist in die Ukraine eingefallen, um deren souveränes Territorium gewaltsam an sich zu reißen, was weit über 10.000 Menschenleben gekostet hat, und er hat den Diktator Baschar Assad in Syrien unterstützt, dessen Hände mit dem Blut von Hunderttausenden benetzt sind."

Zwecks endgültiger Zerstreuung jeglichen Eindrucks, er schlage sich auf die Seite des Kremls, fügte der Akademiker schließlich hinzu:

"Die Beweise für Russlands Einmischung in die US-Wahlen 2016 und für seine fortlaufenden Operationen, die offensichtlich darauf abzielen, demokratische Politik, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Sicherheitsbündnisse von Europa bis Lateinamerika zu untergraben, häufen sich schnell. Dies sind ernste Bedrohungen, denen mit vollem Durchblick, Stärke und Entschlossenheit begegnet werden sollte."

Rojanskys Vorstellungen bewegen sich also in der Tat "durchaus im Rahmen einer ernsthaften [in den USA geführten] Debatte über die US-Russlandpolitik", wie es im Brief sehr passend ausgedrückt ist. Das erklärt vielleicht auch, warum die Kampagne gegen ihn eine so heftige Reaktion hervorrief: Zum Opfer ihrer Hetze hatte die Anti-Kreml-Lobby nicht etwa jemanden gewählt, den der Mainstream als wirklich kontrovers betrachtet, sondern jemanden, den der Mainstream als "einen Mann aus den eigenen Reihen" und als "angesehenes Mitglied der Expertengemeinschaft" sieht. Und so sehen diejenigen, die glauben, dass es einen existenziellen Konflikt zwischen Moskau und Washington gibt, denn auch Rojansky ganz klar auf ihrer Seite.

Diskursfreiheit Marke USA: Alles geht, solange es gegen Moskau geht

Leider war die gleiche Sorge um "ein ganzes Spektrum von Perspektiven, die durch eine lebhafte Debatte ausgedrückt werden, [...] die Freiheit, Fragen zu stellen und zu diskutieren" auffällig gering, als andere, die die sogenannte Expertengemeinschaft nicht als "einen von uns" betrachtet, in ähnlicher Weise angegriffen wurden. Und angegriffen wurden solche Menschen – und zwar auf genauso schlimme Weise wie Rojansky, wenn nicht noch schlimmer.

Nehmen wir zum Beispiel den Fall von Carter Page, einem ehemaligen Berater des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump während dessen erster Kandidatur für den Posten im Weißen Haus. Page wurde mehrfach beschuldigt, ein russischer Agent zu sein, sein Telefon wurde vom FBI abgehört, und er musste von seinem Beraterposten bei Trumps Wahlkampagne zurücktreten. Er hatte sich lediglich dadurch versündigt, die Vereinigten Staaten zu einer freundlicheren Politik gegenüber Russland aufgefordert und eine Rede in Moskau gehalten zu haben. Doch als es dann höchste Zeit wurde, dass eine Gruppe von über 100 Akademikern und Politikexperten im Namen der "Freiheit, Fragen zu stellen und zu diskutieren" zu seiner Verteidigung herbeieilt, war weit und breit keine zu sehen.

Genauso wenig waren solche Gruppen darauf erpicht, irgendeine der anderen Personen zu unterstützen, die ebenfalls Opfer ähnlicher Machenschaften wurden:

Der Atlantic Council zum Beispiel gab eine Reihe von Publikationen mit dem Titel "The Kremlin's Trojan Horses" (dt.: "Die Trojanischen Pferde des Kreml") heraus, in denen angebliche Kreml-Handlanger in einer Reihe von Ländern auf der ganzen Welt angeprangert wurden. Die Politik blieb stumm. In Kanada veröffentlichte die Denkfabrik MacDonald-Laurier Institute einen ähnlichen Bericht, in dem ein angesehener Professor der Carleton University, ein ebenso hoch angesehener ehemaliger Botschafter und verschiedene Geschäftsleute in einem Kapitel mit dem Titel "The Kremlin's Army of Influence: Compatriots, proxies, surrogates" (zu Deutsch: Die Einflussnahme-Armee des Kremls: Landsleute, Stellvertreter, Strohmänner) gelistet wurden. Auch hier verschlug es der Expertengemeinschaft angesichts dieser Roten Angst vollends die Sprache.

Auch die US-Regierung veröffentlichte kürzlich einen Bericht, in dem sie verschiedene Webseites als Aktivposten des russischen Geheimdienstes anprangerte und sie unter anderem beschuldigte, im Auftrag des russischen Staates Anti-Impf-Propaganda zu verbreiten. Diese Webseites sind in der Tat "umstritten" – allein, Beweise dafür, dass sie im Auftrag ausländischer Geheimdienste handeln, sind spärlich gesät bis nicht vorhanden. Doch wieder einmal sagte die Expertengemeinschaft nichts angesichts dieser Herausforderungen an die Freiheit der Medienberichterstattung.

Kurz gesagt, es scheint, dass die "Freiheit, Fragen zu stellen und zu diskutieren" nur dann von Bedeutung ist, wenn ihre Einschränkungen "einen von uns" betreffen und die Debatte innerhalb der ohnehin schon sehr engen Grenzen dessen bleiben, was in der Fachwelt als "seriös" gilt. Im Brief zur Verteidigung Rojanskys wird argumentiert, dass eine lebhafte Debatte über verschiedene Vorstellungen für die Führung einer effektiven Politik notwendig ist. Doch das muss auch Ideen einschließen, die außerhalb des Mainstreams auftauchen. Andernfalls ist das keineswegs eine lebhafte Debatte.

Das bedeutet, dass auch diejenigen in den Genuss der Verteidigung der Redefreiheit kommen müssen, die sich außerhalb des Kerns der "respektierten Mitglieder der Expertengemeinschaft" bewegen – und eben nicht nur die auserwählten Mitglieder dieser "Expertengemeinschaft". Und wenn die Lage so schlimm geworden ist, dass sogar der Mainstream schon angegriffen wird, dann nur deshalb, weil militante Extremisten mittlerweile den Rahmen der zulässigen Debatte eingeengt haben – durch das Isolieren Andersdenkender. 

Weil er diese Andersdenkenden zu verteidigen versäumte, hat der Mainstream auch sich selbst angreifbar gemacht. Und nur wenige pflegen derart extreme Ansichten, dass diese für die hartgesottensten Russland-Kritiker völlig annehmbar wären. Leider deutet der Brief, in dem die Rojansky zuteil gewordene Behandlung beklagt wird, an: Der Großteil der angeblichen Politikexperten hat dies immer noch nicht verstanden. Stattdessen echauffieren sich seine Unterzeichner darüber, dass die Angriffe auf die Meinungsfreiheit, die zuvor nur andere betroffen hatten, nun auch in den eigenen Reihen ein Opfer gefordert haben. Diese Leistung ist viel zu klein, und sie kommt viel zu spät. Als sie es versäumten, auch die Stimmen von außerhalb ihrer Herde zu verteidigen, säten sie das, was sie nun ernten müssen.

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Paul Robinson ist Professor an der Universität von Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte, Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs Irrussianality. In der englischen Originalversion finden Sie seinen Text hier.