Ein Gastbeitrag von Dr. Karin Kneissl
In einem Tweet schrieb Josep Borrell am Freitag zu den Ergebnissen seiner Gespräche in Moskau: Man sei sich einig, die "globalen Herausforderungen wie Klimawandel und die Pandemie" gemeinsam anzugehen; auch wolle man gemeinsam im Nahen Osten etwas tun. Doch die eigentlichen bilateralen Beziehungen, also der politische Dialog und die Handelsbeziehungen zwischen Brüssel und Moskau, lägen seit 2014 infolge von Sanktionen und Gegensanktionen darnieder.
Es war der erste Besuch des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in Moskau seit drei Jahren. Diese Funktion sollte theoretisch jener eines Außenministers entsprechen. Borrell folgte im Dezember 2019 Federica Mogherini auf diesem Posten nach. Zuvor war Borrell kurz spanischer Außenminister gewesen. Er traf in Moskau auf einen Virtuosen der internationalen Politik, zumal Lawrow seit Jahrzehnten in der internationalen Politik zu Hause ist, ob in der UNO oder als langjähriger Außenminister, der bereits viele Vorgänger von Borrell getroffen hat.
Wenn sich das Gespräch auf das Vorlesen von Punktationen reduziert
Borrell trug die mitgebrachten "speaking notes", also das vorgefertigte Drehbuch der hinlänglich bekannten Positionen der EU-27 zu den vielen eigentlichen Knackpunkten vor. Dabei handelt es sich um eine lange Liste von Punkten, in denen es sehr unterschiedliche Standpunkte zwischen Brüssel und Moskau gibt. Diese reichen von der Person Alexei Nawalny und dem jüngsten Gerichtsurteil, über Giftanschläge, siehe den Fall des Doppelagenten Skripal und dessen Tochter im März 2018, bis hin zum Konflikt in der Ostukraine und der seit 2014 anhaltenden Krim-Krise. Hinzu kommt der Bau der Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2, zu der sich seit August 2020 regelmäßig EU-Politiker sehr unterschiedlich äußern. Es ist ein russisch-deutsches Projekt, das die bereits 2005 beschlossene Pipeline Nord Stream ergänzen soll. Berlin hält an dieser Pipeline fest und will dies nicht mit dem Fall Nawalny verquicken.
Diese "speaking notes" sind der kleinste gemeinsame Nenner, den der Hohe Vertreter koordinieren kann. Denn letztlich unterscheiden sich die Positionen der EU-27 dann doch wieder in ihren bilateralen Beziehungen gerade zu Russland sehr. Berlin, Rom und Paris pflegen traditionell intensive Kontakte, die sich in strukturierten Dialogformaten niederschlagen. Berlin und Moskau haben ihre Kooperation im Sankt Petersburg-Dialog gebündelt, die französisch-russische Variante nennt sich Trianon-Dialog. Wien und Moskau starteten im Mai 2019 auf Präsidentenebene den Sotschi-Dialog. Rom will ähnliches mit Moskau intensivieren.
Während aus historischen Gründen völlig nachvollziehbar die baltischen Staaten wie auch Polen ihr transatlantisches Bekenntnis über alles stellen, zeigen sich andere ehemalige Staaten des Comecon entspannter in ihrem Umgang mit Russland. Auch wenn die Erinnerungen an die brutale Niederschlagung der Revolution von 1956 durch die Rote Armee (wie auch der "Verrat" des Westens) bis heute in Ungarn nachklingen, so haben die Vorgänger von Premier Viktor Orbán mit Moskau stets auf Augenhöhe agiert. Ein aktuelles Beispiel ist die Bestellung des russischen Impfstoffs Sputnik V bereits vor einigen Monaten. Die ungarische Regierung wurde dafür in Brüssel gescholten, da dies ein Ausscheren aus der "europäischen Lösung" gewesen sei. Infolge der eben gescheiterten Impfkoordination durch die Europäische Kommission wird der Ruf nach bilateralen Bestellungen lauter.
Interessanterweise lobte Borrell den Beitrag des russischen Serums zur Bekämpfung der Pandemie. Die Möglichkeit einer EU-konzertierten Bestellung dieses Impfstoffes war damit ebenso Teil der "speaking notes" wie eben die Auflistung der beschriebenen Proteste. Zweifellos ein Drahtseilakt für Borrell, der zwar ein erfahrener Parteipolitiker in Spanien ist, aber auf diesem internationalen Parkett eher wenig Erfahrung aufweist. Einem Lawrow kann er nicht gewachsen sein und offenbar verfügt auch er nicht über den absoluten Rückhalt aus den 27 Kapitalen. Hoher Vertreter der EU zu sein, dafür muss man ganz besondere Talente haben. Eines davor wäre jedenfalls, bei Wahrung aller Interessen mit dem jeweiligen Gegenüber eine Chemie zu erzeugen. Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker konnte dies, egal ob mit Donald Trump oder Xi Jinping. Lawrow war in seiner Diagnose unerbittlich klar, als er die EU als "unzuverlässigen Partner" bezeichnete. Auch er hat eine Liste von Punkten, die seit Jahren aus russischer Sicht die Beziehungen trüben.
Ausweisung von Diplomaten
Während des Gespräches informierte Lawrow zudem die EU-Delegation über die bevorstehende Ausweisung von drei Diplomaten, die sich an Demonstrationen für Nawalny beteiligt haben sollen. Während das russische Außenministerium das Verhalten der Diplomaten als Verletzung der Wiener Diplomatenkonvention einstuft, argumentierte der deutsche Bundesaußenminister Heiko Maas, dass diese Personen sich ein Bild über die Proteste machen wollten und daher physisch dort gewesen seien.
Ich kann mich aus meiner Zeit als Diplomatin (1990 bis 1998) nicht erinnern, dass es je eine Weisung gab, sich auf den Straßen persönlich ein Bild von Demonstrationen zu machen. Auch hätte ich als Ressortleiterin keine Botschaft angewiesen, derartiges zu tun. Man kann sich mit einem guten Netzwerk und einem breiten Zugang zur jeweiligen Zivilgesellschaft sehr wohl über die innenpolitische Lage des Gastlandes ein Bild machen und dies an die Zentrale berichten, um damit der eigenen Regierung auch Möglichkeiten einer klugen Antwort anzubieten. Wenn es um den Schutz von Staatsbürgern geht, dann ist diese konsularische Schutzpflicht eine, die sich auf die jeweils eigenen Staatsbürger bezieht. Es ist aber Usus geworden, dass die EU Beobachter zu Prozessen entsendet, die nicht ihre eigenen Staatsbürger betreffen. So war es auch beim Nawalny-Prozess. Interessanterweise erfolgt keine diplomatische Prozessbeobachtung des in Großbritannien inhaftierten Whistleblowers Julian Assange. Aber das ist ein anderes Thema.
Die Ausweisung von Diplomaten ist stets Zeichen einer starken Unterkühlung. Rund 17 EU-Staaten wiesen 2018 russische Diplomaten als Antwort auf die Skripal-Affäre aus. Ich sprach mich damals dagegen aus. Denn gerade in schwierigen Zeiten gilt es, alle diplomatischen Kanäle offen zu halten. Indes hat aber die österreichische Regierung vor einigen Monaten infolge einer alten Spionageaffäre auch einen solchen Schritt gesetzt.
Will man Diplomatie auf eine mathematische Formel bringen, dann würde diese so lauten: Diplomatie = unter allen Bedingungen respektvoll im Dialog bleiben. Was aber nunmehr seit Jahr und Tag die Beziehungen zwischen Russland und der EU bestimmt, ist eine Art Sprachlosigkeit. Ich empfand dies so und benannte den Zustand so. Lawrow hat in den letzten Jahren die "Megafon-Diplomatie" der Europäer immer wieder kritisiert, also ein lautes Vorpreschen via Medien.
Diskretion, Respekt und Vertrauen gehören zu den wesentlichen Ingredienzen der Diplomatie. Alle drei fehlen in den Beziehungen zwischen der EU und Russland. Mit Bedauern verfolge ich als Beobachterin, wie sich manches zuspitzt. Es kann auch anders gehen, denn diese Zeit der Pandemie verpflichtet uns fast zu mehr Kooperation.
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Die ehemalige Außenministerin von Österreich, Dr. Karin Kneissl, gab im Juni 2020 ihr Buch "Diplomatie Macht Geschichte – Die Kunst des Dialogs in schwierigen Zeiten" (Olms Verlag, Hildesheim) heraus. Die wesentliche Aussage lautet: Diplomatie ist Dialog unter allen Umständen.
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