von Gert Ewen Ungar
Am Donnerstag trafen sich erneut die Staats- und Regierungschefs der EU. Thema des als Videokonferenz abgehaltenen Gipfels war die Coronakrise und der Umgang mit den ökonomischen Auswirkungen. Es wurden Hilfspakete geschnürt und Vereinbarungen getroffen, explizit ausgeklammert blieb jedoch das Thema "gemeinsame Anleihen für die Eurozone".
Dabei fordern immer mehr Länder des Währungsraums Vernunft im ökonomischen Denken und die Weiterentwicklung des Euro zu einer vollwertigen Währung, die den Ländern der Währungsunion auch wieder ein gewisses Maß an Souveränität zurückgeben würde. Diese Souveränität wurde beim Eintritt in die Währungsunion leichtfertig aufgegeben. Ganz besonders in Krisenzeiten zeigt sich wie verletzlich die Eurozone im Vergleich mit anderen Währungsräumen ist, da sie sich die Konkurrenz und den Mangel an Solidarität in Form von No-Bailout-Klauseln und Haftungsausschlüssen in die konstituierenden Verträge geschrieben hat. Entsprechend labil ist jetzt das Konstrukt.
In die Verträge kamen all diese Klauseln, insbesondere auf deutschen Wunsch. Sie sind Ausdruck einer grundlegenden Skepsis Deutschlands gegenüber seinen europäischen Partnern und einer stramm ideologischen ökonomischen Ausrichtung, die sich jeder Diskussion ihrer theoretischen Grundlagen verweigert. Diese Skepsis und ideologische Starrheit kippt zu Krisenzeiten regelmäßig in Chauvinismus gegenüber den von Krisen geschüttelten Euro-Ländern, der sich dann in den großen Medien abbildet: die faulen Griechen, die korrupten Italiener. Ein Umstand, der in den Zielländern des deutschen Ressentiments nicht verborgen bleibt.
Zuletzt kritisierte ganz deutlich der französische Präsident Emmanuel Macron in einem bemerkenswerten Interview mit der Financial Times die deutsche Starrsinnigkeit. Dieses Interview blieb in Deutschland trotz seiner Brisanz und seiner expliziten Konfrontation und dem deutlich emotional vorgetragenen Dissens mit der deutschen Position im Mainstream unbeachtet. Lediglich der wirtschaftspolitische Blog MAKROSKOP widmete dem Beitrag des französischen Präsidenten eine ausführlichere Besprechung.
Die Forderung nach gemeinsamen Anleihen ist im Grunde der konsequente und notwendige Schritt, um die Eurozone aus ihrer, seit der Finanzkrise anhaltenden Starre zu befreien und weiterzuentwickeln. Sie ist auch die einzig sinnvolle Maßnahme, um einen wirtschaftlichen Neustart nach der Coronapandemie möglich zu machen. Alles andere bleibt Flickwerk, zumal es sich bei den jetzt beschlossenen Maßnahmen, so beeindruckend sie in der Summe auch dargestellt werden, in vielen Teilen einfach aus Umschichtungen bestehender Haushaltsposten und um Absichtserklärungen handelt. Und was von deutschen Absichtserklärungen zu halten ist, erfahren gerade die Pflegekräfte in der Altenpflege. Aus der von Gesundheitsminister Spahn großspurig angekündigten Zuwendung von 1.500 Euro wird wohl nichts werden – Finanzierung unklar.
Spätestens nach der Finanzkrise von 2008 hätte man die Eurozone umbauen müssen, da deutlich sichtbar wurde, dass die in den Verträgen getroffenen Vereinbarungen nicht realitätstauglich sind. Allerdings wurde dieser Schritt damals von einigen Ländern blockiert, die sich auch heute wieder verweigern. Dabei kann im Rückblick ganz deutlich gezeigt werden, dass es die Griechenlandkrise und die daraus resultierenden drastischen Maßnahmen niemals notwendig geworden wären, hätte es gemeinsame Anleihen gegeben. Aber der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) zog es vor, den Zuchtmeister Europas zu geben. Sein Anliegen war es, die Realität der Theorie anzupassen statt umgekehrt. Eine sehr deutsche Herangehensweise mit der man sich allerdings nicht viele Freunde macht.
Auch heute zählt neben den Niederlanden und Finnland das in der EU politisch mächtige Deutschland zu den Verweigerern von gemeinsamen Anleihen. Deutschland beharrt auf seiner Position und verweigert weiterhin jeden weiteren Schritt in Richtung Solidarität oder auch nur ökonomische Vernunft. Deutlich gemacht hat das der deutsche Finanzminister Olaf Scholz (SPD), der beispielsweise bei der Vorstellung der Maßnahmen zur Abfederung der ökonomischen Auswirkungen der Coronakrise meinte, weil Deutschland seine Staatsschulden abgebaut habe, könne es sich jetzt auch massive Ausgaben zur Eindämmung der Krise leisten.
Mit anderen Worten, Länder mit höherem Schuldenstand können das nicht. Scholz muss sich dann sicher die Frage der Währungspartner gefallen lassen, wozu eine Währungsunion gut sein soll, wenn sie nur dazu dient, dass eine Nation dauerhaft Exportüberschüsse auf Kosten der anderen generiert, ansonsten aber jeder für sich allein steht. Genau diese Frage stellt Macron und versammelt damit Italien, Spanien und andere Länder in der Sache hinter sich.
Dass Deutschland mit Verweis auf die unterschiedliche Staatsverschuldung seinen Partnerländern Maßnahmen verweigert, die es selbst durchführt, bezeugt, es geht in der Eurobonds-Diskussion nicht nur um unterschiedliche ökonomische Sichtweisen, sondern ganz einfach um bloße Macht. Es ist ein gefährliches Spiel, das Deutschland hier treibt, denn es fördert damit Ressentiments gegen die EU und liefert die Argumente für jene Kräfte, die einem Verbleib in der EU kritisch gegenüber stehen – wogegen man in der Sache auch wenig einwenden kann. Deutschland ist der Spaltpilz der EU, alle Bekenntnisse nützen nichts, wenn sie anschließend nicht in politisches Handeln umgesetzt werden.
Wenn sich beispielsweise Italien weigert, Geld aus dem ESM anzunehmen, dann verwundert das sicherlich auf den ersten Blick. Dass dieser Schritt wohlüberlegt ist, wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Wie der Blog Lost in Europe berichtet, gibt es ein Non-Paper im deutschen Finanzministerium. In dem steht, dass die jetzt ausgesetzten Kriterien zur Inanspruchnahme das Unterzeichnen eines Memorandum of Understanding vorsehen. Und die unmittelbare Wiederaufnahme des strikten Sparkurses, der eigentlich ausgesetzt wurde, beabsichtigt sei.
So setzt sich in der EU vermehrt das Verständnis durch, dass Deutschland eine durchweg neoimperialistische Agenda verfolgt und die anderen Euro-Länder mittels Währungsregime in die Position verschuldeter Vasallen drückt. Schließt man sich dieser Sichtweise an, für die es gute Gründe gibt, hieße das auch, Deutschland hätte nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt. So zeigen sich in der Coronakrise die Sollbruchstellen des Euro-Währungsraums. In Deutschland aber wettert doch gerade der sich als besonders EU-affin gebende Mainstream mit aller Kraft gegen die Eurobonds. Dabei werden Szenarien entworfen, die gerade jetzt nicht eintreffen werden.
So suggeriert die Frankfurter Allgemeine in einem Beitrag, es sei überhaupt nicht klar, was mit Eurobonds gemeint ist. Dabei ist genau das völlig unstrittig. Eurobonds sind gemeinsame Anleihen, für alle Staaten des Euro-Raums mit dem Ziel, die unterschiedlichen Zinsspreads zu verhindern, durch die die Euro-Länder unterschiedlich belastet werden. Es ist überhaupt nicht verständlich und rational erklärbar, warum Italien für eine Anleihe in Euro höhere Zinsen und damit seinen Haushalt höher belasten sollte als Deutschland. Durch gemeinsame Anleihen wird zudem verhindert, dass gegen einzelne Länder spekuliert werden kann. Das größte Schreckgespenst, dass ein reiches Land für die Schulden eines armen Landes zahlen muss, wird nämlich genau durch gemeinsame Anleihen verhindert. Sie machen den Staatsbankrott eines Euro-Landes unmöglich.
So trägt der deutsche Journalismus wenig zur Aufklärung über tatsächliche ökonomische Zusammenhänge bei. Das zeigt sich schon bei den allmonatlich verkündeten Indikatoren: Arbeitslosenzahlen, Kapazitätsauslastungen und Kaufneigung. Der angegebene Konsumverbrauch macht in einer Währungsunion nur für den gesamten Währungsraum Sinn. Dann würde allerdings auch allmonatlich deutlich wie bitter es bereits steht. Von der "Vollbeschäftigung" und "robustem Wachstum" würde dann noch weniger übrig bleiben als bei aktuellen Zahlen.
Es ist allerdings der Alptraum der ökonomischen Schule, die besonders in Deutschland seit mehreren Dekaden die Meinungsführerschaft innehat, wenn Länder nicht bankrottgehen können. Dieser Schule zufolge sind sowohl die Länder als auch die Unternehmen ganz normale Marktteilnehmer. Sie haben sich den Mechanismen des Marktes ausgesetzt und können daher auch pleitegehen. Was diese Idee in der Praxis für positive Effekte bringen soll, bleibt allerdings schleierhaft. Ein Unternehmen, das nicht innovativ ist, verschwindet ganz schnell vom Markt. Die durch die Pleite freigesetzten Arbeitskräfte finden im Idealfall direkt im Anschluss wieder eine Vollzeitstelle. Ein Land, das finanziell ruiniert ist, verschwindet aber nicht vom Markt. Es hat auch kein Produkt anzubieten, das es durch Innovationen verbessern könnte – auch wenn der in diesem Zusammenhang regelmäßig benutzte Begriff "Reform" so etwas suggerieren könnte – und die Bürger sind nach einer Staatspleite auch immer noch da.
Deutschland bleibt aber partout die Begründung dafür schuldig, warum es trotz der offenkundigen Fragen an seinem Dogma festhält.
Dabei gäbe es ein paar Nebeneffekte, die für die Währungsunion und die EU durchaus nützlich wären. Mit einer krisenfesten Währung beispielsweise, würde der Euroraum und der Euro an Attraktivität gewinnen. So käme die EU ganz ohne Militarisierung und Säbelrasseln dem Ziel ein bisschen näher, ein geopolitisch wichtiger Player zu sein. Auch ließe sich das Projekt der Ausweitung des Euro auf andere Länder der EU wieder aufnehmen, das seit der Finanzkrise von 2008 stockt. Darin zeigte sich wie untauglich der Euro in Krisenzeiten ist – er bringt die durch ihn verbundenen Staaten stattdessen in eine bizarre Konkurrenz zueinander.
Deutschland verweigert sich politisch und medial leider weiterhin der Analyse. Welche Bedeutung die deutsche Politik im derzeitigen Auseinanderdriften der EU beimisst, bleibt unklar. So ist es weiterhin Aufgabe der EZB der zerstörerischen deutschen Politik gegenüber den rationalen Kontrapunkt zu setzen. Die Präsidentin, Christine Lagarde, hat vor kurzem deutlich gemacht, dass es eine Aufgabe der EZB sei, dafür zu sorgen, dass die Zinsspreads in der Währungsunion nicht allzu weit auseinander laufen. Die Differenz der Kosten darf also für Refinanzierungen an den Finanzmärkten der unterschiedlichen Euroländer nicht allzu groß sein. Es bleibt abzuwarten, wann der erste deutsche Abgeordnete auf die Idee kommt, gegen diesen Akt der Solidarität zu klagen. Unsolidarität ist das Konstitutionsprinzip der Währungsunion und Deutschland dessen oberster Wächter.
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