von Dennis Simon
Während sich der Handelskonflikt zwischen der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten immer weiter hochschaukelt, befindet sich Deutschland in einer prekären Situation. Deutschlands Haltung in diesem Konflikt wird auch auf der internationalen Ebene wichtige geopolitische Konsequenzen haben. Zunächst muss man die Ausgangslage betrachten.
China ist Deutschlands größter Handelspartner. Aber auch die Vereinigten Staaten folgen dicht dahinter an dritter Stelle. Betrachtet man nur die Exporte, lagen im Jahr 2017 die Vereinigten Staaten mit 112 Milliarden Euro an erster Stelle. China lag auf Platz drei mit 86 Milliarden Euro. Bei den Importen ist China mit 100 Milliarden Euro Nummer eins. Die USA sind an vierter Stelle mit 61 Milliarden Euro.
Im Jahr 2017 flossen aus Deutschland knapp zwölf Milliarden Euro an Direktinvestitionen in die USA und über drei Milliarden Euro nach China. Im selben Jahr investierten die USA über vier Milliarden Euro in der Bundesrepublik und die Chinesen knapp eine Milliarde Euro.
Deutschland ist also sowohl mit den Vereinigten Staaten als auch mit China aufs Engste verflochten. Tendenziell wird China sowohl als Absatzmarkt als auch als Produktionsstandort immer wichtiger, während die Vereinigten Staaten auf hohem Niveau stagnieren. Beide Wirtschaftspartner sind so wichtig, dass Berlin es sich nicht leisten kann, den einen oder anderen zu verprellen.
Auch die Vereinigten Staaten sind wirtschaftlich eng mit China verbunden, jedoch hat die Beziehung einen anderen Charakter. Während Deutschland einen neomerkantilistischen Kurs verfolgt, der darauf basiert, Industrieprodukte massenhaft zu exportieren, und daher rund um den Globus auf der Jagd nach weiteren und größeren Absatzmärkten ist, hat sich in den Vereinigten Staaten eine finanzmarktbasierte Wirtschaftsordnung durchgesetzt, die, zusammen mit der Rolle des Dollars als Weltwährung, es den US-Amerikanern ermöglicht, große Leistungsbilanzdefizite einzufahren und über ihren Verhältnissen zu leben. Gerade das bietet den US-Amerikanern bei einem Handelsstreit zumindest kurzfristig Vorteile, während Krisen im internationalen Handeln für die extrem exportabhängige deutsche Wirtschaft fatale Folgen haben.
Zu diesen wirtschaftlichen Aspekten gesellen sich dann noch einige geopolitische Gegebenheiten. Die USA sind der Schutzpatron der westlichen europäischen Staaten. Sie alle verbindet die Militärallianz NATO, in der die USA bei weitem der mächtigste und wichtigste Staat sind. Militärisch ist die Bundesrepublik aufs Engste mit Washington verbunden. Ausbildung, Strategie, Waffentechnologie: Es gibt kaum einen militärischen Bereich, auf dem Berlin auf eigenen Füßen steht.
Die militärischen und wirtschaftlichen Dimensionen der transatlantischen Partnerschaft, die eigentlich ein Verhältnis der relativen Unterordnung der Bundesrepublik unter dem Schutzschirm der USA ist, wird durch politische und gesellschaftliche Dimensionen vervollständigt und gefestigt. Es gibt kaum einen gewählten Politiker in der Bundesrepublik, der das transatlantische Bündnis ernsthaft in Frage stellen würde. Die transatlantische Programmatik der wichtigsten Parteien wird durch zahlreiche Stiftungen und Lobbyverbände wie etwa die Transatlantik-Brücke sichergestellt, in der auch Medienvertreter und Unternehmer vertreten sind. Von ihrer Jugend auf werden die Entscheidungsträger der kommenden Generationen darauf getrimmt, Washington als Mittelpunkt der Erde und die Orientierung auf die USA als unantastbaren Grundkonsens der bundesdeutschen Politik zu begreifen. Die wichtigsten Medien, egal ob öffentlich-rechtlich oder privat, verstärken diese Wahrnehmung.
Dementsprechend zurückhaltend sind die deutschen Reaktionen auf den US-amerikanischen Elefanten, der gerade im Porzellanladen der Weltpolitik sein Unwesen treibt. Zwar beschreibt etwa Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ am Dienstag die Antworten Berlins auf die unilateralen Aggressionen Washingtons gegen den Iran, der auch deutsche Wirtschaftsinteressen konterkariert, als "machtlos und getrieben." Dennoch steht für ihn fest:
Eine Mittelrolle zwischen den Vereinigten Staaten und China ist keine Option, so wenig wie Äquidistanz zu Amerika und zu Russland in Frage kommt. Die europäischen Länder verbindet unendlich viel mehr mit der amerikanischen Demokratie als mit dem Staatskapitalismus unter kommunistischer Kontrolle; sie bilden mit den Nordamerikanern eine atlantische Demokratiegemeinschaft."
Bei allem Gerede von einer "relativen strategischen Autonomie Europas", wie es in diversen Variationen seit dreißig Jahren heißt, wird die grundsätzliche transatlantische Orientierung von keinem seriösen Vertreter von Deutschlands "Elite" hinterfragt. Stattdessen bestehen die Differenzen zwischen Washington und Berlin zurzeit vor allem darin, dass Washington seine Rolle als unangefochtene Supermacht bedroht sieht und daher solche Schritte einleiten will, um seine Vormachtstellung zu sichern, auch wenn die USA dadurch gegen wichtige Pfeiler der derzeitigen Weltordnung, die sie selbst mitkonstruiert haben, verstoßen. Berlin dagegen sieht sich als Profiteur der liberalen Globalisierung, die eine enge Bindung an die USA umfasst, und will diese Ordnung so weit wie möglich erhalten.
Das zeigen die Reaktionen der außenpolitischen Fachleute beider Staaten auf den Aufstieg der Volksrepublik China. Deutsche Experten fassen die Frage vor allem als wirtschaftliches Problem auf, das im Rahmen von multilateralen Handelsverträgen und im Zuge einer weiteren Globalisierungsrunde zu lösen sei. Dabei könnten und müssten die USA und die EU als Handelsmacht gemeinsam Druck ausüben. Beispielhaft dafür etwa eine Analyse der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Dagegen nehmen US-Experten die China-Frage in erster Linie als geopolitische Bedrohung, als ein Nullsummenspiel wahr, bei dem es darum geht, den Aufstieg Chinas zu verhindern oder zumindest so zu gestalten, dass die USA weiterhin die Nummer eins bleiben. Es geht um Militär, es geht um die Einkreisung Chinas, es geht um Verbündete gegen die aufstrebende Großmacht, es geht um eine starke Flotte, um Macht in den Pazifik, bis vor die Küste Chinas zu projizieren. In der Foreign Affiars, der führenden US-Zeitschrift für außenpolitische Fragen, wird etwa darüber debattiert, ob China Taiwan angreifen wird. Das ist eine ganz andere Wahrnehmung als die, die in Berlin und Brüssel vorherrscht.
Diese Einstellung der US-amerikanischen außenpolitischen "Elite" wird übrigens nicht nur von der Trump-Gefolgschaft geteilt: Die Abwehr gegen die angebliche Bedrohung aus China ist in den USA mittlerweile ein Grundkonsens beider Parteien. Schon unter dem vorherigen US-Präsidenten Barack Obama begannen die USA den sogenannten "Pivot to Asia", also die Verlagerung der geopolitischen Kraft der USA nach Asien, und ein wichtiges Projekt für die vorherige US-Regierung war ein Freihandelsabkommen im Pazifik unter Ausschluss Chinas. Trump realisiert die Pläne zur Einkreisung Chinas nur auf andere Weise als sein Vorgänger.
Es ist angesichts des antichinesischen Grundkonsens fragwürdig, ob die USA tatsächlich, wie von den deutschen Strategen erhofft, wieder zur Besinnung kommen und zum Verteidiger der alten liberalen Weltordnung werden. Galt früher Berlins soft power noch als Ergänzung zu der hard power der USA, werden sie jetzt immer mehr zu gegensätzlichen Polen. Somit driften Berlin und Washington Schritt für Schritt auseinander, auch wenn das die extrem transatlantisch ausgerichteten "Eliten" in Europa nicht wahrhaben möchten. Die grundlegende wirtschaftliche, geopolitische Struktur der Weltordnung verändert sich, langsam aber stetig, jedoch ist die Wahrnehmung der führenden politischen Schichten in Deutschland und in den anderen EU-Staaten noch auf die alte Ordnung zugeschnitten. Die Geschichte zeigt, dass ein solcher Zustand nicht über einen längeren Zeitraum tragbar ist. Früher oder später müssen sich auch Politik und Medien den neuen Umständen anpassen.