Kann die Ukraine Atomwaffen herstellen? Oleg Zarjow gibt Antwort

Immer wieder droht der ukrainische Machthaber Selenskij mit einer ukrainischen Atombombe, zuletzt am 17. Oktober in Brüssel. Wie ernst ist diese Drohung zu nehmen? Oleg Zarjow, ein studierter Physiker und langjähriger ukrainischer Spitzenpolitiker, enthüllt bisher Unbekanntes über das ukrainische Bewaffnungsprogramm.

Von Anton Gentzen

Die Aussage Wladimir Selenskijs während einer Pressekonferenz am 17. Oktober in Brüssel, Kiew müsse über die Beschaffung von Atomwaffen nachdenken, wenn es nicht in die NATO aufgenommen werden, war nicht das erste Mal, dass der ukrainische Machthaber dieses Thema ins Gespräch brachte. Seine erste Drohung dieser Art – unter Beifall der hochkarätigen Zuhörer, darunter US-Vizepräsidentin Kamala Harris, auf der Münchener Sicherheitskonferenz Anfang 2022 – sahen viele Analysten als den letzten Tropfen, der das russische Geduldsfass zum Überlaufen brachte und zu Moskaus Entscheidung beitrug, die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu beginnen. 

Wie ernst die ukrainische Drohung zu nehmen ist, ist Gegenstand kontroverser Debatten. Nicht nur der ungarische Geheimdienst (der es nun nach den Worten Viktor Orbáns tun wird) evaluiert derzeit die Möglichkeiten der Ukraine, sich nuklear zu bewaffnen. In Russland spielten Wladimir Putin und Sergei Lawrow das Thema dieses Mal herunter: Man verfüge über Möglichkeiten, die diesbezüglichen Bemühungen Kiews im Auge zu behalten und sie gegebenenfalls zu unterbinden. Zugleich machte Wladimir Putin bei einem Treffen mit führenden Vertretern der BRICS-Staaten deutlich, dass man in Moskau das Thema durchaus mit dem nötigen Ernst betrachtet.

Oleg Zarjow, der mehr als ein Jahrzehnt lang in die innersten Schaltzentralen der ukrainischen Politik eingebunden war und weiterhin zahlreiche Kontakte zu gut informierten Kreisen in Kiew pflegt, gab diese Woche in einem Interview für die Zeitung Swobodnaja Pressa Auskunft dazu, wie weit die ukrainischen Bemühungen um eine eigene Atombombe gediehen sind. Auch aufgrund seiner hochkarätigen Ausbildung kann Zarjow als Experte für diese Fragen angesehen werden. 

Sensationell ist besonders die Enthüllung, dass Selenskij bereits im ersten Jahr seiner Präsidentschaft, 2019, eine Beratung über die Beschaffung von Atomwaffen einberufen hatte. Der Vortragende auf dieser Beratung war laut Zarjow Wladimir Gorbulin, Doktor der technischen Wissenschaften und Vizepräsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Gorbulin schätzte in seinem Vortrag ein, dass die Ukraine innerhalb von sechs Monaten in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnte, wenn sie sich dieser Aufgabe stellt.

Nach den Informationen, an die sich Zarjows Informant von diesem Treffen erinnerte, verfügte die Ukraine zu diesem Zeitpunkt über etwas mehr als ein Kilogramm waffenfähiges Uran, sodass die Ladung aus etwas anderem als Uran hergestellt werden sollte. Woraus genau, hat er nicht verstanden, denn er ist weit weg von diesem Thema. Zarjows Vermutung ist, dass es sich um Plutonium handelte, das aus Reaktorbrennstoffabfällen gewonnen werden kann.

Dazu führt Zarjow aus:

"Aus irgendeinem Grund vergisst jeder, dass neben Uran auch Plutonium ein spaltbarer Stoff in einer Kernladung sein kann. Und die Herstellung von Plutonium stellt keine unüberwindbaren Schwierigkeiten dar, die Ukraine verfügt bereits über mehr als genug davon. Man braucht fünfmal weniger Plutonium als Uran, um die für eine Explosion erforderliche kritische Masse zu erreichen. Die Ladungsgröße einer Plutoniumbombe ist etwas größer als ein Apfel. Für die Herstellung von waffenfähigem Plutonium werden Abfälle aus Kernreaktoren benötigt."

Als Träger für die ukrainischen Atomwaffen schlug Gorbulin bei der Beratung im Jahr 2019 vor, 16 russische Bulawa-Raketen zu nutzen, die Anfang 2014 zur Routinewartung in das Juschny-Maschinenbauwerk (YUMZ) in Dnjepropetrowsk gebracht und nach dem Maidan-Umsturz nicht an Russland zurückgegeben wurden. Gleichzeitig hieß es, dass die Gyroskope für die Zielführung der Raketen in Charkow hergestellt werden könnten, der Treibstoff in Pawlograd. 

Im Ergebnis des Treffens wurde auf Gorbulins Vorschlag eine geheime Expertengruppe gebildet, die sich mit der Vorbereitung der Herstellung von Atomwaffen befassen sollte. Unter Berücksichtigung dessen, dass die vorbereitenden Arbeiten für das ukrainische Atomwaffenprogramm schon 2019 begonnen haben, hält Zarjow die von der deutschen BILD-Zeitung veröffentlichte Aussage eines ukrainischen Beamten, dass die Ukraine in der Lage ist, innerhalb von zwei Wochen Atomwaffen zu bauen, für plausibel. Die maßgebliche Vorarbeit dürfte bereits geleistet worden sein.

Dafür, dass Russland die Möglichkeit der Entwicklung von Atomwaffen durch die Ukraine sehr ernst nimmt, sprechen nach Ansicht von Oleg Zarjow die wiederholten Angriffe der russischen Luftwaffe auf das YUMZ-Werk und das Chemiewerk Pawlograd. Außerdem habe die Staatsführung in Moskau kurz vor Beginn der militärischen Sonderoperation einen Fragebogen an führende Wissenschaftler des Landes verschickt, in dem im Wesentlichen deren Einschätzungen zu den nuklearen Möglichkeiten der Ukraine abgefragt wurde. Zarjow: 

"Die Frage lautete: 'Wie schnell wird die Ukraine in der Lage sein, Atomwaffen zu bauen?' Der Leiter eines dieser Institute, den ich kenne, antwortete darauf sehr schnell. Mit spaltbarem Material, allen Technologien und Bauplänen wird es nicht lange dauern, Atomwaffen herzustellen. Andere einschlägige Organisationen gaben die gleichen Antworten. Mein Genosse glaubte, dass die Antworten der Nuklearspezialisten über die Fähigkeit der Ukraine, ihr Nuklearpotenzial schnell wiederherzustellen, der Auslöser für den Beginn der militärischen Sonderoperation waren."

Für wenig wahrscheinlich hält Zarjow hingegen die Hypothese, dass Kiew auf die Schaffung einer "schmutzigen Bombe" setze. Die Gefahren der "schmutzigen Bombe" seien stark übertrieben, nur eine Art Strahlenphobie der Bevölkerung könne die Tatsache erklären, dass sich alle davor fürchten. Tatsächlich werde die radioaktive Verseuchung bei ihrem Einsatz nicht mit den Folgen des Tschernobyl-Unfalls vergleichbar sein, sie wird um mehrere Größenordnungen geringer sein. Hätten sich die ukrainischen Behörden für den Einsatz einer "schmutzigen Bombe" entschieden, wäre die Ukraine aufgrund der in der Welt weit verbreiteten Strahlenfeindlichkeit sofort zu einem Paria-Land geworden, ohne dass sich daraus irgendein nennenswerter militärischer Nutzen ergäbe.

Die Rede aktuell ist, zeigt sich Zarjow überzeugt, von vollwertigen Atomwaffen, die Kiew herstellen lassen will. Man solle, mahnt er, die ukrainischen Wissenschaftler in dieser Hinsicht nicht unterschätzen:

"Wenn die sowjetischen Wissenschaftler in der Lage waren, das Ergebnis in 7 Monaten zu erzielen, dann wird es jetzt, da genügend Rohstoffe vorhanden sind und die Methoden ausgearbeitet wurden, viel weniger Zeit in Anspruch nehmen, Plutonium herzustellen. Wir wissen nicht, ob in der Ukraine ein Beschluss zur Herstellung von Atomwaffen gefasst wurde, aber wenn dem so ist, ist es von entscheidender Bedeutung zu wissen, wann genau die Arbeit an diesem Thema begonnen hat."

Optimistisch zeigt sich Zarjow nur bei der Frage, ob der Westen zulassen wird, dass die Ukraine sich nuklear bewaffnet:

"Ich denke, dass Selenskijs westliche Strippenzieher das Auftauchen einer weiteren Atommacht auf der Weltkarte nicht gutheißen werden, vor allem nicht mit einem unkontrollierbaren Führer an der Spitze, der noch dazu zu offener Erpressung neigt. Deshalb werden sie auf jeden Fall versuchen, sie mit politischen Mitteln vorerst in den erlaubten Grenzen zu halten. Entscheidungen über das weitere Schicksal des Ukraine-Konflikts sind aber erst nach den US-Wahlen zu erwarten."

Der 1970 in Dnjepropetrowsk geborene Oleg Zarjow studierte von 1987 bis 1992 an der wichtigsten sowjetischen Kaderschmiede für die Atomindustrie und nukleare Waffenherstellung – dem Moskauer MIFI. Von 1992 bis 2002 zeigte er sich als erfolgreicher Geschäftsmann und baute mehrere Unternehmen auf. Von 2002 bis 2014 vertrat er seinen Einzelwahlkreis im ukrainischen Parlament und stieg zu einer der Führungspersönlichkeiten der ukrainischen Partei der Regionen auf. Nachdem er gewaltsam gezwungen wurde, seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im Mai 2014 zurückzuziehen, musste er auf die Krim fliehen, engagierte sich für Neurussland und lebt seitdem im russischen Exil. Im Oktober 2023 überlebte er nur knapp einen Mordanschlag des ukrainischen Geheimdienstes.

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