Von Rafael Fachrutdinow
Die russischen Streitkräfte haben eine Offensive im Gebiet Charkow gestartet. Die Vereinigten Staaten von Amerika und das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland zeigen sich angesichts der Geschehnisse ernsthaft besorgt. Und im Deutschen Bundestag wurde sogar die Idee erörtert, die Ukraine von Polen und Rumänien aus mit Luftabwehrsystemen zu verteidigen. Welche Gefahr droht Europa bei der Umsetzung dieser Idee? Wie effektiv würden die NATO-Staaten in der Lage sein, russische Angriffe auf die Ukraine von ihrem Territorium aus abzuwehren?
Der Westen ist äußerst besorgt über die russische Militäroffensive bei Charkow. Dem Sprecher des Weißen Hauses John Kirby zufolge "wird Russland in den kommenden Wochen die Intensität des Feuergefechts erhöhen" und die Zahl der Streitkräfte an diesem Frontabschnitt aufstocken. Gleichzeitig fügte Kirby hinzu, dass er an die ukrainischen Streitkräfte glaube und dass sie den Ansturm aufhalten würden.
Auch der britische Außenminister David Cameron bezeichnete den Vormarsch der russischen Streitkräfte im Gebiet Charkow als "extrem gefährlich" und äußerte die Hoffnung, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre derzeitigen Positionen halten können.
"Jeden Tag gibt es mehr als 30 kriegerische Zusammenstöße, es ist extrem schwierig", präzisierte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij die Lage.
"Die kommenden Wochen werden für die ukrainischen Bodentruppen wahrscheinlich sehr düster ausfallen", urteilte Mick Ryan, ein australischer General im Ruhestand und derzeit Wissenschaftler am Lowy Institute for International Policy in Sydney. "Wenn die Ukrainer beschließen, ihre Positionen um jeden Preis zu halten, werden sie den größten Teil ihrer Armee verlieren, die vor ihren Augen schmilzt", zitiert ihn die New York Times.
Das russische Verteidigungsministerium teilte am Sonntag in seinem Kanal auf Telegram mit, dass Einheiten des Truppenverbands Nord tief in die ukrainische Verteidigung vorgedrungen seien und "die Siedlungen Gatischtsche, Krasnoje, Morochowez und Oleinikowo im Gebiet Charkow befreit" hätten.
Vor diesem Hintergrund wurde in Europa über eine grundsätzlich intensivere Beteiligung der NATO-Staaten an dem Konflikt gesprochen. So unterstützten einige Abgeordnete sowohl der Regierungskoalition als auch aus Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag die Idee, dass die Streitkräfte der europäischen NATO-Staaten den Luftraum über der Westukraine mit Luftabwehrsystemen schützen sollten, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
"Flugabwehr über der Ukraine von Polen und Rumänien aus sollte man langfristig nicht ausschließen", meint Anton Hofreiter, Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen und Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union.
Auch Agnieszka Brugger, eine Parteikollegin von Hofreiter, sagte, es sei richtig, "Systeme zur Luftverteidigung so an den Grenzen der Anrainerstaaten zu stationieren, dass die westlichen Teile der Ukraine mit geschützt werden können".
Der ehemalige Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr und Oberst a. D. Roderich Kiesewetter wies darauf hin, dass westliche Staaten auch russische Drohnen abschießen könnten. "Das würde die ukrainische Flugabwehr entlasten und ihr ermöglichen, die Front zu schützen", meinte der CDU-Abgeordnete Kiesewetter und verglich dies mit der Situation, in der die USA und andere westliche Länder den israelischen Luftraum verteidigten, ohne selbst Partei in dem Konflikt zu werden.
Auch Markus Faber (FDP) stimmte zu, dass "der Luftraum über den ukrainischen Grenzregionen" im Prinzip durch "Luftverteidigungssysteme auf NATO-Territorium" geschützt werden könne.
Zuvor hatten Nico Lange, ein Militärexperte und "Senior Fellow" der Münchner Sicherheitskonferenz, wie auch der Generalleutnant a. D. Horst-Heinrich Brauß als ehemaliger stellvertretender NATO-Generalsekretär vorgeschlagen, russische Raketen über den Grenzgebieten der Ukraine von Polen und Rumänien aus abzuschießen. Diese Möglichkeit wurde auch von polnischen offiziellen Stellen erwähnt, aber es wurden keine konkreten Lösungen präsentiert. Analysten schätzen, dass westeuropäische Luftabwehrsysteme das Gebiet von der Grenze bis 70 Kilometer tief in das ukrainische Hoheitsgebiet hinein abdecken könnten.
Konstantin Dolgow, Mitglied des russischen Föderationsrates und ehemaliger stellvertretender russischer Botschafter bei der UNO spottete zunächst:
"Nun, mit Blick auf Polen und Rumänien kann man sagen: herzlich willkommen im Club der Selbstmörder, wenn sie einer solchen Idee des Bundestages zustimmen",
um dann jedoch warnend fortzufahren:
"Ich erinnere an die Worte vom Präsidenten Wladimir Putin, der vor kurzem sagte, dass Moskau berücksichtigen werde, dass die F-16-Kampfjets, die die NATO-Länder an die Ukraine liefern werden, Träger von Atomwaffen sein könnten. Das bedeutet, dass wir auch das Recht haben werden, die Stützpunkte, von denen sie starten, anzugreifen. Das Gleiche gilt für die Luftabwehrsysteme der an die Ukraine angrenzenden Länder."
"Mal sehen, wie stark die Selbstmordgedanken im politischen und geschäftlichen Establishment in Polen und Rumänien sind. Was die Öffentlichkeit anbelangt, so denke ich, dass die Antikriegsstimmung dort bereits recht populär ist. Es gibt viele vernünftige Menschen in Europa, die natürlich keine Konfrontation, geschweige denn einen direkten Zusammenstoß mit Russland wollen. Auch wächst die Müdigkeit, Kiew zu helfen. Die Stimmung in der Öffentlichkeit ändert sich, und zwar nicht zugunsten der westlichen Politiker und nicht zugunsten Kiews", erinnerte der Senator.
Die Idee, die Ukraine mit Luftabwehrsystemen von anderen Staaten aus zu verteidigen, ergibt in der Praxis wenig Sinn, meint Alexander Artamonow als militärischer und internationaler Kommentator und Experte für NATO-Streitkräfte:
"Die russischen Streitkräfte können operativ-taktische Flugabwehrraketen Iskander für Angriffe einsetzen, deren Abfangwirkung weniger als 50 Prozent beträgt. Darüber hinaus bestimmen diese Bedingungen eine sehr kleine Nomenklatur der Systeme mit Flugabwehrraketen. Die künstliche Intelligenz von Flugabwehrraketen-Systemen betrachtet als das zu schützende Zentrum das Hauptquartier dieses Systems, um das herum in einer bestimmten Entfernung die Startkomplexe aufgestellt sind. Wenn das zu verteidigende Objekt mehrere Dutzend Kilometer vom Zentrum des Flugabwehrraketen-Komplex entfernt ist, wird dessen Wirksamkeit stark eingeschränkt sein."
Der Experte gab weiter zu bedenken: "Flugabwehrraketen-Systeme funktionieren nach dem Prinzip der 360-Grad-Rundumsicht. Das Patriot-Raketensystem kann vier bis sechs Batterien in einem Zentrum haben. Dementsprechend ist für sie das Hauptquartier, das sich beispielsweise in Polen befindet, das wichtigste zu sichernde Objekt. Und nun stellt euch vor, das zu schützende Objekt befindet sich auf dem Territorium der Ukraine – an der Peripherie dieser Sphäre mit einem Durchmesser von mehreren zehn Kilometern. Wie viel Zeit bliebe dem Flugabwehrraketen-Komplex, um eine aus der Gegenrichtung kommende Rakete zu sehen, ihre Flugroute zu berechnen und abzufangen?"
"Darüber hinaus sind unsere Marschflugkörper in der Lage, mit aktiven Flugmanövern Abwehrraketen entgegenzuwirken. Dadurch werden sie auch schwieriger abzufangen sein. Die russischen Streitkräfte verfügen über Marschflugkörper der X-Kategorie, die an der Grenze der Sichtbarkeit für Radar fliegen, nämlich wirklich in einer sehr niedrigen Flughöhe von etwa 60 Metern, so dass sie für das Radar fast unsichtbar sind. Außerdem können wir einen Drohnen-Schwarm zum Angriff schicken – mehrere Dutzend Drohnen. Es ist unklar, wie sie von den Luftabwehrsystemen der NATO abgefangen werden können", erläuterte der Analyst.
"Außerdem haben wir noch Hyperschall-Flugkörper und im Hyperschallbereich nutzen westliche Luftabwehrsysteme bisher nichts. Sie haben Geschwindigkeiten zum Abfangen von 2 bis 3 Mach, während unsere Hyperschall-Flugkörper mit mindestens 4,5 bis 5 Mach fliegen. Und die Hyperschall-Waffe Kinshal fliegt mit einer Geschwindigkeit von 7 bis 8 Mach. Die westlichen Experten werden also nur feststellen können, dass jemand ein Ziel auf dem Territorium der Ukraine getroffen hat, das angeblich durch die NATO-Luftabwehr geschützt war, vor allem, wenn wir gleichzeitig Wellen- und Kombinationsangriffe durchführen werden – mit Drohnen, Hyperschall-Waffen, konventionellen Raketen, ballistischen Geschossen und Marschflugkörpern", warnt der Experte.
"Ich möchte noch hinzufügen, dass wir über luftgestützte Aerosolbomben vom Typ ODAB verfügen, die wir fast noch nie irgendwo eingesetzt haben. Eine unter enormer Volumenausdehnung detonierende Aerosolbombe hat im Prinzip fast dieselbe zerstörerische Wirkung wie eine taktische Nuklearwaffe, nur ohne den Strahlungseffekt. Das heißt, auch das ist eine furchtbare Waffe, die aber durch keinerlei Konvention verboten ist. Das Prinzip der Detonation ist sehr spezifisch: Zunächst wird ein schweres Aerosol auf die Zielregion geschüttet, das in jeden Spalt eindringt, und dann wird die gesamte Gaswolke zur Detonation gebracht. Die Temperatur dieser Flammen erreicht dreitausend Grad, was dreimal höher ist als die Temperatur in einem Krematorium", fasst Artamonow zusammen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst in der Zeitung Wsgljad erschienen am 12. Mai 2024.
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