Von Tarik Cyril Amar
Wovor eine überschaubare Gruppe objektiver Beobachter im Westen schon lange gewarnt hat, und dafür verunglimpft wurde, scheint sich nun abzuzeichnen: Die Ukraine und der Westen verlieren ihren Krieg gegen Russland. Die Strategie, die Ukraine zu benutzen, um Russland entweder zu isolieren und langsam zu erwürgen oder in einem Stellvertreterkrieg zu besiegen und zu unterwerfen, nähert sich einem katastrophalen Ende, das vorhersehbar war.
Diese Realität wird jetzt sogar von führenden Medien und hohen Staatsbeamten zunehmend anerkannt, nachdem sie zuvor kompromisslos die äußerst unkluge Absicht eines militärischen Sieges über Russland verfolgt hatten. In einem Artikel in der Washington Post wurde eingeräumt, dass die Optionen des ukrainischen Präsidenten Selenskij "schlecht oder noch schlimmer aussehen, da es keinen Ausweg aus einem sich verschärfenden Krieg gibt". Der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, hat inzwischen die Möglichkeit entdeckt, einen Krieg durch Zugeständnisse zu beenden – in diesem Falle Zugeständnisse der Ukraine. Der standhafte alte Hardliner Edward Luttwak warnte vor einer "katastrophalen Niederlage" – für den Westen und die Ukraine. Zwar verbreitet Luttwak immer noch verzweifelte Illusionen über ein direktes Eingreifen der NATO, um das Schlimmste abzuwenden. In Wahrheit würde es die Dinge natürlich nur noch viel, viel schlimmer machen, und in einen Dritten Weltkrieg führen. Aber Luttwaks Verzweiflung, um nicht zu sagen Panik, ist deutlich spürbar.
Das sich immer schneller nähernde Endergebnis wird für die Ukraine eine Katastrophe darstellen, selbst wenn Moskau sich hinsichtlich der Bedingungen der Nachkriegsregelung großzügig zeigen sollte – was angesichts der Kosten, die für Russland entstanden sind, keine Selbstverständlichkeit sein wird. Die Ukraine ist hinsichtlich ihrer Demografie, ihres Territoriums, ihrer Wirtschaft und nicht zuletzt ihrer politischen Zukunft bereits ruiniert. Der entstandene Schaden kann nicht einfach über Nacht wiedergutgemacht werden und wird langfristige Folgen haben.
Für den Westen wird dieser Krieg auch einen düsteren Wendepunkt darstellen, und zwar in vier wesentlichen Punkten, die hier nur skizziert werden können:
Erstens müssen die USA ihre schlimmste Niederlage seit Vietnam verkraften. Dieses jüngste Fiasko ist wohl noch schlimmer, weil die USA selbst während des Vietnamkrieges nicht versucht haben, die Sowjetunion dermaßen frontal anzugreifen, wie sie es im Fall der Ukraine getan haben. Washingtons Versuch, Moskau ein für alle Mal vom "großen globalen Schachbrett" zu entfernen, ist komplett nach hinten losgegangen. Im Allgemeinen wird das dazu führen, dass die USA ihre Fähigkeit dezimiert haben, weltweit zu beeindrucken und zu überzeugen. Insbesondere das Ziel, den Aufstieg regionaler Mächte in Eurasien zu verhindern, der heilige Gral der US-Geopolitik, ist noch weiter außer Reichweite geraten. Der "unipolare" Moment und seine Illusionen daraus, waren ohnehin schon am Anfang des Endes, aber Washington hat ein Lehrbuchbeispiel für die Grenzen der Machausübung durch den Westen hingelegt.
Zweitens geht es der EU und ihren einzelnen Mitgliedern – insbesondere kurzsichtigen Kriegstreibern wie Deutschland, Polen und Frankreich – weitaus schlechter als zuvor: Ihr törichter Verzicht auf geopolitisch gebotene Vorsicht und Abwägungen wird sie teuer zu stehen kommen.
Drittens sind Staaten wie Großbritannien – nicht einmal mehr EU-Mitglied – und die baltischen Staaten – sehr exponiert und äußerst kriegerisch – auf ihre eigene, unterschiedliche Art und Weise eine Klasse für sich: Der Schaden dort wird riesig sein. Schadensbegrenzung? Die Optionen dafür sind dürftig.
Und schließlich ist da natürlich noch die NATO, die sich überdehnt, ausgelaugt und unnötigerweise als viel schwächer erwiesen hat, als es zunächst den Anschein gemacht hat. Die Niederlage gegen Russland in der Ukraine wird zentrifugale Tendenzen und Schuldzuweisungen auslösen. Ganz zu schweigen vom besonderen Spannungspotenzial zwischen den USA und ihren Vasallen in Europa, insbesondere falls Donald Trump erneut ins Weiße Haus einziehen sollte, was wahrscheinlich ist. Trump kann der NATO dafür danken, dass sie bewiesen hat, was für ein zweifelhaftes Unterfangen sie inzwischen ist. Wenn man glaubt, dass das Hinzufügen weiterer Staaten wie Schweden und Finnland zur NATO-Landkarte ein "Gewinn" war, dann bedenke man, wozu das Bejubeln der territorialen Gewinne der Ukraine im Jahr 2022 geführt hat. Während territoriale Gewinne eine Trophäe sein können, sind sie kein verlässlicher Indikator für die Stärke.
Doch was ist mit den Ukrainern selbst? Sie wurden von ihren westlichen Freunden aus der Hölle als Schachfiguren benutzt. Sie leben immer noch unter einem Regime, das gerade beschlossen hat, noch mehr von ihnen in einen hoffnungslosen Fleischwolf zu schicken, während Selenskij gleichzeitig zugeben muss, dass die Ukraine am Rande einer Niederlage steht.
Einige westliche Medien verbreiten immer noch ein simplifizierendes und falsches Narrativ über den eisernen und geeinten Willen der Ukrainer, bis zum Sieg zu kämpfen, als ob jeder einzelne Ukrainer es dem Westen schuldig wäre, das Spiel bis zum bitteren Ende zu spielen. Aber in Wirklichkeit ist die Ukraine ein gewöhnliches, wenn auch stark in die Irre geführtes Land. Viele ukrainische Bürger zeigen schon seit längerem, was sie in Wirklichkeit davon halten, für eine giftige Kombination aus westlicher Geopolitik und dem Narzissmus eines größenwahnsinnigen Komikers zu sterben. Sie zeigen dies, indem sie sich der Einberufung entziehen, indem sie sich entweder in der Ukraine verstecken oder ins Ausland fliehen. Zudem zeigt eine aktuelle Umfrage, dass fast 54 Prozent der Ukrainer die Beweggründe der Wehrdienstverweigerer zumindest nachvollziehen können. Die Einführung des neuen Gesetzes zur erweiterten Mobilisierung wird nicht reibungslos verlaufen.
Aber es gibt weitere Beweise dafür, dass die ukrainische Gesellschaft nicht hinter der Kamikaze-Strategie der "Kompromisslosigkeit" steht. Tatsächlich hat Strana, eine der wichtigsten und beliebtesten Nachrichtenseiten der Ukraine, unter dem Titel "Die Kompromisslinie" gerade einen langen, detaillierten Artikel über drei aktuelle und methodisch fundierte Umfragen veröffentlicht.
Sie alle beziehen sich auf die sich ändernde Einstellung der Ukrainer zum Krieg und insbesondere auf die Suche nach einem Kompromissfrieden. Darüber hinaus bietet Strana eine reichhaltige Auswahl an Kommentaren ukrainischer Soziologen und Politologen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass das bloße Erscheinen dieses Artikels ein Zeichen dafür ist, dass sich die Zeiten ändern: Unter dem Untertitel "Wodurch und warum sich die Einstellungen zum Krieg im Osten und im Westen der Ukraine unterscheiden" werden sogar substanzielle regionale Unterschiede und unterdrückte Spaltungen hervorgehoben. Wenn Sie etwas über die extreme politische – sogar historische – Sensibilität solcher Divergenzen in der Ukraine wissen, dann werden Sie mir zustimmen, dass allein diese Formulierung eine kleine Sensation darstellt.
Aber das ist noch nicht alles. Im oben genannten Artikel geht es im Grunde darum, den Krieg durch Zugeständnisse zu beenden – denn das ist es, was jeder Kompromiss zwangsläufig erfordert. Die Leser von Strana erfahren zum Beispiel, dass laut einer Umfrage, im Auftrag des ukrainischen Veteranenministeriums der Agentur Reiting im Westen der Ukraine, der am weitesten von den aktuellen Frontlinien entfernt ist, 50 Prozent der Umfrageteilnehmer gegen jeden Kompromiss sind. Jedoch befürworten nicht weniger als 42 Prozent eine Kompromisslösung, solange andere Staaten außer der Ukraine und Russland sich an deren Findung beteiligen. Für eine Region, die traditionell das Zentrum des ukrainischen Nationalismus ist, ist das tatsächlich ein bemerkenswert hoher Anteil an Kompromissbefürwortern.
Wenn man sich nach Osten und nach Süden des Landes bewegt, wird die Kompromissfraktion zunehmend größer. Im Osten sind die Verhältnisse fast genau umgekehrt: 41 Prozent sind gegen eine Kompromisslösung und 51 Prozent sind dafür. Im Süden herrscht ein perfektes Unentschieden: je 47 Prozent sind dafür oder dagegen.
Insgesamt stellen ukrainische Soziologen eine allmähliche Zunahme derjenigen fest, die einen Kompromissfrieden in der einen oder anderen Form befürworten. Auch wenn diese Zunahme, wie ein Forscher plausibel anmerkte, regional unterschiedlich ausfällt, entspricht sie dennoch dem nationalen Trend. Wie der Politikwissenschaftler Ruslan Bortnik beobachtet, sind zwei der Ursachen dafür "Enttäuschung" und der Verlust des Glaubens an einen Sieg. Mit anderen Worten: Das Regime von Selenskij verliert den Informationskrieg an der Heimatfront und das trotz einer Mischung aus Zensur und Selbstinszenierung.
Die von den Ukrainern imaginierten Kompromisse umfassen alle denkbaren Lösungen, die keine Rückkehr zu den Grenzen von 1991 vorsehen. Mit anderen Worten: Es gibt immer mehr Ukrainer, die bereit sind, Territorium gegen Frieden einzutauschen. Wie viel Territorium, das ist natürlich eine andere Frage. Aber es wird klar, dass das maximalistische und kontraproduktive Ziel, "alles zurückzubekommen", dieser Alles-oder-Nichts-Wahn, der der ukrainischen Gesellschaft lange Zeit aufgezwungen wurde, seinen Einfluss verliert.
So ermittelte das Umfrageinstitut Socis insgesamt fast 45 Prozent der Befragten, die bereit zu Kompromissen sind, während nur 33 Prozent den Krieg bis zur Wiederherstellung der Grenzen von 1991 fortsetzen wollen. Elf Prozent befürworten es weiterzukämpfen, bis zumindest alle nach Februar 2022 verlorenen Gebiete zurückerobert sind. Aber auch das ist mittlerweile ein unrealistisches Ziel. Es wäre noch möglich gewesen, hätte Kiew im Frühjahr 2022 nicht auf den schrecklichen Rat des Westens gehört und ein fast abgeschlossenes Friedensabkommen abgelehnt. Aber dieser Zug ist mittlerweile abgefahren.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Umfrageergebnisse nicht alle in dieselbe Richtung weisen. Das Umfrageinstitut KMIS hat Ergebnisse vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass 58 Prozent der Befragten den Krieg "unter allen Umständen" fortsetzen wollen und nur 32 Prozent ein "Einfrieren" des Konflikts bevorzugen würden, solange der Ukraine westliche Sicherheitsgarantien gegeben werden. Ein solches Einfrieren ist zwar ein gern geträumter Wunschtraum einiger westlicher Kommentatoren und Beobachter, dürfte aber zum jetzigen Zeitpunkt keine Option mehr sein – falls es jemals eine war. Warum sollte Moskau einem Einfrieren zustimmen? Aber das ist hier nicht relevant. Viel interessanter ist die Tatsache, dass KMIS offenbar eine massive Fraktion der Kriegsbefürworter ermittelt hat.
Und doch wird das Bild komplizierter, wenn man genauer hinsieht. Zum einen ist die Umfrage von KMIS vergleichsweise alt, sie wurde im November und Dezember vergangenen Jahres durchgeführt. Wenn man bedenkt, wie rasant sich die Dinge auf dem Schlachtfeld seitdem entwickelt haben – die Festungsstadt Awdejewka beispielsweise fiel erst im Februar 2024 endgültig – sind die Daten daher als nicht mehr aktuell zu betrachten.
Die Studie von KMIS hatte zudem interessante Meinungen von den Befragten eingeholt. Die Studie stellte fest, dass die individuelle Nähe zur Front eine "wichtige Rolle" spiele, bei der Bildung der eigenen Meinung über den Krieg. Mit anderen Worten: Wenn die Kämpfe nah genug heranrücken, und der Artilleriedonner zu hören ist, wird sich die individuelle Meinung darauf konzentrieren, einen Weg zu finden, den Krieg zu beenden, auch durch Zugeständnisse. Wie ein ukrainischer Soziologe es ausdrückte: "Im Osten und Süden besteht eine der Hauptsorgen der Menschen darin, dass der Krieg nicht ihre eigene Heimatregion, ihre eigenen Heimatstädte erreichen wird." Darüber hinaus hat der Geschäftsführer von KMIS beobachtet, dass die Zahl der Kompromissbefürworter immer dann zunimmt, wenn die westliche Hilfe zurückgeht.
Es bleibt aus mehreren Gründen schwierig, aus diesen Trends klare Schlüsse zu ziehen: Erstens könnte die Zahl der Kompromissbefürworter in Wahrheit sogar noch höher sein – ich persönlich bin sicher, dass dies der Fall ist –, weil das Regime von Selenskij jeglichen Appell zu Kompromissen, Diplomatie und Verhandlungen stigmatisiert hat und somit als "Verrat" ansieht. Viele Ukrainer haben mit ziemlicher Sicherheit Angst, ihre ehrliche Meinung zu diesem Thema zu äußern.
Zweitens könnte das, was Kompromissbefürworter genau unter Kompromissen verstehen, sich ziemlich unterscheiden. Innerhalb dieses Lagers der Befürworter mag es immer noch etliche unter ihnen geben, die sich weiterhin Illusionen darüber machen, welche Art von Kompromissen zum jetzigen Zeitpunkt noch möglich sind.
Drittens zeigt sich das derzeitige ukrainische Regime – das de facto autoritär regiert – der Gesellschaft gegenüber nicht verantwortlich, zumindest nicht in einer Weise, die es leichter machen würde vorherzusagen, wie sich Veränderungen in der nationalen Stimmung auf die Politik des Regimes auswirken werden.
Und dennoch: Es besteht kein Zweifel daran, dass es eine Mehrheit dafür gibt, den Krieg auch auf Kosten von Zugeständnissen zu beenden. Wenn man die klaren Indizien für die zunehmende Kriegsmüdigkeit in der Westukraine – sogar eine zunehmende Bereitschaft, sich von der Restukraine abzutrennen – und die Fakten berücksichtigt, die das russische Militär vor Ort schafft, dann wird es schwer zu behaupten, dass dieser grundlegende Stimmungswandel in der Ukraine für die ukrainische und internationale Politik nicht von Bedeutung ist.
Übersetzt aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.
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