Von Michael von der Schulenburg
Auch wenn an der Front noch geschossen wird, könnte mit den jetzt eingesetzten Entwicklungen der Krieg in der Ukraine auf eine im Westen völlig unerwartete Weise enden – und zwar mit einem ukrainisch-russischen Einverständnis ohne westliche Beteiligung. Wie es scheint, wird der Ukrainekrieg nun in Kiew und nicht mehr an der Front entschieden. Dabei wird sich viel um die Person Selenskij drehen, einst ein Held und heute eher eine tragische Figur, die riskiert, die nächsten Monate als Präsident nicht zu überleben.
Der Grund dafür ist, dass Selenskij das wahnsinnig anmutende Ziel verfolgt, mit einer erneuten Großoffensive Russland in diesem Jahr doch noch besiegen zu wollen. Dazu will er 500.000 Ukrainer zwangsrekrutieren. Aber eine solche Großoffensive müsste in drei bis vier Monaten beginnen. Er würde also dazu weder die Waffen noch die Soldaten noch die Zeit dazu haben, diese Offensive auch nur annähernd erfolgversprechend vorzubereiten. Eine solche Offensive wäre ein kollektiver Selbstmord. Dagegen wird sich massiver Widerstand formieren. Nach Hunderttausenden an gefallenen, verstümmelten und seelisch tief verletzten Menschen können wir davon ausgehen, dass heute in der Ukraine kaum noch jemand in diesem sinnlosen Krieg sterben will.
Nun hat Selenskij auch noch seinen Oberkommandierenden der Armee, Saluschny, entlassen und damit eine Vertrauenskrise in der Armee ausgelöst – einer Armee, die bereits einen enormen Blutzoll in der letzten fehlgeschlagenen Großoffensive gezahlt hat und die immer weniger Soldaten und Munition hat, um sich überhaupt zu verteidigen. Es ist daher auch nicht mehr undenkbar, dass es innerhalb der ukrainischen Armee zum Widerstand kommt und sich erste Zerfallserscheinungen zeigen würden – wenn sie nicht schon längst begonnen haben. Das würde Selenskijs politische Autorität weiter untergraben.
Und nicht nur das. Selenskyj kann auch nicht mehr damit punkten, im Westen als Held empfangen zu werden und damit enorme finanzielle und militärische Unterstützung ins Land zu bringen. Von zwei Reisen nach Washington ist er mit leeren Händen zurückgekehrt. Seine Kriegspläne werden nicht mehr uneingeschränkt von der NATO unterstützt. Es gibt kaum noch die massiven NATO-Waffen- und Munitionslieferungen wie von vor einem Jahr, und die nach langer Zeit freigegebenen EU-Gelder sind zu 2/3 Kredite, die zurückgezahlt werden müssten. Vor allem die USA haben den Kriegsschauplatz Ukraine bereits verlassen, und nach dem Putin-Interview von Tucker Carlson wird der republikanische Widerstand gegen weitere Waffenlieferungen im US-Kongress sich eher noch verstärken.
Den Ukrainern muss inzwischen klar geworden sein, dass ein "wir unterstützen Euch, solange es braucht" nie ernst gemeint war, dass eine Restukraine nie Mitglied der NATO werden wird und dass von der Leyens Versprechen, die Ukraine im Schnellverfahren in die EU aufzunehmen, nur leere Worthülsen waren. Den Ukrainern muss auch klar sein, dass Präsident Biden angezählt, ja politisch gelähmt ist und dass für die USA heute der Gaza-Krieg und der Konflikt im Nahen Osten wesentlich wichtiger sind als das Schicksal der Ukraine. Auch wissen die Ukrainer, dass mit immer höherer Wahrscheinlichkeit der nächste Präsident der USA Donald Trump heißen könnte und dass dieser, über ihre Köpfe hinweg, mit Russland einen Ausgleich suchen würde. Und von Europas Solidaritätserklärungen kann die Ukraine außer großer Worte nicht viel erwarten.
Die Ukrainer werden sich daher an die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen erinnern, als man sich nur einen Monat nach Beginn der Kriegshandlungen auf für die Ukraine äußerst günstige Friedensbedingungen geeinigt hatte. Es wäre daher naheliegend, dass eine Post-Selenskij-Regierung versuchen könnte, wieder mit Russland zu verhandeln. Wenn das passiert, könnte alles sehr schnell gehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Gespräche bereits im Geheimen gibt. Auch wenn der Westen nicht mit Putin reden will, so gibt es ja regelmäßige Kontakte zwischen den Militärs Russlands und der Ukraine – sonst wären die vielen Gefangenenaustausche und die erstaunlich niedrige Zahl der getöteten Zivilisten nicht denkbar.
Es ist zu erwarten, dass Putin auf eine ukrainische Gesprächsbereitschaft großmütig reagieren würde. Er wird die Ukraine nicht erniedrigen wollen und auch nicht verlangen, die Regierung auszutauschen (er hat ja nie eine Exilregierung aufbauen lassen). Er wird auch nicht in Kiew einmarschieren und schon gar nicht versuchen, die ganze Ukraine zu erobern. Seine vorrangigen Ziele werden sein zu verhindern, dass die Ukraine einem westlichen Bündnis wie der NATO beitreten wird, dass Russlands Zugang zum Schwarzen Meer garantiert ist und dass der russische Einfluss in der Ukraine weiterhin stark bleibt. Dazu braucht er die Kooperation großer Teile der ukrainischen Bevölkerung. Das wird nicht mit Gewalt zu erreichen sein. Putin wird deshalb Konzessionen machen müssen. Welche das sind, das wissen wir nicht.
Aber eine Sache ist schon jetzt klar: Was dann auch passiert, der Westen – und auch die USA – würden dabei keine Rolle spielen. Die NATO-Erweiterung nach Osten würde gestoppt werden, und die Ukraine, Georgien und Moldawien wie auch das Schwarze Meer würden zurück in die russische Einflusszone fallen. Der Rückzug der USA aus diesen Gebieten, wie auch aus vielen anderen Gebieten der Welt, würde unter Beifall des Globalen Südens beginnen und eine neue Zeit einläuten. Die Zeitenwende, die ein Bundeskanzler einst beschworen hatte, wird dann sehr anders aussehen, als er sich das vorgestellt hat.
All das wird aber keinen Frieden für Europa bringen und der Kampf um eine dauerhafte Friedenslösung wird jetzt erst beginnen müssen. Die EU-Staaten werden diesen Frieden mehr brauchen als Russland. Und doch gibt es bisher nicht den geringsten Ansatz für Überlegungen innerhalb der EU oder unter EU-Mitgliedsstaaten, wie ein gesamteuropäischer Frieden aussehen sollte und wie er erreicht werden könnte. Solche Überlegungen müssen genau jetzt dringend auf den Weg gebracht werden – andernfalls könnte die EU daran zerbrechen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 12. Februar auf der Webseite des Autors Michael von der Schulenburg. Michael von der Schulenburg ist Wirtschaftswissenschaftler und war als UN-Diplomat in den USA, Österreich, Afghanistan, Haiti, Kuwait, Irak, Iran, Pakistan, Sierra Leone und Syrien im Einsatz. Als Repräsentant der UN in Sierra Leone leitete er die weltweit erste integrierte Peacebuilding-Mission. Im Januar 2024 wurde er auf Platz 3 der Kandidatenliste des Bündnis Sahra Wagenknecht für die Europawahl gewählt.
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