Die Münchener Blase

Die alljährlich wiederkehrende Sicherheitskonferenz in der bayrischen Hauptstadt ist unfreiwillig zu einem Sinnbild für die Lage des politischen Westens geworden. Es treffen sich diejenigen, die einer Meinung sind. Mit anderen Sichtweisen kann man sich nicht mehr auseinandersetzen. Realitätsverweigerung steht hoch im Kurs.

Von Rüdiger Rauls

Spruchblasen

Berlin und München sind die Städte, in denen die Welt des politischen Westens noch in Ordnung zu sein scheint. Am Freitag, dem 16. Februar, hatten der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und sein ukrainischer Kollege Wladimir Selenskij in Berlin eine sogenannte bilaterale Sicherheitsvereinbarung geschlossen. Darin beabsichtigt Deutschland "die Ukraine so lange wie nötig uneingeschränkt zu unterstützen, um der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen und ihre territoriale Integrität innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen wiederherzustellen." (FAZ, 17.02.2024)

Was wie ein starkes Signal daherkommt, täuscht. Zwar hatten bereits auch Großbritannien und am selben Abend auch noch Frankreich ähnliche bilaterale Abkommen mit der Ukraine geschlossen, aber sie verpflichten zu nichts. Wenn Selenskij von einem "beispiellosen Dokument" spricht, so ist er sich entweder selbst dieser Täuschung nicht bewusst, was unwahrscheinlich sein dürfte, oder aber er macht gute Miene zum bösen Spiel. Denn diese bilateralen Abkommen sind nicht mehr als ein Trostpflaster für die verweigerte NATO-Mitgliedschaft.

Die Ukrainer sollen zwar sterben für die Freiheit des Westens, wofür man ihnen auch Waffen und Geld zur Verfügung stellt, aber die NATO-Staaten selbst wollen sich nicht von der Ukraine in einen Krieg mit Russland hineinziehen lassen. Die Aufnahme in das westliche Bündnis, worin Selenskij vermutlich die einzige Chance sieht für einen Sieg über Russland, würde die NATO zum Beistand mit der Ukraine zwingen. Sie befänden sich also umgehend im Kriegszustand mit Russland, was sie scheuen wie der Teufel das Weihwasser, besonders der große Bruder jenseits des Atlantiks.

Was also soll Selenskij sonst machen, als das zu nehmen, was einzelne NATO-Staaten ihm zu geben bereit sind – bilaterale Abkommen. Besser als nichts. Und um seine Enttäuschung nicht zu offen zu zeigen, spricht er von einem "beispiellosen Dokument". Dass das Abkommen nur eine Absichtserklärung ist und damit nicht rechtsverbindlich, weiß auch Selenskij. Es verpflichtet die Deutschen zu nichts, vermittelt aber der Öffentlichkeit den Eindruck von Geschlossenheit.

Doch Selenskij hat auch keine andere Wahl mehr. Die Lage der Ukraine wird immer schwieriger. Nach der gescheiterten Offensive, der Ablösung von General Saluschny und dem Verlust von Awdejewka, der zu dem Zeitpunkt noch nicht feststand, aber abzusehen war, ist der ukrainische Präsident nicht mehr in der Lage, große Forderungen zu stellen. Aus den USA kommt kein Geld mehr, und da kann er es sich nicht auch noch mit den Europäern verscherzen.

Denn wenn auch das Abkommen der Ukraine uneingeschränkte Unterstützung zusagt, so gilt diese doch nur "so lange wie nötig". Was aber nötig ist, entscheiden die deutschen und andere Vertragspartner, nicht der ukrainische Präsident. Schon jetzt bekommt er nicht, was nach seiner Meinung nötig ist: deutsche Marschflugkörper, auch keine weitreichenden amerikanischen Raketen, die russisches Kernland erreichen könnten, und schon gar keine Atomwaffen.

Zudem dürften beide Vertragspartner nicht so weltfremd sein, dass ihnen der Ernst der Lage in der Ukraine nicht bewusst ist, wenn man auch der Öffentlichkeit etwas anderes zum Besten gibt, als man im Hinterkopf hat. Denn im Widerspruch zum öffentlich erklärten Beistand steht die Formulierung:

"Die Unterstützung gilt demnach auch für den Fall, dass es nach Ende des Krieges zu einem abermaligen Angriff Russlands kommen sollte." (FAZ, 17.02.2024)

Das kann auch so verstanden werden: "Schließt endlich Frieden mit Moskau, und wir sorgen dafür, dass sie euch in Ruhe lassen." Es lässt sich nur vermuten, dass in dem Falle Absprachen mit Russland ausgehandelt werden sollen, die weitestgehend die russischen Bedingungen erfüllen. Wie anders sollte der Westen eine geschwächte Ukraine beschützen können, wenn es bei einer stärkeren schon nicht gelang? Will man an der Seite einer besiegten Ukraine in den Krieg ziehen, den man sich mit einer ungeschlagenen ukrainischen Armee nicht zugetraut hatte?

Geplatzte Blasen

Parallel zur Unterzeichnung des deutsch-ukrainischen Abkommens fand in München die Sicherheitskonferenz statt. Sie ist nur noch ein "Ort der Selbstvergewisserung des sogenannten Westens", nicht mehr der des globalen Meinungsaustauschs, der sie einmal war. Wer diese heile Welt stören könnte, wurde erst gar nicht eingeladen, und wem das gar allzu harmonisch war, kam nicht. So gehören offensichtlich die Alternative für Deutschland (AfD), aber auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nicht zu den erwünschten Personen, und schon gar nicht die Vertreter Russlands oder Irans.

Der einzige, der nicht so recht in diesen Kreis passte, war der chinesische Außenminister Wang Yi. Auf China scheint man doch nicht ganz verzichten zu wollen oder zu können, jetzt wo man es sich schon mit den Russen verscherzt hatte. Anscheinend ging selbst der Frankfurter Allgemeine Zeitung die Einengung der Meinungsvielfalt zu weit.

"Dass unter den amerikanischen Gästen besonders viele Demokraten waren, bedauerten vor allem jene, die auf Gespräche mit konservativen Politikern gehofft hatten." (FAZ, 17.02.2024)

Auseinandersetzungen mit abweichenden Ansichten zu den Vorgängen in der Welt scheint man sich nicht mehr zuzutrauen.

Offensichtlich zieht man es vor, sich in der eigenen Blase einzurichten, anstatt das Risiko einzugehen, durch andere Sichtweisen verunsichert zu werden. Und dennoch brach in den abgesicherten Raum von Einheitsmeinung und Selbstbetrug die Wirklichkeit herein. Zuerst kam die Meldung vom Tod Nawalnys. Damit war wohl auch die letzte Hoffnung zerstoben, dass Russlands Präsident Putin durch einen der Ihren abgelöst werden könnte. Mit Nawalny waren endgültig die Aussichten auf einen Regime-Change gestorben, die bisher ohnehin an der Festigkeit der russischen Gesellschaft gescheitert waren. Wer sollte denn nun noch ein Anker sein für diese westlichen Fantasien?

Damit nicht genug, musste dann auch noch die Meldung vom Fall der Stadt Awdejewka verdaut werden, die monatelang heiß und blutig umkämpft war. War der Tod Nawalnys menschlich bedauerlich, so war der Fall Awdejewkas politisch und militärisch ein schwerer Tiefschlag, der nun auch die letzten Selbsttäuschungsversuche über einen Sieg der Ukraine im Krieg gegen Russland als Traumtänzerei entlarvte. Nach dem Scheitern der ukrainischen Offensive im Sommer des vergangenen Jahres kann der Fall Awdejewkas als das Stalingrad des Ukrainekriegs angesehen werden.

Solche Neuigkeiten passten so gar nicht in die ohnehin schon schwer angeschlagene Befindlichkeit der versammelten westlichen Führungsriege, hatte man doch sicherlich gehofft, hier wieder etwas Erbauung für die geschundene Seele zu finden. Aber ein Kommentar konnte nur niedergeschlagen feststellen:

"Der Westen schwankt zwischen Entschlossenheit in der Theorie und Ohnmacht angesichts der Realität."

Schaumblasen

Wenn man sich auch selbstbewusst gegenüber seinen Widersachern gab, so konnte die innere Verunsicherung der Münchener Blase nur schwer verdeckt werden.

"Die Konferenz steht in dieser Zeit unter dem Motto 'Lose-Lose', was in seiner alternativlosen Ausweglosigkeit nur durch ein hinzugefügtes Fragezeichen gemildert wurde. Ist also doch nicht alles verloren?" (FAZ, 17.02.2024)

Diesen künstlich eingefügten Hoffnungsschimmer in Form eines Fragezeichens haben die Ereignisse im Osten Europas wieder einmal zunichtegemacht. Zudem: Was ist das für eine Hoffnung, die sich an einem Fragezeichen aufhängt? Wieder einmal hat Russland den westlichen Jubelgästen die Feierlaune verhagelt und ihnen die eigene Selbsttäuschung deutlich gemacht.

Es fällt dem politischen Westen immer schwerer, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Aber man kann ihm nicht unterstellen, dass er sich nicht alle Mühe gäbe, weiterhin die Wirklichkeit nach allen Regeln der Kunst auszublenden. So bleiben vernünftige Schlussfolgerungen aus den neuesten Ereignissen weiterhin aus. Waffenstillstand in der Ukraine, Einstellung der Waffenlieferungen sowie der Verschwendung von Steuergeldern und Verständigung mit Russland sind keine Option.

Stattdessen schwadronierte die amerikanische Außenministerin Kamala Harris (ja, es gibt sie noch):

"Wir werden demokratische Werte zu Hause und im Ausland verteidigen, wir werden dem Aufstieg von Diktaturen entgegentreten. Das macht, da bin ich sicher, auch Amerika stark." (FAZ, 17.02.2024)

Ob die Völker im Ausland das wollen, scheint für sie keine Bedeutung zu haben. Was würde denn Frau Harris sagen, wenn Russland, China, der Iran oder Nordkorea das eigene Gesellschaftssystem nach Amerika exportieren wollten?

Auch mit der Stärke der USA ist es nicht weit her. Wenn Investoren und Sparer keine amerikanischen Staatsanleihen mehr kaufen, ist zappenduster. Schon jetzt müssen die USA jedes Jahr fast eine Billion (europäisch) Dollar Zinsen zahlen, etwa ein Drittel der gesamten Staatseinnahmen. Statt angesichts der finanziellen Lage der USA kleinere Brötchen zu backen, lebt sie immer noch geopolitisch auf großem Fuße:

"Sollte der Kongress Hilfen für die Ukraine blockieren, wäre das ein 'Geschenk für Putin'." (FAZ, 17.02.2024)

Harris sollte sich lieber Gedanken machen über Geschenke an das eigene Volk.

Wenn er auch nicht anwesend war, so war doch Wladimir Putin die Hauptperson des Treffens. Ob es hilft, dass nur über ihn gesprochen wird statt mit ihm? Stattdessen versuchte eine weitere kriegerisch auftretende Frau, mit Appellen Auswege anzubieten: die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Für sie sollen nicht Worte, sondern Taten die Wende bringen.

"Sie pocht auf mehr und schnellere Militärhilfen."

Nun war das nicht gerade neu, vielmehr Inhalt jeder Rede, die seit dem Krieg in der Ukraine gehalten wurde und die Wende bringen sollte. Aber war das der "Silberschweif", den Veranstalter Christoph Heusgen den Teilnehmern der Konferenz zu Beginn zu suchen aufgetragen hatte? Am Schluss der Veranstaltung wurde er dann doch noch fündig und Heusgen konnte ihn den Teilnehmern mit auf den Nachhauseweg geben. Der Silberschweif war die "Entschlossenheit des Westens". Doch so richtigen Glanz konnte auch er nicht verbreiten, musste ein Kommentator der Veranstaltung doch feststellen:

"Diese Beschwörungen verlieren ihre Schlagkraft, wenn Russland trotzdem keinerlei Anstalten macht, bei seinem Krieg nachzulassen."

Wenn sie es auch nicht wahrhaben oder sich eingestehen wollen, aber so ist doch offensichtlich, dass alles von Russland abhängt. Der politische Westen selbst hat anscheinend keine Kraft mehr, eigene zukunftsweisende Lösungen zu finden, geschweige denn sie umzusetzen.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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