Von Kirill Benediktow
Geschichtswissenschaft scheint nur auf den ersten Blick eine akademische Disziplin zu sein, die sich ausschließlich mit den Angelegenheiten vergangener Zeiten beschäftigt. In der Realität dient die Geschichte oft als mächtiges Instrument der Propaganda und des politischen Kampfes.
Vor einigen Tagen veröffentlichte die Webseite Politico einen umfangreichen Artikel des amerikanischen Historikers Casey Michel mit dem provokanten Titel "Russlands Ausrottung der indigenen Bevölkerung Alaskas sagt uns etwas Wichtiges über die Ukraine". Dabei verwendet Michel das Wort "slaughter", was nicht einfach "Ausrottung", sondern "Massaker" bedeutet. Noch kein Genozid, aber fast.
"Dazumal kontrollierte Russland 20 Prozent des US-Territoriums. Dieses historische Erbe hilft uns, seine Aggression gegen die Ukraine zu erklären", heißt es in dem Artikel. Michel behauptet, die russische Kolonisierung Alaskas sei von "zügelloser Gewalt, grausamen Massakern und der Ausrottung der indigenen Bevölkerung" begleitet gewesen. Seine Erzählung beginnt jedoch mit aktuellen Ereignissen: im Juli 2020 wurde in Sitka (im russischen Nowo-Archangelsk) ein Denkmal für den Kaufmann Alexander Andrejewitsch Baranow abgebaut, der fast 30 Jahre lang – von 1790 bis 1818 – an der Spitze Russisch-Amerikas stand. Das Denkmal stand in Sitka noch etwas länger – von 1989 bis 2020. Und dann wurde es entfernt … im Zuge des Kampfes gegen Rassismus, der die Staaten während der BLM-Unruhen erfasste. Die Resolution des Stadtrats von Sitka besagt, dass Baranow "die Unterjochung der Tlingit und der Aleuten überwachte" und eine Politik umsetzte, die "oft durch die Theorie der rassischen und kulturellen Überlegenheit gerechtfertigt war". Dem russischen Kaufmann wurde unter anderem "Gewalt gegen einheimische Frauen" sowie "Mord und Diebstahl von indigenem Eigentum" vorgeworfen. Erwähnt wurde auch, dass die Tlingit-Indianer ihm den Spitznamen "Herzlos" gaben.
Zu A.A. Baranow, einem der zu Unrecht vergessenen Helden der russischen Geschichte, kommen wir noch zurück. Nicht er ist das Hauptziel des ziemlich kecken Artikels von Casey Michel. Das eigentliche Ziel des Artikels ist der Versuch zu beweisen, dass Russland sich nicht von Kolonialreichen wie Spanien, Portugal oder Großbritannien unterscheidet. "Genau wie britische, französische, spanische und portugiesische Entdecker (man beachte den Begriff) mit den Eingeborenen in den wärmeren Ländern Amerikas umgingen, sahen die russischen Truppen (d. h. die Europäer haben "Entdecker" und die Russen haben "Truppen") in den Eingeborenen nichts weiter als eine humanoide Plage."
Michel zeichnet ein ziemlich ekelhaftes Bild von der Versklavung der Ureinwohner Alaskas durch die Russen: zuerst verlangten sie Yasak (Tribut in Form von Pelzen), dann nahmen sie Geiseln (Amanats) aus den Reihen der lokalen Bevölkerung, um die Zahlung des Tributs sicherzustellen. "Oft entführten russische Vertreter die Kinder der örtlichen Anführer … in einigen Fällen … entführten die Russen Kinder in der Anzahl von bis zur Hälfte der männlichen Bevölkerung einer bestimmten Gemeinde."
Der Grund für diese Betonung auf Kinder wird deutlich, wenn der Historiker Analogien zur heutigen Ukraine heranzieht. Denn einer der Vorwürfe, die vom Westen im Gewand von Moralaposteln gegen unser Land erhoben werden, ist die "Entführung" ukrainischer Kinder, die angeblich ihrer nationalen Identität beraubt werden sollen. Wie das sprichwörtliche 25te Filmbild [Technik der subliminalen Beeinflussung] hat der vermeintlich historische Artikel eine versteckte Botschaft: Russland agiert in der Ukraine mit denselben Methoden, die Baranow und seine Verbündeten vor zwei Jahrhunderten bei der Kolonisierung Alaskas anwandten. "In Alaska versuchten die russischen Kolonisatoren "die [Einheimischen] der Staatsbürgerschaft des Russischen Reiches zu unterwerfen" – eine identische Politik, die jetzt in der Ukraine verfolgt wird. Nach Alaska brachte Russland vertrauenswürdige Politiker, um die unterjochte einheimische Bevölkerung zu kontrollieren – genau wie wir es in der Ukraine sahen", schreibt Michel.
Die Tatsache, dass das Territorium der heutigen Ukraine seit Jahrhunderten ein russisches Siedlungsgebiet war und seine Bevölkerung 1654 freiwillig unter die Herrschaft des russischen Zaren trat, wird dabei ignoriert.
Nun, nach der Feststellung, dass sich die Ukraine für Michel nicht allzu sehr von Alaska unterscheidet, können wir zur realen, nicht erdachten Geschichte der Kolonisierung des russischen Amerikas zurückkehren. Wenden wir uns den Quellen zu, darunter die "Verfügung von G.I. Schelichow und den Seefahrern seiner Gesellschaft, angenommen auf der Insel Kyktak (Kadyak) am 11. Dezember 1785". G.I. Schelichow, von Gavriil Derzhavin unter dem Namen Kolumbus von Russland verherrlicht – tatsächlich der Entdecker von Russisch-Amerika, der Gründer der Nordost-Kompanie, die später zur Russisch-Amerikanischen Kompanie umgewandelt wurde, welche die amerikanischen Kolonien Russlands bis zum Verkauf von Alaska 1867 verwaltete. Im Artikel von Michel findet er keine Erwähnung.
"Wir beschlossen, jeder von uns aus Eifer gegenüber unserem liebenswürdigen Vaterlande und aus eigenem Willen, auf den Inseln und in Amerika verschiedene unbekannte Völker zu finden, mit denen Handel zu treiben, und dadurch … zu versuchen, solche Völker unter die Autorität des russischen Zarenthrons zu bringen, ihnen Staatsangehörigkeit zu gewähren … Und hier … wir fanden zahlreiche Völker, von denen wir mit großer Schwierigkeit, sowohl durch Kampf, als auch durch Ertragen äußerster und vieler Nöte und Gefahren, bereits mehr als vierhundert Kinder als Amanate, als Pfand der Freundschaft erhalten haben, von denen wir eine beträchtliche Anzahl von Knaben zu Talmachi ausgebildet haben, und außerdem lehren wir einige der russischen Grammatik".
Damit wären wir bei der Frage der "entführten Kinder". Die "Amanats", die von den Russen angeblich gefangen gehalten wurden, um Yasak von den lokalen Stämmen zu erhalten, entpuppen sich als junge Tlingit- und Aleuten-Jugendliche, die "als Pfand der Freundschaft" übergeben und als Dolmetscher ("Talmachi") für die Arbeit in der Kolonialverwaltung ausgebildet wurden. Erstaunliche "Grausamkeit"!
Und das hier haben Historiker über den russisch-orthodoxen Missionar Erzbischof Innokentij (Benjaminov) geschrieben, der die einheimische Bevölkerung in Russisch-Amerika seelsorgerisch betreut hat. In der Kolonie angekommen, "gewann er sofort außerordentliche Popularität unter den Aleuten..... Benjaminov behandelte sie mit besonderer Fürsorge, zeigte echtes Interesse an ihrem Leben und respektierte ihre Sitten und Gebräuche … Hauptsächlich ihm ist es zu verdanken, dass in der Kolonie ein System zur Auswahl begabter junger Menschen geschaffen wurde, die an der neu eröffneten Seefahrerschule in Nowo-Archangelsk studieren konnten. Ihre besten Absolventen erhielten die Möglichkeit, ihre Ausbildung in Bildungseinrichtungen des Imperiums fortzusetzen".
Und zum Schluss – Alexander Baranov war wirklich ein harter, manchmal sogar grausamer Mann, der sich "Pizarro von Russland" nannte. Baranow kämpfte tatsächlich mit den Tlingiten, schlief viele Jahre in seinem Kettenhemd. Der Grund für die jahrelangen Kriege mit den Indianern war jedoch nicht die Kolonialpolitik von Sankt Petersburg, sondern die provokative Tätigkeit britischer und amerikanischer Geschäftsleute, die ihre Konkurrenten aus Alaska und von den Inseln der Aleuten zu verdrängen suchten (der Goldrausch war nicht weit entfernt, doch diese Gebiete waren reich an Pelzen und Meerestieren). Der amerikanische Gauner namens Barber versorgte die Tlingit nicht nur mit Feuerwasser und Feuerwaffen, er brachte sie auch gegen die Russen auf, und seine als Indianer verkleideten Matrosen beteiligten sich an Überfällen gegen die russischen Ostrogs (Befestigung) und Forts. Die Tlingit, so schrieb der berühmte russische Entdecker Nikolai Rezanov, "sind von Leuten aus Boston mit den besten Gewehren und Pistolen bewaffnet, verfügen sogar über Falconets". Damit hatte es A.A. Baranov zu tun, der keineswegs ein herzloser Kolonisator war, wie Michel ihn darzustellen versucht. Bekanntlich wurde Baranov Taufpate des Tlingit-Häuptlings in Sitka, als dieser aus eigenem Willen den russisch-orthodoxen Glauben annahm. Und geheiratet hat der russische "Gouverneur" eine indigene Schönheit (Indianerin), die mit dem Namen Anna getauft wurde …
Keine dieser historischen Tatsachen werden wir in Michels Artikel finden. Und das liegt kaum an banaler Unprofessionalität – vielmehr widerlegen diese Fakten einfach die Theorie, Russland sei ein koloniales Raubtier wie Großbritannien, Frankreich oder Spanien gewesen.
Für den amerikanischen Historiker gehört es sich, die Leser davon zu überzeugen, dass Russland kein moralisches Recht darauf hat, den Kolonialismus anderer Mächte zu verurteilen (und daher die Bewegung des globalen Südens zur Befreiung vom Diktat des Westens nicht anführen kann). So gibt Michel sein Bestes und versucht, die Russen als blutige Sadisten darzustellen, die in der Ukraine ihr übliches Geschäft treiben.
Nur ist die Geschichte eine zweischneidiges Schwert. Wenn man eine so undankbare Aufgabe wie die Verzerrung der Geschichte zugunsten unmittelbarer politischer Interessen auf sich nimmt, sollte man darauf gefasst sein, dass die echten (und nicht die erdachten) Verbrechen der angelsächsischen Kolonisten, die beinahe die gesamte indigene Bevölkerung Nordamerikas eliminiert hatten, ans Licht kommen. Diese Seiten der Geschichte sind recht gut erforscht worden. Laut Ward Churchill von der University of Colorado ging die Bevölkerungszahl der nordamerikanischen Indianer zwischen 1500 und 1900 von 12 Millionen auf 270.000 Menschen zurück. Churchill nannte diesen Prozess einen "massiven Völkermord". Und David E. Stannard, Historiker an der Universität von Hawaii, bezeichnete die Ausrottung der indianischen Bevölkerung als "den schlimmsten menschlichen Holocaust, den die Welt je gesehen hat". Sollte dieses Thema ernsthaft erforscht werden, könnte das sehr unangenehme Folgen für Washington haben.
Daher sollten sich "Forscher" wie Michel an das alte Sprichwort erinnern: "Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen."
Mehr zum Thema – Konferenz über Berufsbildung im kaiserlichen Russland findet in Moskau statt
Zuerst erschienen bei RT Russian. Übersetzt aus dem Russischen.