Der frühere deutsche Bundeskanzler hat in einem Interview mit der Berliner Zeitung seine Auffassung zu den Konflikten in der Ukraine und im Nahen Osten dargelegt – und die gegenwärtige deutsche Politik mit deutlichen Worten kritisiert.
Die Ausführungen des Altkanzlers zum Nahostkonflikt bewegten sich relativ nahe am üblichen politisch-medialen Diskurs zum Thema. Schröder lobte Bundeskanzler Olaf Scholz für seine Politik, dieser mache "mit Blick auf Israel aktuell keine Fehler". Israel habe das Recht, sich zu verteidigen, müsse aber auf die Verhältnismäßigkeit achten. Die Juden in Deutschland sieht Schröder nicht gefährdet, sie würden durch Polizei und Justiz geschützt.
Kritischer äußerte sich der 79-Jährige zur Rolle der Bundesrepublik und des Westens insgesamt im Ukrainekonflikt. Schröder beschrieb dabei, welche Erfahrungen er bei seinen Vermittlungsversuchen Anfang 2022 machte. Der heutige ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow sei als Vertrauter des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij beteiligt gewesen. Es habe fünf kritische Punkte gegeben, deren Lösung eine Beendigung des Krieges ermöglicht hätte:
"Erstens: Ein Verzicht der Ukraine auf die Mitgliedschaft in der NATO. Die Ukraine kann ohnehin die Bedingungen nicht erfüllen. Zweitens: Das Problem der Sprache. Das ukrainische Parlament hat die Zweisprachigkeit abgeschafft. Das muss geändert werden. Drittens: Donbass bleibt Teil der Ukraine. Der Donbass braucht aber eine größere Autonomie. Ein funktionierendes Modell wäre das von Südtirol. Viertens: Die Ukraine braucht außerdem Sicherheitsgarantien. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen plus Deutschland sollte diese Garantien geben. Fünftens: die Krim."
Eine Lösung sei greifbar gewesen, aber durch die USA verhindert worden:
"Die Einzigen, die den Krieg regeln könnten gegenüber der Ukraine, sind die Amerikaner. Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit Rustem Umerow haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie nicht durften. Die mussten bei allem, was sie beredet haben, erst bei den Amerikanern nachfragen. Ich habe mit Umerow zwei Gespräche geführt, dann mit Putin ein Vier-Augen-Gespräch und danach mit Putins Gesandten. Umerow hat das Gespräch mit Grüßen von Selenskij eröffnet. Als Kompromiss für die Sicherheitsgarantien der Ukraine wurde das österreichische Modell vorgeschlagen oder das 5+1-Modell. Das fand Umerow gut. Auch bei den anderen Punkten zeigte er Bereitschaft. Er sagte auch, dass die Ukraine keine NATO-Mitgliedschaft wolle. Er sagte auch, dass die Ukraine Russisch im Donbass wieder einführen will. Doch am Ende passierte nichts. Mein Eindruck: Es konnte nichts passieren, denn alles Weitere wurde in Washington entschieden. Das war fatal."
Die USA hätten geglaubt, die Russen klein halten zu können und stark genug zu sein, Russland und China zugleich in Schach zu halten: "Nach meiner bescheidenen Meinung ist das ein Irrtum." Nach Auffassung Schröders wäre eine Wiederaufnahme des Friedensplans möglich – allerdings nur auf Initiative Deutschlands und Frankreichs. Die Einwände des Interviewers Tomasz Kurianowicz, des polnischstämmigen, NATO-freundlichen Chefredakteurs der Berliner Zeitung, wonach man Putin nicht trauen dürfe und Russland auch Westeuropa angreifen könne, wischte Schröder beiseite.
Man müsse die russische Sorge vor einer weiteren Ausbreitung der NATO ernst nehmen:
"Im Westen will es niemand hören: Egal, wer an der Macht ist, in Russland existiert die Überzeugung, dass der Westen sich mit der NATO weiter ausbreiten will, und zwar in den postsowjetischen Raum. Stichwort: Georgien und Ukraine. Das wird niemand, der an der Spitze Russlands steht, zulassen. Diese Gefahrenanalyse mag emotional sein, aber sie ist in Russland real. Der Westen muss das verstehen und entsprechend Kompromisse akzeptieren, sonst wird Frieden schwer erreichbar sein."
Gerade Frankreich und Deutschland sollten nicht nur auf Waffenlieferungen setzen, sondern auch Gesprächsangebote machen:
"Die Waffenlieferungen sind doch keine Lösung für die Ewigkeit. Doch sprechen will niemand. Alle sitzen in Schützengräben. Wie viele Menschen müssen noch sterben? Es ist ein bisschen wie im Nahen Osten. Wer sind die Leidtragenden auf der einen und auf der anderen Seite? Arme Menschen, die ihre Kinder verlieren. Keiner von den Leuten, auf die es ankäme, rührt sich. Der Einzige, der irgendetwas hinbekommen hat, obwohl er immer diffamiert wird, war Erdoğan mit seinem Getreideabkommen. Das treibt mich wirklich um."
Schröder kritisiert darüber hinaus das Moralisieren in der deutschen Politik, konkret die Grünen und Außenministerin Annalena Baerbock, die gegenüber Russland und China moralisierend auftrete und damit Deutschland schade:
"Das ist das Problem der Grünen. Ich verstehe die Moralisierung der Grünen nur bedingt. Außenministerin Baerbock moralisiert gegenüber China und Russland, okay. Dabei vergisst sie, dass Deutschland zu den beiden ein vernünftiges Verhältnis braucht, ohne dass damit der Krieg gegen die Ukraine nicht zu verurteilen ist."
Den Einwand des Interviewers, dass Baerbocks Moralisieren doch realpolitisch motiviert sein könne, weil man sich damit bei "unserem wichtigsten Verbündeten" einschmeichle, wischt der Altkanzler beiseite:
"Wir müssen das Bündnis intakt halten, aber nicht um jeden Preis. Wir haben eine weitgehend souveräne Außenpolitik betrieben. Das haben wir heute so nicht mehr."
Der transatlantisch bewegte Interviewer entgegnet:
"Dafür schützen uns die Amerikaner."
Daraufhin Schröder:
"Aber Schutz wofür? Glauben Sie ernsthaft, dass nach dem Desaster, das die Russen in der Ukraine mit ihrem Krieg erleben, die jetzt darüber nachdenken, Westeuropa anzugreifen?"
Auch das Verständnis der Interviewer für US-Vorstellungen, die EU-Staaten sollten zu Russland und China Distanz halten, lässt der Altkanzler nicht gelten:
"Nein, das ist nicht so. Die ökonomischen Beziehungen der Amerikaner zu den Chinesen sind doch viel bedeutender als unsere, zu Russland im Übrigen auch. Es gibt einen Haufen amerikanischer Unternehmen, die in Russland nach wie vor aktiv sind. Das stört die amerikanische Regierung überhaupt nicht. Die macht ihr eigenes Ding. Und Ökonomie ist Ökonomie. Wir sind diejenigen, die das, was die Amerikaner wollen, politisch vollstrecken. Die Amerikaner selbst tun das aber nicht."
Die ihrerseits moralisierende Frage der Berliner Zeitung, ob Schröder nicht auf Distanz zu Putin gehen müsse, weil dieser "Ihr Erbe und das der Kanzlerin [Angela Merkel], die deutsch-russische Freundschaft, zerstört" habe, wischt Schröder ebenfalls vom Tisch:
"So funktioniert das Zusammenleben nicht. So funktionieren menschliche Beziehungen nicht. Was Putin angeordnet hat, halte ich für falsch. Das habe ich öffentlich gesagt. Das muss ich auch nicht ständig tun. Es gibt Beziehungen zwischen Menschen, die unterschiedlicher Ansicht sind. Das ist in meinem Fall mit Wladimir Putin so. Das zweite ist eine politische Frage. Russland bleibt Russland. Egal, wer es wie regiert. Deutschland hat ein Interesse daran, ökonomisch und politisch eine Beziehung zu Russland aufrechtzuerhalten, auch wenn das schwerfällt."
Im letzten Teil des Gesprächs wird deutlich, wie kritisch der Altkanzler die deutsche Gegenwart und auch seine eigene Partei mittlerweile sieht. Die "Kluft zwischen der Meinung der Menschen auf der Straße und den öffentlich geführten Debatten" sei noch nie so groß gewesen wie heute. Während die Politik sich mit Gendern, Heizungsgesetz und "Doppelwumms" befasse, fühlten sich die Menschen mit ihren realen Problemen allein gelassen – und die Menschen hätten recht:
"Natürlich haben die recht. Scholz sagt den Doppelwumms an und gibt 100 Milliarden für die Rüstung aus, wo doch niemand weiß, was das eigentlich ist. Sind das Panzer? Flugzeuge? Artillerie? Und wer kriegt die Aufträge? Das wird die Debatte nach dem Krieg sein. Gleichzeitig sehen die Menschen, wie die Infrastruktur verkommt und wie ihre Möglichkeiten reduziert werden. Ein großer Fehler war, dass Scholz das Heizungsgesetz von Robert Habeck durchgelassen hat, ohne zu wissen, was das für einen normalen Haushalt bedeutet. Und dann gibt es eine Partei, die sagt: 'Erst einmal wir!' Diese Menschen wählen dann AfD."
Der AfD unterstellt der Altkanzler "dumme Gedanken". Er könne mit ihr gar nichts anfangen, aber sie sei keine Gefahr. Seiner eigenen Partei schreibt Schröder ins Stammbuch:
"Wenn die SPD nicht begreift, dass sie sich auf die Kernthemen fokussieren muss, dann haben wir ein Problem. Gendern? Kann man machen, wenn wirtschaftlich alles in Ordnung ist. Wenn es eng wird und die Mehrheit der SPD-Wähler das Gefühl hat, die kümmern sich um Randthemen und nicht um Ausbildung, Wohnen und Arbeit, dann wird es eng."
Für Sahra Wagenknecht gibt es von Schröder Lob. Diese sei eine "kluge Frau", die wisse, "wie ganz normale Leute denken". Er bezweifelt allerdings, dass ihre neue Partei wirklich eine Rolle spielen kann. Ein Zusammengehen mit Wagenknecht kommt für Schröder bei aller Kritik an seiner eigenen Partei nicht in Betracht:
"Nein, das mache ich nicht. Selbst wenn ich mich ärgere über meine Partei: Ich bin seit 1963 Sozialdemokrat. 60 Jahre. Das bleibe ich auch. Egal, ob mir die Führung gefällt oder nicht. Und sie gefällt mir nicht."
Die SPD, so der Altkanzler sehr wohlwollend und geschichtsvergessen, sei der "Garant für Demokratie in den letzten 150 Jahren".
Das Interview endet mit Fragen zu den zerstörten Gas-Pipelines in der Ostsee. Wenig überraschend spricht sich der Altkanzler weiterhin dafür aus, Nord Stream 2 in Betrieb zu nehmen:
"Ja. Das wäre vernünftig, unter preislichen Gesichtspunkten. Beide Leitungen wären reparierbar."
Auf die Frage, ob die USA Nord Stream gesprengt hätten, erklärt Schröder, er wisse es wirklich nicht – um dann indirekt doch deutlich zu bejahen:
"Es gibt nur einen Hinweis: Biden hat Scholz Anfang 2022 gesagt, dass Nord Stream nicht in Betrieb gehen kann, wenn Russland die Ukraine angreift. Daraus kann jeder seine Schlüsse ziehen."
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