Von Pierre Lévy
Am 20. September vollendete Aserbaidschan seine Übernahme von Bergkarabach. Die Provinz gehört zwar verwaltungstechnisch zu diesem Land, ist aber historisch von Armeniern bewohnt – manchmal wird sie sogar als Wiege der armenischen Kultur bezeichnet.
Der Konflikt zwischen der separatistischen Enklave und Baku (der aserbaidschanischen Hauptstadt) geht auf den Zerfall der UdSSR zurück. Er ist sogar eine direkte Folge davon, da die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften ebenso wenig wie der Krieg zwischen Russland und der Ukraine im Rahmen der Sowjetunion hätte stattfinden können. Die letzte massive Konfrontation zwischen den beiden Ländern fand im Herbst 2020 auf Initiative Aserbaidschans statt. Dabei hatte Baku mit der militärischen, politischen und diplomatischen Unterstützung der Türkei und zahlreichen israelischen Waffenlieferungen einen Sieg errungen.
Die Kämpfe hatten den Tod von fast 7.000 Soldaten und Zivilisten zur Folge und zu Zehntausenden von Vertriebenen geführt. Sie endeten mit einem Waffenstillstand, der unter der Schirmherrschaft Russlands geschlossen wurde, dessen 2.000 Soldaten später als Friedenstruppe zwischen den Kriegsparteien in das Gebiet kamen. Baku erlangte Gebiete zurück, die zuvor unter armenischer Kontrolle standen. Bergkarabach selbst wurde jedoch weiterhin von den Armeniern vor Ort verwaltet, deren Traum der Anschluss an das Mutterland ist.
Für Baku, das die vollständige Kontrolle über die Region zurückgewinnen wollte, war dies immer noch zu viel. In der Annahme, dass die internationale Lage für ihn günstig war – Moskau hatte andere Prioritäten als Druck auf die beiden Hauptstädte auszuüben, damit sie verhandelten –, begann der aserbaidschanische Präsident im Dezember 2022 eine Blockade der Enklave. Dieses Manöver wurde dadurch erleichtert, dass die Enklave nur über eine einzige Straße (den Latschin-Korridor) mit Armenien verbunden ist. Als diese Straße blockiert war, versiegte die Versorgung mit dem Nötigsten zunehmend, was zu einem immer dramatischeren Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten für die Zivilbevölkerung führte.
Damit konnte Baku der Region den Todesstoß versetzen: Am 18. September ordnete der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew unter dem Deckmantel einer "Anti-Terror"-Operation eine letzte Militäroffensive an. Armenien verurteilte daraufhin die "großangelegte Aggression", deren Folgen besonders fatal seien.
Das Kräfteverhältnis ließ den Separatisten keine andere Wahl, als zu kapitulieren und ihre Waffen abzugeben. Baku versprach, den Armeniern, die im Land bleiben wollten, die bürgerlichen und religiösen Rechte zu garantieren, rechnete aber damit, dass viele von ihnen nach Armenien fliehen werden.
In Frankreich, wo die armenische Gemeinschaft stark vertreten ist, fanden die meisten politischen Kräfte – vor allem über ihre Europaabgeordneten – sehr harte Worte für Präsident Alijew, wobei einige sogar auf die Gefahr einer "ethnischen Säuberung" hinwiesen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte die Militäroffensive Aserbaidschans und rief zu einer Wiederaufnahme des Dialogs auf. Der Chefdiplomat war besonders verärgert, da Brüssel die Gespräche zwischen Baku und Jerewan gesponsert hatte und sich im August sogar damit brüstete, kurz vor einer Einigung zu stehen.
Verdrossen beschuldigte einer von Borrells Stellvertretern Moskau, für die aserbaidschanische Offensive verantwortlich zu sein, indem er die "Passivität" der russischen Eingreiftruppe anprangerte. Das Kalkül des Kremls sei es, den Zorn der nationalistischsten armenischen Strömungen zu schüren, um den Sturz des derzeitigen armenischen Präsidenten zu beschleunigen, der als zu prowestlich angesehen werde.
Diese Anschuldigung könnte sich jedoch als Ablenkungsmanöver erweisen. Denn trotz der formellen Verurteilungen hat jeder verstanden, dass Brüssel keine Vergeltungsmaßnahmen gegen Baku ergreifen würde. Und das aus gutem Grund: Das Gas aus diesem Land soll dazu beitragen, jenes Gas zu ersetzen, das Brüssel nicht mehr von Russland kaufen will. So erhielt die EU im Jahr 2022 11,3 Milliarden Kubikmeter aserbaidschanisches Gas – gegenüber acht Milliarden Kubikmetern im Vorjahr. Die EU plant, bis 2027 eine jährliche Rate von 20 Milliarden zu erreichen.
Kurz gesagt: Für die EU hat die Verhängung von Sanktionen gegen Russland – auf Kosten der europäischen Verbraucher, die unter steigenden Preisen leiden – oberste Priorität. Auch wenn das bedeutet, sich von einem Land beliefern zu lassen, dessen Führung gerade die brutalste Gewalt angewendet hat, um ein Problem zu lösen, das auf diplomatischem Wege hätte behandelt werden können und müssen, wie es sowohl Moskau als auch die westlichen Hauptstädte gefordert hatten. Darüber hinaus ist Aserbaidschan nicht gerade ein Modell des berühmten "Rechtsstaats", den Brüssel so hochhält. Es ist allgemein bekannt, dass das Land von Korruption, Vetternwirtschaft und Autoritarismus zerfressen ist. Und die Lage der politischen Gegner ist wenig beneidenswert – was noch eine Untertreibung ist.
Dies hinderte die Präsidentin der Europäischen Kommission aber nicht daran, am 18. Juli 2022 nach Baku zu reisen, um eine neue Absichtserklärung im Energiebereich zu unterzeichnen und zu feiern. Ursula von der Leyen erklärte:
"Mit dieser neuen Vereinbarung beginnt heute ein neues Kapitel unserer Zusammenarbeit im Energiebereich mit Aserbaidschan, einem wichtigen Partner bei unseren Bemühungen um eine Abkehr von fossilen Brennstoffen aus Russland. … Der Energiebereich ist jedoch nur einer der Bereiche, in denen wir unsere Zusammenarbeit mit Aserbaidschan verstärken können, und ich freue mich darauf, das Potenzial unserer Beziehungen voll auszuschöpfen."
Baku – ein "vertrauenswürdiger Partner"? Ein gutes Beispiel dafür, wie der Westen im Allgemeinen und die EU-Führer im Besonderen mit zweierlei Maß messen.
Und später werden sie sich über die wachsende Kluft zwischen ihnen und dem "Globalen Süden" wundern …
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