Die präventive Nutzung von Atomwaffen seitens Russlands würde im Widerspruch zur etablierten Doktrin stehen, wurde vielfach in der Debatte nach der Veröffentlichung eines Artikels von Professor Sergei Karaganow eingewendet, der ein breites Echo in der russischen Gesellschaft ausgelöst hatte.
Während Karaganow für eine Lockerung der Regeln dieser Doktrin plädiert, vertreten andere Fachleute eine völlig entgegengesetzte Meinung: Fjodor Lukjanow ist zum Beispiel der Meinung, dass der Westen durch den Einsatz der Bombe keineswegs "ernüchtert" werden kann, und Ilja Fabritschnikow ist der Meinung, dass Russland nicht "den Köder der NATO schlucken" darf, indem es als erste Seite die ultimative Waffe einsetzt. Nachfolgend antwortet Karaganow auf seine Kritiker.
Von Sergei Karaganow
In den über siebzig Jahren der gegenseitigen nuklearen Abschreckung haben Atomwaffen die Welt gerettet. Dies wurde von der Menschheit einfach als selbstverständlich betrachtet. Nun sehen wir jedoch, dass sich die Dinge geändert haben und das Undenkbare geschieht: Der Westen ist für einen großen Krieg im Unterleib einer atomaren Großmacht verantwortlich.
Die offizielle Geschichte der Schaffung dieser Waffen ist bekannt, aber meiner Meinung nach ist auch noch eine höhere Macht im Spiel. Es ist, als ob Gott, der Herr, sah, dass ein großer Teil der Menschheit wahnsinnig geworden war, indem sie innerhalb einer Generation zwei Weltkriege angezettelt hatte, und er uns diese Atomwaffen gab, die Waffen der Apokalypse sind. Er wollte, dass wir sie immer vor unseren Augen haben und sie uns dabei Angst einjagen.
Aber die Menschen heute haben ihre Angst verloren.
In den letzten Jahrzehnten hat sich in den Vereinigten Staaten, in Westeuropa und teilweise sogar in Russland das ausgebreitet, was ich als "strategisches Schmarotzertum" bezeichne: der Glaube, dass es nie einen großen Krieg geben kann und es daher nie einen großen Krieg geben wird. Die Menschen dort haben sich an den Frieden gewöhnt, und auf dieser Grundlage ist die moderne westliche Ideologie gewachsen. Hinzu kommt, dass heute Propaganda in noch nie gesehener Fülle in Umlauf gebracht wird, und zwar in einem Ausmaß, wie das selbst während des Kalten Krieges nicht der Fall war.
Die Menschen werden einfach mit Lügen vollgestopft und haben obendrein Angst zu sagen, was sie wirklich denken. Infolge von mehr als 70 Jahren Frieden ist der Selbsterhaltungstrieb der Öffentlichkeit gestört und wird durch die außerordentlich virulente Agitation und Propaganda noch weiter unterdrückt, mit der teilweise sogar behauptet wird, dass Russland sowieso niemals in der Lage wäre, Westeuropa anzugreifen.
Die offizielle westliche Propaganda verbreitet die Vorstellung, der Westen könne alles tun kann, was immer er wolle, und Moskau werde sich das stets einfach gefallen lassen. Genau das ist nun sehr deutlich und anschaulich geworden.
In den letzten Jahren hat Russland zwar damit begonnen, seine nukleare Abschreckungsfähigkeit wieder zu stärken, aber die bisher dafür unternommenen Schritte sind dennoch völlig unzureichend. Denn auch wir sind irgendwann selbstgefällig geworden, sind obendrein westlichen Theorien gefolgt und haben die Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen leichtsinnig überschätzt, was der Westen jetzt ausnutzt, und zwar auch nicht zufällig. Die kleinen Bürokraten dort bleiben dabei und sagen immer wieder: Nein, die Russen werden niemals Atomwaffen einsetzen.
Sie wollen unter keinen Umständen etwas anderes hören, denn sie wollen ihren Wunsch nach einem endlosen Krieg in der Ukraine nicht aufgeben. Da ihr militärisch-industrieller Komplex größer ist als der unsere, wollen sie uns schlicht zermürben.
Ich hoffe, wir werden niemals Atomwaffen einsetzen, aber die Tatsache unserer Weigerung ihres Einsatzes in allen Situationen außer im Falle einer tödlichen Gefahr für den Staat selbst, scheint mir rücksichtslos zu sein.
Die USA binden Russland auf diese Weise die Hände, in der Hoffnung, dass dieser lange Krieg auf lange Sicht im Inneren eine Implosion auslöst. Damit würden sie auch ihren Hauptrivalen China radikal schwächen, der dann auf sich allein gestellt wäre.
Dies ist ein strategischer Plan, der absolut klar ist.
Nachdem die US-Amerikaner bereits das ukrainische Volk ins Feuer geworfen haben, drängen sie nun auch die Westeuropäer dorthin und zerstören damit zugleich den Status, den sie seit fünf Jahrhunderten halten konnten. Diese Politik löst somit auch ein anderes Problem – sie vernichtet die Alte Welt als strategischen Akteur und potenziellen Konkurrenten. Im Gegenteil, die gefangenen westeuropäischen Eliten treiben ihre Länder und Völker selbst in den Ruin.
Wir würden gerne glauben, dass unsere Gegner zur Vernunft gelangen werden. Denn wenn sie das nicht tun, wird die politisch-militärische Führung Russlands einer schrecklichen moralischen Wahl und der Notwendigkeit einer harten Entscheidung gegenüber stehen. Aber ich glaube, dass unser Präsident irgendwann seine Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen zeigen muss.
Die Frage ist nur, wer das Ziel eines solchen Angriffs sein könnte und sollte. Die US-Amerikaner haben, wie wir alle wissen, schamlos gelogen, als sie behaupteten, wir würden den Abwurf einer Atombombe auf die Ukraine vorbereiten. Das ist ungeheuerlicher Unsinn, absolut böswillig, denn natürlich sind die Ukrainer ein elendes, verblendetes Volk, das zum Schlachten getrieben wird. Aber sie sind immer noch unser Volk, und wir werden sie nicht vernichten.
Wenn es Atomschläge geben muss, dann sollten sie sich gegen die Länder in Westeuropa richten, die das Söldnerregime in Kiew am meisten unterstützt haben.
Glücklicherweise haben wir begonnen, Schritte hinauf auf der Leiter der nuklearen Abschreckung zu machen. Aber wir müssen schneller und entschlossener vorgehen, auch wenn ihr Einsatz natürlich ein ungeheuerlicher Schritt wäre und nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Aber wie die Richtung der Entwicklung des Westens, seiner Eliten und seiner Gesellschaft zeigt – und seine ganzen Bewegungen hin zu antihumanen und posthumanen Werten –, deutet all dies eindeutig auf ein objektives Abdriften in einen eventuellen thermonuklearen Krieg hin. Wir müssen diesen Prozess unterbrechen und die Welt retten – wobei wir natürlich, wenn möglich, supergewaltsame Aktionen vermeiden sollten.
Wir haben noch Zeit und müssen dennoch erkennen, dass sie recht kurz ist. Wir müssen diese wenigen Jahre nutzen, um das Problem mit dem Westen zu lösen, ihn dazu bringen, sich zurückzuziehen und sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, denn um von seinen eigenen internen Problemen abzulenken, versucht er jetzt überall auf der Welt, Kriege anzufangen.
Der Beginn der aktuellen Militäroperation war ein wichtiger und sicherlich richtiger Schritt, auch wenn er meiner Meinung nach früher hätte unternommen werden müssen. Es gibt eine Reihe weiterer Schritte, die unternommen werden können. Insbesondere sollte allen im Westen klar gemacht werden, dass jeder Angriff auf Weißrussland mit einem Schlag gegen Russland gleichgesetzt wird und ähnliche Konsequenzen haben wird.
Mögliche russische Maßnahmen könnten die Verlegung von Raketen, Tests unserer strategischen Raketen aus nächster Nähe und ebenso auch psychologische Maßnahmen und sogar der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den Ländern sein, die die aktivste russophobe Rolle spielen. Denkbar ist auch eine Maßnahme wie die Warnung aller russischsprachigen Menschen, aller Bürger der ehemaligen Sowjetunion und aller Menschen guten Willens, Orte zu verlassen, die potenzielle Ziele eines Atomschlags sein könnten. Auch dies könnte ein potenziell mächtiges Instrument der Abschreckung sein. Und all diese Menschen müssen nicht nach Russland gehen: Lassen Sie sie in andere Staaten gehen, die keine Militäreinrichtungen haben und das Kiewer Regime nicht unterstützen und es nicht mit Waffen und Geld versorgen – es gibt viele solcher Länder. Die Menschen sollten nicht aus Angst nach Russland zurückkehren, sondern aus freiem Willen.
Wenn man über einen hypothetischen Atomangriff auf Westeuropa diskutiert, stellt sich die Frage: Wie würden die USA darauf reagieren? Praktisch alle Experten sind sich einig, dass die US-Amerikaner unter keinen Umständen auf einen Atomangriff auf ihre Verbündeten mit einem Atomangriff auf unser Territorium reagieren würden. Übrigens hat sogar Biden dies offen gesagt.
Russische Militärexperten glauben jedoch, dass ein massiver konventioneller Vergeltungsschlag folgen könnte. Es könnte darauf hingewiesen werden, dass darauf noch massivere Atomschläge folgen würden. Und sie würden Westeuropa als geopolitische Einheit auslöschen. Was natürlich nicht wünschenswert wäre, denn schließlich sind wir in gewisser Weise Europäer und, um es mit Dostojewski zu sagen, die alten europäischen Steine sind uns nicht fremd.
Bei der Erörterung solcher Szenarien kommt das Thema China und dessen Position unweigerlich zur Sprache. Unsere strategischen Ziele sind die gleichen, aber unsere operativen Ziele unterscheiden sich natürlich. Und wenn ich Chinese wäre, hätte ich es nicht eilig, den Konflikt in der Ukraine zu beenden, weil er die Aufmerksamkeit und die militärische Macht der USA und des Westens von ihnen selbst ablenkt und Peking die Gelegenheit gibt, weiter Kraft zu sammeln.
Das ist eine ganz normale, ich würde sagen respektable Position. Und natürlich möchte ich nicht, dass Atomwaffen eingesetzt werden. Zunächst einmal aus moralischen und ethischen Gründen: Ich denke, da sind die Chinesen und ich einer Meinung.
Und zweitens, weil die Chinesen immer noch über eine kleine nukleare Kapazität verfügen, ist es für sie nicht wünschenswert, jetzt einen militärischen und politischen Wettstreit in diesem Bereich anzufangen. In zehn Jahren werden sie über eine erstklassige nukleare Kapazität verfügen (und selbst in fünf bis sieben Jahren wird sich ihre Situation ändern), und dann wird die beste Option zur Verhinderung eines großen thermonuklearen Krieges darin bestehen, ein mächtigeres China an vorderster Front zu haben, das von Russland unterstützt und gedeckt wird, so wie die Chinesen uns jetzt unterstützen.
Ich habe volles Verständnis für die moralischen Ängste der Menschen, die sagen: Der Einsatz von Atomwaffen ist unter keinen Umständen denkbar oder akzeptabel. Worauf ich antworte: Meine Freunde, ich respektiere Pazifisten, aber es gibt sie und sie leben in dieser Welt nur deshalb, weil Soldaten für sie kämpfen und sterben, so wie jetzt gerade unsere Soldaten und Offiziere in der Ukraine kämpfen.
Übersetzt aus dem Englischen
Professor Sergej Karaganow ist Ehrenvorsitzender des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und akademischer Leiter der Schule für Internationale Wirtschaft und Außenpolitik der Hochschule für Wirtschaft (HSE) in Moskau.
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