Eine Analyse von Rafael Farchutinow
Vor einem Jahr, am 29. März, hatte in Istanbul die letzte Runde der russisch-ukrainischen Verhandlungen zur Beilegung des Konflikts stattgefunden. Infolgedessen kündigte Russland die Reduzierung seiner Militäraktivität in Richtung Kiew und Tschernigow an, und die Ukraine legte ihre Vorschläge für eine friedliche Lösung vor.
Die Vorschläge beinhalteten unter anderem Folgendes: Die Ukraine wird in den kommenden fünfzehn Jahren auf Versuche verzichten, die Krim und den Donbass mit militärischen Mitteln zurückzuerobern. Sie verspricht auch, sich keinen militärischen Bündnissen anzuschließen, ihren atomwaffenfreien Status zu bestätigen, keine ausländischen Militärstützpunkte und Kontingente zu stationieren sowie keine Manöver ohne Zustimmung der Garantiestaaten, einschließlich Russlands, durchzuführen.
Damit gingen die diplomatischen Versuche, den Konflikt zu regeln, zu Ende. Moskau räumte mehrmals ein, dass die Verhandlungen in die Sackgasse geraten seien, weil Großbritannien, die USA und andere NATO-Länder die Militarisierung der Ukraine fortgesetzt hätten. Zudem habe die Ukraine bei jedem Windhauch Umschweife gemacht und ihre sorgfältig ausgewogene außenpolitische Position geändert.
Es sei daran erinnert, dass die spezielle Militäroperation Russlands in der Ukraine in der Nacht zum 24. Februar 2022 begonnen hat. Schon am 2. März kündigte der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba die Bereitschaft Kiews zu Verhandlungen an, jedoch ohne "russische Ultimaten", also den Forderungen nach der Denazifizierung und Demilitarisierung. Am 10. März fand im türkischen Antalya ein Treffen zwischen Kuleba und dem russischen Außenminister Sergei Lawrow statt. Diesem Treffen gingen drei Gesprächsrunden zwischen den Delegationen Russlands und der Ukraine zur Lösung der Situation voraus.
Am 20. März erklärte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in einem CNN-Interview, dass er zu Verhandlungen mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin bereit sei, warnte jedoch davor, dass ein Scheitern der Gespräche "einen dritten Weltkrieg bedeuten würde". Er rief zu Verhandlungen "ohne Zögern" auf, obwohl er die Denazifizierung ablehnte.
Eine Woche später, am 28. März, beteuerte Selenskij, dass die Ukraine bereit sei, ihren neutralen Status im Rahmen eines Friedensabkommens mit Russland zu besprechen. "Garantien für Sicherheit und Neutralität, der atomwaffenfreie Status unseres Staates – wir sind dazu bereit", zitierte Reuters den ukrainischen Präsidenten.
Gleichzeitig betonte dieser, dass er einige Forderungen Moskaus nicht erfüllen werde, wie die nach einer Demilitarisierung. Einen Tag später bekräftigte Kuleba, dass die Ukraine bei einem potenziellen Friedensabkommen mit Russland "ihre Souveränität, ihre Territorien und Menschen nicht aufgeben wird". Bereits am 4. April änderte der Außenminister seine Rhetorik:
"Diplomatie ist in diesen Umständen kein zentraler Standpunkt einer friedlichen Regelung. Wir müssen Frieden auf dem Schlachtfeld erobern."
Im April führten beide Seiten Diskussionen über den Entwurf eines Abkommens über eine friedliche Lösung fort, doch Anfang Mai mussten sie zugeben, dass die Verhandlungen ins Stocken geraten waren. Am 14. April sagte Selenskij in einem Interview mit der BBC, dass die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau laufen, um "den dritten Weltkrieg zu stoppen". Dabei fügte er hinzu, dass "Butscha, Borodjanka und Mariupol den Dialog nicht mehr möglich machen". Am 18. Juli vergangenen Jahres mahnte Kuleba in einem Interview mit Forbes Ukraine:
"Russland sollte erst nach seiner Niederlage auf dem Schlachtfeld an den Verhandlungstisch kommen, andernfalls wird es sich erneut der Sprache der Ultimaten bedienen."
Am 30. September verbot Selenskij per Dekret jegliche Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, nachdem die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Gebiete Saporoschje und Cherson sich Russland angeschlossen hatten. Zuvor hatte der Rat für Nationale Sicherheit und Verteidigung der Ukraine eine entsprechende Entscheidung getroffen.
So hat die ukrainische Staatsführung im Laufe von nur wenigen Monaten von der Zustimmung zu einem bündnis- und atomfreien Status zu einem Verbot von Verhandlungen mit Russland gewechselt.
"Alle erinnern sich an den Wendepunkt nach den Gesprächen in Istanbul. Selenskij beteuerte, dass die Ukraine keine NATO-Mitgliedschaft benötige. Er bezweifelte, dass die Allianz seine eigenen Mitgliedsländer überhaupt schützen könne. Er stimmte dem blockfreien Status und einer Reihe anderer Bedingungen zu. Dann kam Boris Johnson, und die ukrainische Führung lehnte alle Vereinbarungen ab", sagte der Politologe Wladimir Kornilow.
"Man hat Selenskij im Grunde einfach verboten, weitere Verhandlungen mit Russland zu führen. Und das hat nicht der abstrakte 'kollektive Westen' getan, sondern konkrete Akteure – die USA und Großbritannien. Initiiert hat das die britische Staatsführung. Jedoch konnte Johnson eine solche Entscheidung nicht selbst treffen. Offensichtlich hat er lange darüber mit dem Weißen Haus diskutiert. Ich glaube, er hat Washington mit folgendem Argument überzeugt: 'Wir werden Moskau zwingen, mehr zu zahlen'", meinte der Experte und betonte:
"Ich würde nicht ausschließen, dass ein Teil des Oberkommandos der ukrainischen Streitkräfte die Verhandlungen unterstützt. Sie sind sich aber darüber im Klaren, dass die Staatsführung der Ukraine nicht in der Bankowaja Straße sitzt. Man könnte Selenskij absetzen, das würde aber keinen Sinn ergeben, denn Entscheidungen werden von anderen Menschen in anderen Hauptstädten getroffen. Daher werden ukrainische Generäle die Möglichkeit von Verhandlungen gar nicht erwähnen, um nicht in Ungnade zu fallen, mit dem Risiko, festgenommen zu werden.
Aus dieser Geschichte lässt sich für Moskau eine klare Schlussfolgerung ziehen: Selenskij wird erst auf Druck der USA und Großbritanniens verhandeln. Man muss sie also dazu zwingen. Wie? Mit asymmetrischen Mitteln. Man könnte sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, in welchen Ländern US-Kontingente stationiert sind, und ihnen dort Probleme schaffen", sagte der Politologe.
"Zudem gibt es außerhalb der Territorien der Vereinigten Staaten und Großbritanniens einige kritisch wichtige Infrastrukturanlagen, von denen die Wirtschaftsinteressen Washingtons und Londons abhängen. An diesen Orten könnten irgendwelche 'proiranischen' oder 'prokoreanischen' Aktivisten auftauchen, die entschieden gegen die USA und Großbritannien auftreten. Ich denke, dass man sich so etwas vorstellen kann, insbesondere nach den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines durch angebliche proukrainische Aktivisten", so Kornilow.
"Diese Vorfälle werden den Westen zu mehr Besonnenheit zwingen. Und natürlich wird die Stellung des Westens und Selenskijs korrigiert, wenn Russland die ukrainische Front an mehreren Stellen durchbricht und sich in Richtung Kiew bewegt. Bislang ist solche Entwicklung nicht zu erwarten. Daher müssen vorteilhafte Verhandlungspositionen durch Druck auf wunde Punkte des Westens erreicht werden, und davon gibt es viele", schlussfolgerte er.
Der Wirtschaftswissenschaftler Iwan Lisan sagte gegenüber der Zeitung Wsgljad: "Selenskij wird wohl kaum verhandeln wollen, da er auf einen totalen Krieg und auf die Vernichtung Russlands abzielt. Das Einzige, wozu er derzeit bereit ist, ist der Gefangenenaustausch. Verhandlungen über Ammoniak-Exporte sind für ihn zum Beispiel unmöglich, weil das die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen betrifft.
Er kann aber gezwungen werden, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Der Westen beginnt jetzt allmählich zu begreifen, dass die Chancen für einen militärischen Sieg mit der Zeit noch geringer werden, da die ukrainischen Streitkräfte selbst auf dem Höhepunkt ihrer Form keinen Erfolg erlangen konnten. Daher diskutiert man in den USA immer öfter über eine Möglichkeit, zur Diplomatie zurückzukehren", meinte Lisan.
"Ich denke, dass die NATO und die EU schon im Frühjahr, spätestens im Sommer, Selenskij zu Verhandlungen anspornen werden, wenn die ukrainischen Streitkräfte keinen Erfolg auf dem Schlachtfeld werden vorweisen können. Die USA haben bereits ihre minimalen Profite aus diesem Konflikt gezogen, indem sie unsere Wirtschaftsverbindungen zu Europa gekappt haben. Jetzt müssen sie sich mit dem Konflikt China-Taiwan befassen. Dieses Thema ist für sie sogar wichtiger", machte der Experte deutlich.
"Aber selbst wenn Selenskij gezwungen wird, Kontakte zu Russland aufzunehmen, ist es für uns nicht sinnvoll. Wir verstehen gut, dass er nicht imstande ist, seine Versprechen zu halten. Wir haben das bereits am Beispiel der Minsker Vereinbarungen erlebt", fügte der Ökonom hinzu. "Es ist notwendig, unsere Ziele konsequent anzustreben. Dafür soll man unter anderem den Feind vom Schwarzen Meer abschneiden. Sobald es passiert, wird die Ukraine für niemanden mehr von Interesse sein, da sie praktisch keine Ressourcen mehr haben wird", so Lisan und weiter:
"Ich denke, dass unsere Staatsführung bereits alle notwendigen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Unmöglichkeit eines diplomatischen Prozesses um die Ukraine gezogen hat. Die einzige Ausnahme ist aktuell der Getreide-Deal. Hier hat aber die Türkei eine Rolle gespielt. Ich vermute auch, dass die Verlängerung des Deals um 60 statt 120 Tage ein Signal für sein baldiges Ende ist. Es gibt keine weiteren Verhandlungsthemen."
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.
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