Von Matthieu Buge
Josef Stalin starb am 5. März 1953. Der sowjetische Staatschef war einer der "großen drei" Gewinner des Zweiten Weltkriegs, und sein Leben, seine politische Karriere und die Auswirkungen seiner Politik wurden von russischen und westlichen Historikern umfassend erforscht. Siebzig Jahre nach seinem Ableben ist der Georgier in Russland und in vielen anderen ehemaligen Sowjetstaaten immer noch eine problematische politische Figur, und sein Erbe steht immer wieder im Mittelpunkt heftiger Debatten. Im Westen ist die Verurteilung von Stalins Herrschaft heute absolut, aber das war nicht immer so.
Das Problem von Stalins Erbe
Die Jahrzehnte der Herrschaft Stalins über das größte Land der Welt waren erfüllt von Terror, der zu Millionen von Toten führte. Nach der bolschewistischen Revolution und dem Bürgerkrieg dauerte der interne sowjetische Machtkampf jahrelang an und trug zur späteren Instabilität des Landes bei. Nach der politischen Niederlage des in der Ukraine geborenen Leo Trotzki im Jahr 1927 festigte Stalin seine Macht. Trotzki strebte stets eine Weltrevolution an, wohingegen Stalin vorhatte, den Sozialismus in seinem Land aufzubauen. Er leitete die Kollektivierung des Agrarsektors ein, die mit der Enteignung der Kulaken – der Landbesitzer – einherging und zu Hungersnöten und dem Tod von Millionen von Menschen führte.
Die Welle politischer Repressionen in den Jahren von 1936 bis 1938, auch bekannt als der Große Terror, ist eines der bedeutendsten Elemente von Stalins Vermächtnis. Im Westen wird diese Zeit üblicherweise durch die Lupe des britischen Schriftstellers und Historikers Robert Conquest betrachtet, der von anderen Historikern – wie dem US-amerikanischen Historiker J. Arch Getty (John Archibald Getty) – beschuldigt wurde, Opferzahlen hochgerechnet und den Beginn der Säuberungen unter Lenin ausgelassen zu haben. Diese Opferzahlen werden ständig von Historikern hinterfragt und neu erforscht, und der Westen hat sich hauptsächlich auf diese Periode von Stalins Herrschaft konzentriert. Trotzdem bleibt als Tatsache unbestreitbar, dass Stalins mit äußerst harter Hand regierte. Er wurde auch für die Verursachung von Hungersnöten in der Ukraine, in Südrussland und in Kasachstan verantwortlich gemacht, die Millionen von Menschen töteten.
Auch die Art und Weise, wie Stalin den Krieg gegen Nazi-Deutschland führte, wurde nach Kriegsende zu Gegenstand von Kritik. Stalin schickte Millionen von Sowjetsoldaten rücksichtslos in den Tod, nachdem er seine Durchhalteparole "Keinen Schritt zurück!" formuliert hatte. Diese Proklamation sollte dazu dienen, Hitlers Kriegsmaschinerie zu brechen.
Stalins Ansatz in der Kriegsführung fügte der Wehrmacht den größtmöglichen Schaden zu, jedoch zu einem enormen Preis. Ein solches Opfer an Menschenleben wäre selbst während eines Weltkrieges für westliche Staatsführer, die ihre Wiederwahl anstrebten, eine rote Linie gewesen. Laut vielen Historikern war dies angeblich ein wesentlicher Faktor für die fortwährende Verschiebung der Eröffnung einer zweiten Front in Europa durch die West-Alliierten, was Stalin äußerst wütend machte, wie seine Korrespondenz mit Winston Churchill belegt. Im Grunde war das von den Sowjets gebrachte Opfer aus westlicher Sicht sowohl willkommen als auch entsetzlich.
Gegenwärtig ist Stalin im Westen vor allem für seine Brutalität berüchtigt, und nur wenige Akademiker und Historiker haben sich die Zeit genommen, den Mann, die Ära und die Umstände während seiner Zeit an der Macht zu erforschen. Historiker wie J. Arch Getty und Matthew E. Lenoe blieben jedoch pragmatisch bei ihrer Bewertung der Rolle Stalins bei den Ereignissen der 1930er und 1940er Jahre. Ebenso liefert das Buch von Karl Schlögel "Moskau 1937" ein vollständigeres Bild von Stalins Führung der Sowjetunion. Diese Forscher beschrieben ausführlich die Ereignisse während der Säuberungen und der politischen Unterdrückung, wiesen aber auch auf die beispiellose Modernisierung und den technologischen Fortschritt hin, die während dieser Zeit gleichzeitig stattfanden.
Als Stalin seinen politischen Machtkampf gegen Trotzki gewonnen hatte, war das Land nach der gnadenlosen Machtergreifung der Bolschewiki, dem darauffolgenden Bürgerkrieg und dem Roten Terror bereits völlig erschüttert. Russland war zuvor noch niemals eine Industriemacht, und da Stalin erkannt hatte, dass ein großer Krieg bevorstand, erklärte er 1931 die Lage in einer Rede vor Fabrikanten: "Wir sind fünfzig oder hundert Jahre hinter den fortgeschrittenen Ländern zurück. Diesen Rückstand müssen wir in zehn Jahren aufholen. Entweder wir schaffen es oder wir werden zermalmt."
In der Regel arbeiten Historiker ohne moralische Voreingenommenheit, und eine politische Persönlichkeit wird normalerweise nach dem Zustand des Landes zu der Zeit, als sie an die Macht kam, analysiert und demjenigen, wenn sie diese wieder abgab. Die Industrialisierung der Sowjetunion führte zu katastrophalen Verlusten unter der Bevölkerung, jedoch konnte das Land in enormen Schritten modernisiert werden. Wie der Schriftsteller Isaac Deutscher schrieb (obwohl das Zitat häufig Winston Churchill zugeschrieben wird): "Der Kern von Stalins echter historischer Leistung liegt in der Tatsache, dass er ein Russland übernahm, das mit von Ochsen gezogenen Holzpflügen die Äcker bewirtschaftete, und es mit Atomwaffen ausgestattet zurückließ."
Stalins Bild vor und nach dem Krieg
Was westliche Historiker und Journalisten heute über Stalin schreiben, ist eine Sache, aber man sollte nicht vergessen, wie das sowjetische Staatsoberhaupt damals betrachtet wurde. Für viele im Westen waren die Russische Revolution und die "Diktatur des Proletariats" ein strahlender Leuchtturm im Osten, ein Versprechen auf bessere Zeiten, eine echte Quelle der Hoffnung. Und lange Zeit war Stalin die Inkarnation dieses Leuchtturms. Daher sein Beiname "Vater der Nationen", den ihm die sowjetische Propaganda und die Kommunisten auf der ganzen Welt gaben. Das Gewicht kommunistischer Parteien in Ländern wie Frankreich oder Italien, die von der Kommunistischen Internationale – der Komintern – kontrolliert wurden, war ein Trumpf in der Hand der UdSSR, um ein wohlwollendes Bild ihres Staatsoberhaupts in der westlichen Bevölkerung zu verbreiten. Die Faszination war so stark, dass die europäischen Kommunisten zögerten, Widerstand gegen Hitler zu leisten, bis Stalin nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die UdSSR grünes Licht dafür gab. Aber die Massen waren nicht die einzigen, die von Stalin und dem, was er verkörperte, fasziniert waren.
Das Werk des genialen deutschen Verlegers und kommunistischen Aktivisten Willy Münzenberg hatte einen überragenden Einfluss auf Intellektuelle und Dichter in ganz Europa. Er spielte mit der ursprünglichen Faszination dieses neuen Wirtschaftsmodells, das in der UdSSR aufgebaut wurde, und inspirierte viele "nützliche Idioten" – oder "treue Mitstreiter". Manche, wie André Gide oder Arthur Koestler, waren schnell desillusioniert. Aber mit dem Aufkommen von Volksfronten in ganz Europa und den Wirren des spanischen Bürgerkriegs behaupteten sich viele linke Intellektuelle lange Zeit und genossen in elitären Kreisen einen hervorragenden Ruf. Louis Aragon, Jean-Paul Sartre, Louis Althusser, der Korrespondent der New York Times Walter Duranty, Pablo Neruda, Ernest Hemingway, André Malraux, Romain Rolland – ziemlich viele respektierte und angesehene Stimmen. Aufgrund ihrer Linkssensibilität, ihrer antikolonialen Haltung, ihres Pazifismus oder Idealismus förderten sie ein positives Bild von der Sowjetunion und folglich auch von Stalin. Der Roman von Arthur Koestler "Darkness at Noon" (auf Deutsch: "Sonnenfinsternis"), der den politisch-psychologischen Prozess der Säuberungen der 1930er Jahre schildert, fand bei vielen dieser Intellektuellen keine Beachtung. Sartre zum Beispiel konvertierte später vom Stalinismus zum Maoismus.
Darüber hinaus spionierten Personen wie die "Cambridge Five" (Die fünf aus Cambridge) oder der Physiker Klaus Fuchs aktiv für die UdSSR. Es ging ihnen darum, für eine Idee zu kämpfen, nicht für Geld. Ihr Beitrag zur Stärkung der Macht Moskaus und zur Schaffung der ersten sowjetischen Atomwaffen darf nicht unterschätzt werden. Auf einer anderen Ebene waren Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill aufrichtig beeindruckt vom sowjetischen Staatschef, mit dem der amerikanische Präsident einen höflichen Briefwechsel führte. Eine am Ende des Zweiten Weltkriegs durchgeführte Umfrage ergab, dass die Mehrheit der französischen Bevölkerung der Meinung war, die Sowjetunion habe den Krieg gegen Hitlerdeutschland gewonnen – und nicht die West-Alliierten. Stalins Popularität war auf ihrem Höhepunkt, und er war zu diesem Zeitpunkt wohl auch der mächtigste Mann der Welt.
Im Jahr 1956 unternahm Nikita Chruschtschow – der selbst eine wichtige Rolle bei der politischen Unterdrückung während des Großen Terrors gespielt hatte – einen Schritt, der letztlich einen enormen Einfluss auf Stalins Image hatte. Während des 20. Parteitags der KPdSU prangerte das neue Staatsoberhaupt der UdSSR – letztlich um seine eigene Macht zu festigen – die Verbrechen seines ehemaligen Vorgesetzten und den Personenkult rund um ihn an, den der während seiner Regierungszeit genossen hatte. Die Rede von Chruschtschow war ein Schock für alle Kommunisten in Europa, die jetzt gespaltener waren denn je. Nur die "Liberalen" konnten sich darüber freuen. Die beiden wichtigsten Verbündeten der UdSSR in Westeuropa zersplitterten anschließend: Die italienische kommunistische Partei suchte eine innenpolitische Integration, während die französische kommunistische Partei untätig gelähmt blieb. Der 20. Parteitag der KPdSU löste den Beginn einer Vertrauenskrise gegenüber der Sowjetunion aus. In gewisser Weise kann man das politische Manöver von Chruschtschow gegen Stalins Image als den ersten Schlag gegen die gesamte Struktur der Sowjetunion betrachten.
Stalins Ruf verschlechterte sich zunehmend, als Dissidenten im Westen Bücher veröffentlichten, in denen seine ehemaligen westlichen intellektuellen Bewunderer wegen ihrer Blindheit denunziert wurden. Darüber hinaus trifft es zu, dass Stalin zwar einen politischen Sieg über Trotzki errungen hat, aber Letzterer wird von der Geschichte weit milder beurteilt. Trotzki wird heute eher als Intellektueller und als ein Opfer Stalins betrachtet, ungeachtet der Gräueltaten, die auch er während seiner Zeit an der Macht zu verantworten hatte – insbesondere in seiner ukrainischen Heimat. Und seine Ideen sind bis heute nicht verschwunden.
Irving Kristol, der "Pate des Neokonservatismus" in den USA, war ein ehemaliger Trotzkist, und die politischen Ansichten der Architekten und Befürworter des globalisierten Finanzkapitalismus stimmen mit den internationalistischen Ansichten von Trotzki überein. Stalin hingegen wurde mit dem Untergang der kommunistischen Parteien als Instrumente der Propaganda und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einfach zu einem weiteren Schreckgespenst der Geschichte überhöht. Es ist immer noch möglich, westlichen Stalinisten zu begegnen, aber das sind normalerweise marxistische Intellektuelle ohne Einfluss auf die breite Öffentlichkeit.
Stalin und die westliche Rhetorik gegenüber russischen Staatschefs
Iwan der Schreckliche galt viele Jahrhunderte lang als die Inkarnation des Monströsen, wegen seiner Rücksichtslosigkeit in seiner Innenpolitik, aber auch wegen seiner Eroberung riesiger Territorien und seiner Eigenschaft, zu einer Bedrohung für den Imperialismus des Westens geworden zu sein. Die Tatsache, dass er ein sehr wichtiger Reformer war, wird irgendwie völlig ignoriert. Peter der Große war kein sanfter Herrscher, im Gegenteil, aber er gilt vor allem deshalb als interessante historische Persönlichkeit, weil er für Russland mit Sankt Petersburg "ein Fenster nach Europa" öffnete und westliche Elemente in die russische Zivilisation einfließen ließ. Auch Gorbatschow und Jelzin gelten mit ihrem Streben nach Anpassung an die westliche Zivilisation als "gute" russische Staatschefs. Gegenwärtig orientiert sich die westliche Position an Wladimir Putin, der bereits 2007 in seiner Münchener Rede erklärte, dass die Zeiten eines schwachen Russlands vorbei sind.
Stalin ist vielleicht der einzige, dem es gelungen ist, vom Westen sowohl gelobt als auch verabscheut zu werden. Stalin war während des Zweiten Weltkrieges zu einem Problem für die liberal-demokratische Propaganda geworden. So wie die sowjetische Agitprop ihr plötzliches Bündnis mit kapitalistischen Ländern rechtfertigen musste, mussten die angelsächsischen Medien erklären, warum Stalin ein großartiger Staatsmann und ein guter Alliierter war. Auf persönlichen Wunsch des Präsidenten Roosevelt wurden pro-sowjetische Filme produziert, und in die US-amerikanischen Kinos kam der Spielfilm "Mission to Moscow", der die Säuberungen der 1930er Jahren rechtfertigte. Innerhalb von drei Jahren wurde Stalin vom Time Magazine zweimal zur "Person des Jahres" gekürt, und sogar die Veröffentlichung von George Orwells "Farm der Tiere" wurde verschoben. Eine positiv voreingenommene Kampagne wurde aktiv um Stalin herum gepflegt.
Erst nach und nach, während des Kalten Krieges, änderte sich das Narrativ wieder. Es war jedoch sehr schwierig, Stalin mit Hitler in einen Topf zu werfen, da der Zweite Weltkrieg die UdSSR den Tod von rund 27 Millionen Menschen gekostet hat und ihr einen Platz am Tisch der Sieger verschaffte. Traditionell sind Sieger diejenigen, die Geschichte schreiben und auch neu schreiben. Aber 70 Jahre später ist der Westen nun zuversichtlicher hinsichtlich seiner Fähigkeit, die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu zu schreiben. Stalin wird jetzt immer häufiger als Komplize von Hitler dargestellt, der diesem behilflich gewesen sein soll, Chaos und Terror in Europa loszutreten – was eindeutiger Unsinn ist.
Diese scheinbar inkohärente Haltung lässt sich besser erklären, wenn wir die Machtstrukturen in liberalen Demokratien untersuchen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Westen ein System entwickelt, in dem starke Machtverkörperungen nicht erwünscht sind. Laut dem amerikanischen Philosophen Sheldon Wolin lebten die USA bereits um 1900 unter einem "invertierten Totalitarismus", also in einem System, in dem Konzerne und Lobbyisten regieren, während die Regierung selbst als ausführender Diener lebt. In seinem berühmten Buch "Propaganda" von 1928 erklärte Edward Bernays: "Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Diejenigen, die diesen unsichtbaren Mechanismus der Gesellschaft manipulieren, bilden eine unsichtbare Regierung, bei der die wahre herrschende Macht unseres Landes liegt."
Wenn die Schlussfolgerungen von Bernays zutreffen, impliziert dies, dass das westliche System keine Staatsmänner und politischen Reformer mit einer Vision für bestimmte Nationen braucht, sondern Administratoren und Manager mit befristeten Mandaten. Die 16-jährige Amtszeit von Angela Merkel markierte bereits eine bemerkenswerte Ausnahme in den zeitgenössischen liberalen Demokratien. Merkel hat jedoch mit Deutschland als Teil der Europäischen Union, mit den weit verzweigten Institutionen der EU und ihrer dominierenden Bürokratie zusammengearbeitet. Dies mag erklären, warum ihre lange Amtszeit nie als problematisch betrachtet wurde, während gleichzeitig der Westen oft seine Besorgnis darüber äußert, dass Männer wie Putin oder Xi (angeblich zu) lange Amtszeiten bekleiden.
Wie verschiedene Krisen gezeigt haben, greifen auch liberale Demokratien vorübergehend auf "starken Männer" zurück, wenn es in die politische Agenda passt. Pierre Conesa, ein französischer Spezialist für Geostrategie, ist Autor von Schriften wie "Die Fabrikation des Feindes" und "Hollywar: Hollywood, arme de propagande massive" (auf Deutsch "Hollywar : Hollywood, die Waffe der Massenpropaganda"). Er erklärt, wie das westliche Narrativ auf einen launischen kinematographischen Prozess zurückgreift, um einen Feind zu dämonisieren und die eigene Seite als heroisch darzustellen. Stalin passt exakt in dieses Muster, da er der einzige Mann im Kreml war, der erst als gefährlich, anschließend als Held und schließlich wieder zur Inkarnation des Bösen umgedichtet wurde.
Übersetzt aus dem Englischen
Matthieu Buge hat für das französische Magazin L’Histoire und für das Magazin Séance über russisches Filmschaffen sowie als Kolumnist für Le Courrier de Russie gearbeitet. Er ist Autor des Buches "Le cauchemar russe" (Der russische Albtraum).
Mehr zum Thema - Das polnische Unbehagen am Holocaust-Gedenken und die Parteinahme der deutschen Journalisten