Mit Gerüchten über "Verhandlungen" will der Westen Russlands friedliebende Seele täuschen

Berichte oder Gerüchte über ein Ultimatum an Selenskij, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, oder über Verhandlungen generell, sollen das stets deeskalationswillige und menschenliebende Russland in der Ukraine nur ausbremsen und dem Westen eine Verschnaufpause liefern.

Von Timofei Bordatschow

In den vergangenen Tagen ist die Diskussion darüber, wie eine friedliche Beilegung der Krise um die Ukraine aussehen könnte, wieder aufgeflammt.

Zum einen wurden von China, das seit einem Jahr eine wohlwollende Neutralität gegenüber Russland aufrechterhält, recht ausgewogene Vorschläge unterbreitet. Zum anderen begannen westliche Politiker und Medien damit, selbst über mögliche Bedingungen einer Vereinbarung zwischen Russland und dem Kiewer Regime zu spekulieren. Sie überschwemmten den Informationsraum gar mit Berichten über ihre angeblichen Absichten, das Verhalten des offiziellen Kiews zu beeinflussen.

Washington trägt kein Risiko – also facht es den Krieg weiter an

Wer die Gerüchte ernst nimmt, der Westen könne die Kiewer Behörden zu Verhandlungen "zwingen", sollte in Gedanken eine einfache Tatsache entgegenhalten: Die Vereinigten Staaten haben mit der Fortsetzung der Kampfhandlungen in der Ukraine nichts zu verlieren und nichts zu riskieren. Das Dramatischste, was längerfristig passieren könnte, wäre eine militärische Niederlage des ukrainischen Regimes. Die vielzähligen US-Puppenregimes in verschiedenen Teilen der Welt erlitten bereits Niederlagen, auch vernichtende. Diese wurden aber niemals zu einer Tragödie für die USA selbst. Dies ist bereits in Vietnam und zuletzt in Afghanistan geschehen. Genauso wie in die Ukraine reisten US-Präsidenten auch dorthin, sprachen vor dem Militär und schüttelten den Führern ähnlich drittklassiger Diktaturen wie der Ukraine die Hand.

In beiden angeführten Fällen investierten die USA anfangs viel in den Krieg, trieben zahlreiche Verbündete in den Kampf und entsandten sogar ihre eigenen Soldaten. Sie räumten aber am Ende jedes Mal stillschweigend ein, die Geschichte bei null anfangen zu müssen. Irgendwo anders. Die einzige Ausnahme war der Koreakrieg der Jahre 1950 bis 1953, in dem US-Amerikaner selbst mit der Waffe in der Hand gegen die chinesische und die nordkoreanische Armee kämpften. Und in diesem Fall ließen die USA ein Kontingent ihrer Streitkräfte in Südkorea, nachdem ein Waffenstillstand die langwierigen Kämpfe beendet hatte.

Übrigens ist die Anwesenheit eines bedeutenden US-Kontingents in Seoul die wichtigste Voraussetzung für diesen Prototyp einer jeden sogenannten koreanischen Lösung. Auch dies sollte man bei abstrakten Spekulationen über die Wahrscheinlichkeit eines jeglichen Ausgangs der Ukraine-Krise sinnvollerweise im Auge behalten.

Und im Fall der Ukraine hat Washington bisher nichts getan, was uns veranlassen könnte, seine Wetten in diesem Konflikt so ernst zu nehmen. Verständlich. Denn solange es seinerseits keine ernsthaften Einsätze macht, profitiert Washington von der Tragödie des ukrainischen Volkes am besten. Allein vom Risiko-Nutzen-Verhältnis her: Hat es doch im Falle einer Niederlage seiner Kiewer Handlanger schlicht nichts zu verlieren.

Je schlechter es Europa geht, desto größer ist dort der US-Einfluss

Die USA riskieren dann nicht einmal den Verlust ihres unangefochtenen Einflusses in Europa. Im Gegenteil. Ein Zusammenbruch ihres osteuropäischen Vorpostens außerhalb der NATO wird die Macht Washingtons über seine Verbündeten innerhalb des Blocks nur weiter stärken. Dies ist bereits geschehen. Im vergangenen Jahr haben die beiden führenden Mächte Westeuropas, Deutschland und Frankreich, praktisch jeden außenpolitischen Handlungsspielraum aufgegeben.

Berlin, bis vor kurzem noch ein (wenn nicht das) Zentrum des gesamten europäischen Systems und als solches sehr selbstbewusst und wohlhabend, wurde eine vernichtende politische Niederlage zugefügt. Seine geliebte Gaspipeline wurde von den USA gesprengt und Deutschlands Kapital fließt vor seinen Augen ins Ausland. Derweil wird Paris von niemandem in der Welt mehr als unabhängige Einheit angesehen.

Wir sehen auch, dass viele Bürger in Deutschland, Italien oder Frankreich es nicht unterstützen, Kiew mit Waffen vollzupumpen. Doch die herrschenden Eliten dieser Länder werden so sehr von hinter dem großen Teich kontrolliert, dass sie auf die Meinung ihrer eigenen Wähler überhaupt keine Rücksicht mehr nehmen können. Unter diesen Umständen wäre es naiv, auch nur hypothetisch über eine friedenserhaltende Rolle der führenden Staaten Westeuropas – Deutschland oder Frankreich – zu sprechen. Dies ist auch ein guter Grund zur Skepsis gegenüber jeder Behauptung, Kiew solle zu einem konstruktiveren Verhalten "gezwungen" werden.

Länder an Russlands Westgrenze sollen Moskau isolieren – um jeden Preis

Dies gilt umso mehr, als die politischen Regime des gesamten "Staatengürtels" an oder nahe Russlands Westgrenzen von Finnland bis Bulgarien darauf bedacht sind, ihre Länder zu einer permanent frontnahen Zone oder, in längerfristiger Perspektive, gar Kampfzone zu machen. Die einzige Ausnahme hier bildet Ungarn, das jedoch klein und als Binnenland durch andere NATO-"Verbündete" und EU-"Partner" zuzüglich der Ukraine vollkommen isoliert ist. Ungarns Position kann daher die Gesamtlage nicht wesentlich beeinflussen. Bei den anderen ist es einfacher: Die osteuropäischen Regierungen betrachten die besonderen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und die Erfüllung aller Launen aus Washington zu Recht als einzige Quelle ihres Überlebens – der Völker, die sie regieren, und jeglicher Folgen ihrer Politik für diese Völker völlig ungeachtet.

Schon bald werden wir erleben, wie die Regierungen Finnlands, Polens und des baltischen Dreigestirns ihre Länder in Ödland nach der Art Afghanistans verwandeln. Zur Erinnerung: Es ist ein Gebiet, das für jegliche friedliche internationale Interaktion bisher völlig ungeeignet bleibt. Das afghanische Volk ist durch das wiederholte Eingreifen externer Kräfte in diese Situation geraten, und in Osteuropa sind die nationalen Eliten die Ursache dieser Verwilderung. Das bedeutet, dass zwischen Westeuropa und dem Rest Eurasiens Mauern errichtet und Gräben gegraben werden, um jegliche Kontaktpflege unmöglich zu machen.

Mittel- und Westeuropa: Von Russland isoliert – für immer unter Washingtons Joch

Dadurch wird die Kontrolle der USA über ihre Verbündeten in Frankreich, Deutschland oder Italien weiter gestärkt – diese werden keine plausible Alternative haben. Der einfachste Weg zu diesem Wunschzustand Washingtons ist die Fortsetzung der bewaffneten Konfrontation auf ukrainischem Territorium. Das bedeutet, dass die USA das Blutvergießen so lange fördern werden, wie dessen Fortsetzung auch nur im Entferntesten möglich ist. Washington will dort keinen Frieden, in welcher Form auch immer.

Gerüchte über Friedensgespräche: Nebelkerzen für des Russen Menschenliebe

Warum aber sprechen die USA und die nach ihnen ausgerichteten europäischen Medien gelegentlich von der Wahrscheinlichkeit von Verhandlungen oder gar einer Einigung? Na ganz einfach, weil sie sehr gut wissen, mit wem sie es zu tun haben. Die USA verfügen, wie noch in den Zeiten des Kalten Krieges, über viele gute Kenner der russischen Geschichte, Kultur und Seele. Die US-Elite ist fest davon überzeugt, dass die Menschenliebe die größte Schwäche Russlands ist. Als jemand in der US-Führungsriege darf man diese Eigenschaft auf keinen Fall haben. Doch jedes Mal, dass sie sich in Russland bemerkbar macht, wird Washington sie natürlich immer bereitwillig ausnutzen.

Zwei Dinge sind in den Vereinigten Staaten über Russland fest bekannt. Erstens, dass Moskau niemals Atomwaffen einsetzen wird, wenn die Lage nicht das Überleben der russischen Nation und des russischen Staates bedroht. Zweitens wird Russland, solange auch nur eine minimale Chance besteht, einen Konflikt durch Verhandlungen zu beenden, selbst mit seinem erbittertsten Gegner den Dialog suchen. Die gesamte russische Kultur und außenpolitische Tradition lehrt die Amerikaner dies. Und in den vergangenen Jahren hatten die USA reichlich Gelegenheit, sich selbst von der Richtigkeit dieser Einschätzung zu überzeugen. Washington hält daher selbst die Illusion baldiger Verhandlungen für ein sehr wirksames Mittel, um Russland auf dem Schlachtfeld auszubremsen.

Inzwischen haben die Westeliten erkannt, dass sie weder mit dem zunehmenden Tempo des militärischen Vorgehens Russlands noch mit seiner Wirtschaft mithalten können. Die USA und ihre Vasallen brauchen eine Verschnaufpause. Diese könnte taktischer Natur sein, damit die ukrainischen bewaffneten Formierungen ihre Kräfte sammeln und dann in eine neue Offensive gehen können. Es könnte sich aber auch um eine längere Atempause handeln, die den Westen auf eine gänzlich neue Phase der bewaffneten Konfrontation mit Russland vorbereiten soll. Wobei diese neue Phase natürlich auf Initiative des Westens eingeleitet werden würde.

Mit anderen Worten: Für die USA kann das Endziel eines jeglichen Waffenstillstands nur darin bestehen, zu der Situation vor dem 24. Februar 2022 zurückzukehren, als die Initiative noch bei ihnen lag.

Was sind nun die Friedensinitiativen Chinas, die vor einigen Tagen auf hoher Ebene angekündigt wurden? Ganz allgemein handelt es sich um eine Auflistung der Grundvoraussetzungen für einen Frieden in Europa, ohne die Interessen und Werte der einzelnen Konfliktparteien zu verletzen. Wie ernst Peking es meint, zeigt die Reaktion der USA und ihrer Verbündeten auf die Vorschläge aus China: Die Weigerung, den chinesischen Friedensplan auch nur zu diskutieren und die Behauptung, dass das Reich der Mitte angeblich selbst Waffen an Russland liefern wolle. Ziel dieses Verhaltens im Westen ist es, jegliche internationale Wirkung der Vorstöße Pekings durch unbegründete Anschuldigungen zu überschatten.

Der Grund für diese Reaktion ist einfach: Peking will Frieden in Europa und seine Vorschläge sind keine taktischen Spielchen. Deshalb hat die Initiative in den USA und bei ihren Vasallen in Europa so viel Unmut ausgelöst. In China hat man das übrigens sofort verstanden und exakt dahingehend die neue Serie von Drohungen aus Washington interpretiert. Überhaupt gewöhnen sich Russland und der Rest der Welt allmählich an den Gedanken, dass, wenn die Vereinigten Staaten etwas kritisieren, dies gleichsam ein Gütesiegel für das Anliegen ist. Und wenn die westlichen Länder selbst beginnen, dem Rest der Welt etwas anzubieten, kann es sich nur um einen weiteren Versuch handeln, andere zu betrügen und sich einseitige Vorteile zu erschleichen.

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Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

Timofei Wjatscheslawowitsch Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.