Was auch immer die rätselhaften Symptome verursacht hat, die als "Havanna-Syndrom" bezeichnet werden – die US-Geheimdienste sind zu dem Schluss gekommen, dass es sich dabei nicht um eine Geheimwaffe eines "ausländischen Gegners" handelt. Das berichtete die US-Zeitung Washington Post am Mittwoch unter Berufung auf mit dem Thema vertraute US-Beamte. Ein Abschlussbericht zu dieser Angelegenheit "erschüttert eine lange umstrittene Theorie", wonach eine Art russische Energie-Waffe dafür verantwortlich sei, so die US-Zeitung.
Einige Beamte des Außenministeriums seien jedoch weiterhin der Meinung, dass "eine ausländische Regierung, wahrscheinlich Russland," dahinter steckt, und weisen darauf hin, dass die Zahl der gemeldeten Fälle nach der Eskalation des Ukraine-Konflikts im Februar 2022 zurückgegangen sei.
Seit Jahren wird über das sogenannte "Havanna-Syndrom" bei zahlreichen US-Botschaftsmitarbeitern diskutiert. Erstmalig tauchten Berichte über derlei mysteriöse Erkrankungen bei US-amerikanischen Diplomaten im Jahr 2016 auf. Das im kubanischen Havanna lebende US-Botschaftspersonal und seine Angehörigen hatten über Schwindel, Kopfschmerzen, Hörverlust und Übelkeit geklagt. Im Laufe der vergangenen Jahre wurden dann auch von Beschäftigten der US-Botschaften an anderen Orten der Welt ähnliche Beschwerden gemeldet. Unter anderem aus Paris, Genf oder Berlin.
Sieben US-Geheimdienste haben nun der US-Zeitung zufolge weit mehr als tausend Fälle in 96 Ländern überprüft. Eine spezielle Gruppe erfahrener Analysten, angeführt von einem hochrangigen Verantwortlichen der CIA, "setzte außerordentliche Ressourcen ein", um die mögliche Ursache zu finden, und überprüfte rund tausend Fälle solcher "anomalen Gesundheitsvorfälle" (Anomalous Health Incidents, AHI).
Fünf der an der Untersuchung beteiligten Geheimdienste kamen zu dem Schluss, es sei "sehr unwahrscheinlich", dass ein "ausländischer Gegner" für die Symptome verantwortlich sei. Eine Behörde sagte, es sei lediglich "unwahrscheinlich", während sich eine weitere Behörde der Beurteilung enthielt. Sie alle fanden am Ende "kein Muster, um die gemeldeten Fälle mit einer möglichen Ursache in Verbindung zu bringen", so die Washington Post weiter.
Keiner der Geheimdienste habe der Schlussfolgerung widersprochen, dass "kein ausländischer Akteur die Symptome verursacht hat", so ein Beamter gegenüber der Zeitung.
Seit Jahren berichten Hunderte von US-amerikanischen Diplomaten, Geheimdienstmitarbeitern und anderem Personal in Botschaften auf allen Kontinenten von Kopfschmerzen, Übelkeit, Ohrensausen und sogar Hirnschäden, die durch seltsame Geräusche verursacht werden. Einige der Betroffenen behaupteten, sie seien Ziel eines absichtlichen Angriffs Russlands oder eines anderen Gegners gewesen, der "Schallwaffen" eingesetzt habe. Der Abschlussbericht widerspreche dieser Behauptung "in fast jeder Hinsicht", so die Quellen der US-Zeitung.
Die Geheimdienstanalysten fanden demnach "kein Muster oder keine Vielzahl bestimmter gemeinsamer Merkmale, die einzelne Fälle miteinander verbinden könnten" und "keine Beweise, einschließlich forensischer Informationen oder geografischer Daten", die auf den Einsatz gezielter Energiewirkung, beispielsweise Funkwellen oder Ultraschallstrahlen, hindeuten würden. Selbst an Orten, an denen die USA über die "vollständige Fähigkeit zur Überwachung der Umgebung" hinsichtlich bösartiger Aktivitäten verfügten, konnten demnach dafür keine Beweise gefunden werden. Ein Beamter sagte dem US-Blatt:
"Es gab nichts."
Außerdem hielt es keine der Behörden für wahrscheinlich, dass Russland oder China über eine Waffe verfügen, die die Symptome verursachen könnte. In vielen Fällen konnten demnach andere Erklärungen für die Beschwerden gefunden werden. So etwa schlecht funktionierende Klima- und Lüftungsanlagen oder elektromagnetische Wellen, die von harmlosen Geräten wie einer Computermaus ausgingen.
Die Hypothese eines vorsätzlichen, gezielten Angriffs hatte durch den Bericht eines US-Gremiums im Jahr 2020 Auftrieb erhalten. Die beteiligten Wissenschaftler kamen darin zu dem Schluss, dass manche Fälle des "Havanna-Syndroms" durch eine Art gezielten Einsatzes elektromagnetischer Strahlung ausgelöst worden seien. Andere Experten haben diese Theorie jedoch schon bald in Zweifel gezogen.
Im September 2021 veröffentlichte die Online-Plattform BuzzFeed den freigegebenen Bericht einer Beratungsgruppe des US-Außenministeriums namens JASON. Darin kam die Gruppe zu dem Schluss, es sei "höchst unwahrscheinlich", dass die berichteten Symptome durch Mikrowellen oder Ultraschallstrahlen verursacht worden seien. Der im November 2018 verfasste Bericht wurde als geheim eingestuft und dem oben genannten Gremium vorenthalten.
In dem JASON-Bericht heißt es etwa, dass in einem Drittel der gemeldeten Fälle in Havanna wahrscheinlich einheimische Grillen, die in der Umgebung der Botschaft vorkommen, die Verursacher sein könnten. Dies entsprach der Schlussfolgerung von Experten aus Kalifornien aus dem Jahr 2017, die das Geräusch, das angeblich erkrankte Diplomaten gehört haben wollen, als den Paarungsruf der männlichen Indischen Kurzschwanzgrille identifizierten.
In der Zwischenzeit hat der US-Kongress einen Fonds eingerichtet, um diejenigen zu entschädigen, die über Symptome des "Havana-Syndroms" berichtet hatten. Im vergangenen Sommer wurde eine Entschädigung in Höhe von über 100.000 US-Dollar angekündigt.
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