Von Fjodor Lukjanow
Derzeit konzentriert sich zwar die Aufmerksamkeit der Welt auf den europäischen Kriegsschauplatz, aber auch in Asien spielen sich einige sehr interessante Veränderungen ab. Japan ist hierbei am interessantesten. Noch bis vor Kurzem zögerte das Land, international erkennbar militant aufzutreten, weder in Bezug auf sein Militär noch in Bezug auf die Ausübung von wirtschaftlichem Druck. Aber diese Haltung ändert sich derzeit erheblich, und das ist ein starker Indikator für Transformationen in der internationalen Arena.
Der japanische Premierminister Fumio Kishida hat kürzlich eine Tournee durch die USA und durch die führenden Länder Westeuropas beendet. Anders als sonst üblich, wurden praktisch alle Gespräche von militärischer Rhetorik beherrscht. In einer in Paris abgegebenen Grundsatzerklärung betonte Kishida, dass die Sicherheit Europas und der indopazifischen Region untrennbar miteinander verbunden seien und daher auch gemeinsam gewährleistet werden müssten.
Weitere Äußerungen in Rom, London und Washington, D.C. bestätigten dann diesen neuen Trend: Japan will sich im Sicherheitsbereich nicht mehr ausschließlich auf sein Nachkriegs-Verhältnis zu den USA beschränken, obwohl dies die Grundlage seiner gesamten Verteidigungsstrategie bildete. Jetzt strebt man in Tokio ein viel breiteres Engagement mit der gesamten NATO an, dem wichtigsten westlichen Block, vorbehaltlich dessen allmählicher Neuorientierung in Richtung des pazifischen Raums.
Dies ist ein neues Schema. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Sicherheitssystem in Asien weitgehend US-zentriert, allerdings nicht einheitlich, sondern es basiert entweder auf bilateralen Beziehungen und bestenfalls auf kooperierenden Gruppen von Staaten. Die USA waren in diesem System das zentrale, feste Element, die anderen Staaten waren lediglich die Variablen im Gefolge.
Jüngste Initiativen wie der "QUAD" (der USA unter Beteiligung von Japan, Indien und Australien) sowie ein "angelsächsischer Club“ mit Beteiligung der USA, der Briten und der Australier, haben dieses bisherige System nicht infrage gestellt. Jetzt zeichnet sich jedoch etwas anderes ab – die Übertragung des Prinzips eines konsolidierten großen Bündnisses auf Großasien, und zwar unter Einschluss europäischer Verbündeter, für die diese ferne Region keinerlei Sicherheitsbedrohung darstellt.
Im Kern der Strategie steht in Washington die Idee der Unvermeidlichkeit einer strategischen Rivalität zur Volksrepublik China. In den USA hegt man keinen Zweifel daran, dass Peking für die kommenden Jahre oder Jahrzehnte eine große Herausforderung für die US-amerikanische Vormachtstellung in der Welt sein wird. Dies wird in unzähligen Denkschriften und Doktrinen diskutiert und beeinflusst auch die gesamte Haltung des US-Militärs. Russland wird auf Grund dessen, was man in Washington als begrenzte Gesamtfähigkeiten ansieht, als eine akute, aber nur kurzlebige, vorübergehende Bedrohung angesehen.
Der offene Diskurs über die Ukraine als willkommenes Testgelände für US-Waffen sowie Russland als ein Exempel gegenüber China legt nahe, dass die Amerikaner den aktuellen Feldzug in der Ukraine als einen Testlauf für verschiedene Möglichkeiten ihres wirtschaftlichen wie militärischen Einflusses in der Zukunft sehen. In diesem Zusammenhang stellt sich ganz natürlich auch die Frage nach dem Status der bislang transatlantischen NATO.
Die derzeitige Einheit der Allianz gegen Russland hat mittlerweile ein Problem gelöst, mit dem die NATO seit Jahren nicht fertig werden konnte, nämlich mit der fehlenden Klarheit ihrer Mission nach dem Kalten Krieg. Wenn aber die "chinesische Bedrohung" nun vorrangig werden soll, dann stellt sich erneut die Frage nach dem Nutzen einer mächtigen Organisation mit einer rein transatlantischen Basis zwischen Europa und den USA. Inzwischen ist es allerdings schwierig geworden, europäische Staaten für irgendeine antichinesische Agenda zu begeistern. Anders als die USA sieht Westeuropa China nicht als direkte Bedrohung, im Gegenteil, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Peking ist für Europa noch immer äußerst vorteilhaft.
Hier gibt es zwei Auswege. Erstens: Die Verknüpfung Russlands und Chinas zu einem einzigen, antidemokratischen und revisionistischen Konglomerat, das es zu bekämpfen gelte. Mit anderen Worten, wenn man sich gegen Peking stellt, stellt man sich auch gegen Moskau und umgekehrt. Dieser Prozess wird schon seit Langem vorangetrieben. Zweitens wird endlich ein respektabler und eng verbundener regionaler Vorkämpfer gebraucht, der die Ausweitung und Neuausrichtung der NATO auch noch bis zum Fernen Osten anführt – und Japan scheint bereit zu sein, diese Rolle zu übernehmen.
Zum Ende des vergangenen Jahres verabschiedete man in Tokio eine erheblich revidierte Version der nationalen Sicherheitsstrategie, die als die größte Veränderung seit dem Zweiten Weltkrieg gilt. Japan zeigt sich darin bereit, auch eine viel größere militärische Verantwortung zu übernehmen als bisher. In diesem Dokument wird durchaus zwischen europäischer und asiatischer Sicherheit unterschieden. So wird beispielsweise das Vorgehen Russlands in der Ukraine in Europa und in Asien unterschiedlich interpretiert und für die letztgenannte Region merklich weniger thematisiert. Aber China fällt in die Kategorie der eindeutigen Bedrohungen.
Der Aktionismus der japanischen Staatsführung deckt sich zwar mit den Interessen der USA, aber zu den Beweggründen Tokios gehört auch ein gewisses Element des Misstrauens gegenüber den US-Amerikanern. Donald Trump, der Japan und Südkorea als "Abhängige“ bezeichnete, ist noch zu frisch in Erinnerung, und wer nach Joe Biden kommen wird, ist unbekannt. Dementsprechend ist die Idee einer intensiveren Beziehung mit der gesamten NATO auch für Japan ein Weg, um sich vor einem möglichen US-amerikanischen Missmanagement etwas zu schützen.
Ob sich die Westeuropäer ernsthaft mit asiatischen Sicherheitsfragen auseinandersetzen werden, bleibt abzuwarten. Klar ist, dass in Ostasien ein fester, verworrener Knoten entsteht. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich all der Verwicklungen rund um China und die neu aufkeimenden Spannungen auf der koreanischen Halbinsel, nachdem Offizielle in Seoul laut über die Möglichkeit der Anschaffung von Atomwaffen nachgedacht haben – egal, ob das nun eigene oder geliehene wären.
Noch vor zwei Jahrzehnten dominierte das Mantra, dass Wiederholungen der Konfrontationen im Europa des 20. Jahrhunderts niemals nach Asien exportiert werden dürfen. Dies scheint nun auf den Kopf gestellt zu werden.
Übersetzt aus dem Englischen
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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