Das Verbot jeglicher Kommunikation mit russischen Kollegen, die Weigerung, wissenschaftliche Texte von Russen zu veröffentlichen, und die Aufforderung, bei öffentlichen Auftritten keine russischen Institutionen zu erwähnen – derzeit breitet sich im Westen erneut eine regelrechte Kampagne zur Ächtung russischer Wissenschaftler und der dortigen Wissenschaft aus. Und plötzlich erscheint in der Fachzeitschrift Nature Mitte Januar ein Appell einer Gruppe westlicher Forscher, die gemeinsame Arbeit mit russischen Kollegen in der Arktis wieder aufzunehmen. Wie die Nachrichtenagentur RIA Nowosti anmerkt, ist der von Wissenschaftlern aus Großbritannien und Norwegen für die Zeitschrift verfasste Beitrag bahnbrechend. In dem Text auf den Seiten von Nature heißt es:
"Die Einbeziehung von Daten und Fachwissen aus Russland ist für die Eindämmung des globalen Klimawandels von entscheidender Bedeutung. Russland ist nicht nur das größte Land der Welt, sondern es verfügt auch über die längste arktische Küstenlinie und das größte Waldbiom und Permafrostgebiet. Wir fordern daher eine Wiederaufnahme der akademischen Beziehungen und der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit russischen Gelehrten und Institutionen, trotz des Einmarsches Russlands in die Ukraine im vergangenen Februar und der darauf folgenden geopolitischen und sozioökonomischen Krisen."
Die Autoren des Artikels betonen, dass ohne Wissenschaftler und Innovationen aus Russland viele Forschungsprojekte nicht möglich seien – und dass eine erneuerte wissenschaftliche Zusammenarbeit in den gegenwärtig schwierigen Zeiten eine "diplomatische Soft Power" sein könne. Der Beitrag ist von dem Physiker Gareth Rees und dem Geografen Ulf Büntgen von der Universität Cambridge sowie dem Biologen Nils Stenseth von der Universität Oslo unterzeichnet. RIA Nowosti berichtet:
"Rees ist ein Spezialist für Fernerkundung. Durch die Messung der Strahlung erfasst er, wie sich die ökologische Situation in der Arktis verändert. Vor der Pandemie hatte der britische Wissenschaftler eine lange und produktive Zusammenarbeit mit seinen russischen Kollegen und hatte Russland mehrmals besucht. Mit dem Beginn der COVID-Restriktionen wurden die Reisen abgebrochen, und aufgrund der Sanktionen von dem Jahr 2022 kam die offizielle Zusammenarbeit zwischen den Forschern beider Länder vollständig zum Erliegen. Noch vor der Veröffentlichung seines Beitrags in Nature hatte Rees mehrere Erklärungen in führenden Londoner Medien abgegeben, in denen er betonte, dass die Klimawissenschaft nicht ohne Daten aus Russland auskommen kann."
In seinen Interviews erklärte der Wissenschaftler eine sehr einfache Sache: Wälder, die eine große Rolle im bioklimatischen System der Erde spielen, gibt es in Russland im Überfluss. Die borealen Wälder, auch Taiga genannt, sind der wichtigste Faktor zum Senken des Kohlenstoffdioxidspiegels auf der Erde, weshalb die Taiga in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Klimaforscher stand. Und etwa die Hälfte aller borealen Wälder der Erde befindet sich in Russland. Nun haben sich westliche Institutionen der Möglichkeit beraubt, den russischen Teil der nördlichen Wälder zu erforschen – aber wie Rees betont: "Wenn wir sie nicht erforschen, wird das eine ernsthafte Lücke in unserem Wissen sein."
In ihrem Beitrag für Nature weisen Rees und Kollegen auch darauf hin, dass ein Mangel an Zusammenarbeit und Verständnis westlicher und russischer Wissenschaftler das Funktionieren des Arktischen Rates ernsthaft behindern könnte:
"Im Mai wird der Vorsitz des Arktischen Rates von Russland auf Norwegen übergehen, aber es ist nicht klar, wie diese Übergabe ohne wissenschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis erfolgen kann."
Die Rede von fehlender Zusammenarbeit und mangelndem Verständnis ist übrigens keine leere Worthülse. Wie russische Wissenschaftler in Gesprächen mit RIA Nowosti feststellen, schwächt sich der Trend zur Isolierung der russischen Wissenschaft nicht ab, sondern gewinnt sogar noch an Dynamik. Artjom Oganow, Professor am Skolkowo-Institut für Wissenschaft und Technologie, betonte beispielsweise, dass immer mehr Organisationen und Verlage beschließen, russische Wissenschaftler nicht zu Veranstaltungen einzuladen und ihre Artikel nicht zu veröffentlichen. Er erklärte:
"Kürzlich bin ich auf einer Konferenz des Verlags 'Nature' darauf gestoßen. Als sich herausstellte, dass unser Institut unter Sanktionen steht, sagten die Organisatoren, sie würden die Einladung bestätigen, allerdings unter der Bedingung, dass ich verspreche, in meinem Vortrag das Institut nicht zu erwähnen. Das ist ziemlich niederträchtig und, ich würde sagen, erniedrigend. Vor nicht allzu langer Zeit gab es so etwas noch nicht."
Einige Verlage, wie beispielsweise Wiley, weigern sich, Artikel von Mitarbeitern der sanktionierten Universitäten anzunehmen, so RIA Nowosti. Und die Deutsche Forschungsgemeinschaft warnte deutsche Wissenschaftler gar davor, mit Koautoren aus russischen Einrichtungen zu veröffentlichen. In den meisten Fällen kommunizieren westliche und russische Wissenschaftler jedoch weiterhin auf persönlicher Ebene, auch wenn es einige unangenehme Ausnahmen gibt. Einige Länder, vor allem Finnland, haben diese Art der Kommunikation zum Beispiel vollständig verboten. Oganow bemerkt in einem Gespräch mit RIA Nowosti:
"Eigentlich dürfen mir die finnischen Kollegen nicht einmal eine E-Mail schicken. Was soll ich sagen? Es ist schade, dass die Menschen mit einer solchen Form der Unfreiheit konfrontiert werden. Man kann so viel schreien, wie man will, dass das eigene Land das freieste der Welt ist. Aber wenn man als Staatsoberhaupt die E-Mails an friedliche Bürger eines anderen Landes verbietet, dann ist es kein freies Land, sondern ein Beiwerk."
Und der Fall der Russophobie im Zusammenhang mit dem Large Hadron Collider, an dem Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten, hat es sogar in die Schlagzeilen der britischen Zeitungen geschafft. So sprachen sich beispielsweise ukrainische und einige EU-Wissenschaftler dagegen aus, dass ihre Namen und die Namen ihrer russischen Kollegen in denselben Veröffentlichungen genannt wurden. "Ich würde sagen, einige meiner EU-Kollegen sind weitaus radikaler als die Ukrainer", erklärte der russische Physiker Fjodor Ratnikow der britischen Zeitung The Guardian.
Im März des Jahres 2022 setzte das CERN den Beobachterstatus Russlands in der Organisation aus. Gleichzeitig erwies es sich als unmöglich, die Zusammenarbeit mit russischen Forschern abzubrechen. An jedem Experiment der Organisation sind Experten beteiligt, die eigentlich nicht ersetzt werden können, so RIA Nowosti.
In Russland sei man mit den Aussagen der Autoren des Nature-Artikels einverstanden, meint RIA Nowosti. Hier betrachte man die Interaktion im wissenschaftlichen Bereich als eine Form der diplomatischen Beziehungen. "Sie wird besonders wichtig, wenn die traditionelle Diplomatie nicht mehr funktioniert. Es ist notwendig, wissenschaftliche Kontakte zu nutzen, um die Kommunikationswege aufrechtzuerhalten", sagt der Klimatologe Oleg Anisimow, der Mitglied des Zwischenstaatlichen Ausschusses Russlands für den Klimawandel ist.
Und Oganow ist überzeugt: Obwohl die Aufrufe westlicher Kollegen zur Zusammenarbeit mit den Russen selten sind und keine Rechtskraft haben, könnten sie "der Strohhalm sein, der eines Tages dem Kamel das Rückgrat bricht – den Beschränkungen, den Versuchen, die Menschheit in kriegerische Blöcke zu spalten". Er betont:
"Ich bin ein Optimist und glaube, dass intelligente Wissenschaftler verrückte Politiker besiegen werden."
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