Offensive oder Ablenkungsmanöver – Welche Ziele verfolgt der Kampf bei Nikolajew?

Jüngste Frontberichte aus der Ukraine lassen auf eine Intensivierung der Kampfhandlungen im Gebiet Nikolajew schließen. Handelt es sich dabei um die Vorbereitung einer Offensive gegen die ukrainische Regionalhauptstadt oder um ein Ablenkungsmanöver?

Die alliierten Streitkräfte Russlands und der Donbass-Republiken haben begonnen, in Richtung der Stadt Nikolajew vorzustoßen. Bisher erschien dieser Frontabschnitt selten in den Berichten. Nun werden Vorstöße und Zerschlagung ukrainischer Stellungen sowohl entlang des Schwarzen Meeres als auch in Steppengebieten gemeldet. Mehrere Experten glauben, dass ein Aufmarschgebiet für die Offensive auf Nikolajew und weiter auf Odessa bereits geschaffen wurde. Es besteht aber auch die Meinung, dass die Truppen bei Nikolajew eine andere taktische Aufgabe lösen.

Am Dienstag begannen die Streitkräfte Russlands mit Unterstützung der Volksmilizen der DVR und LVR eine Offensive aus dem noch im März befreiten Cherson in Richtung des Gebiets Nikolajew. Dies geht aus den Meldungen im offiziellen Telegramkanal des russischen Verteidigungsministeriums hervor.

In der Nähe von Alexandrowka, einer Siedlung im Gebiet Cherson an der Küste des Golfs von Dnjepr am Schwarzen Meer, 70 Kilometer westlich von Cherson, wurde bei russischen Angriffen eine Untereinheit der 28. Mechanisierten Brigade der Ukraine zerschlagen. Damit erreichten die alliierten Streitkräfte die Grenze des benachbarten Gebiets Nikolajew. "Ein Territorium des Gebiets Nikolajew von zwölf Quadratkilometern Fläche wurde unter Kontrolle gebracht", meldete Russlands Verteidigungsministerium hierzu.

Gleichzeitig wurden aktive Kampfhandlungen im Gebiet Nikolajew selbst gemeldet, als die alliierten Streitkräfte mehrere Munitionsdepots in der Nähe des Dorfes Beresnegowatoje im Osten der Region, 100 Kilometer von Nikolajew entfernt, sowie eine Luftraumüberwachungsstation beim Dorf Dymowskoje, 70 Kilometer nördlich der Gebietshauptstadt, zerstörten.

Am Montag erschienen Meldungen über einen Feuerschlag gegen die ukrainischen Stellungen bei Luparewo – einem Dorf an der Mündung des Südlichen Bug, nordwestlich des bereits erwähnten Alexandrowka. Dort töteten die russischen Streitkräfte bei einem Angriff auf die Stellung der 28. Mechanisierten Brigade der Ukraine über 50 Kämpfer und zerstörten sieben Panzer- und Sonderfahrzeuge. In der nahe gelegenen Siedlung Limany wurde ein Zug von Großkaliber-Kanonen vom Typ "Hyazinth-B" zerschlagen. Darüber hinaus wurde ein Munitionslager in der Nähe der Siedlung Perwomajskoje, das heißt bereits in unmittelbarer Nähe von Nikolajew, östlich der Stadt, zerstört. Außerdem erlitt die bereits erwähnte 28. ukrainische Brigade in der vergangenen Woche Verluste an der Grenze der Gebiete Cherson und Nikolajew, als bei einem Luftschlag etwa 60 Kämpfer getötet und acht Sonderfahrzeuge zerstört wurden.

Fasst man die Meldungen aus dem Südosten des Gebiets Nikolajew zusammen, kann man zum Schluss kommen, dass Russland de facto ein Aufmarschgebiet am rechten Ufer des Dnjepr-Nebenflusses Ingulez besetzt habe und damit weiter auf Nikolajew vorstoßen könne. Diese Ansicht vertritt Larisa Schesler, die Vorsitzende der ukrainischen Union der politischen Emigranten und politischen Gefangenen, eine ehemalige Abgeordnete des Regionalrats von Nikolajew. Sie sagte:

"Nikolajew ist ein sehr wichtiger Punkt an der Frontlinie. Dort sind gerade große Verbände der ukrainischen Armee konzentriert. Die Siedlungen Alexandrowka und Blagodatnoje, die bereits von russischen Streitkräften eingenommen wurden. Blagodatnoje liegt in der Nähe von Snigirjowka – einer Bezirkshauptstadt im Gebiet Nikolajew, die von den russischen Streitkräften seit Ende März kontrolliert wird. Im Allgemeinen wird der Bezirk Snigirjowka ständig von ukrainischer Armee beschossen."

Der Meinung Scheslers zufolge könnte die russische Armee nach der Besetzung eines Aufmarschgebiets am rechten Ufer des Ingulez "erfolgreich in Richtung Nikolajew vorstoßen". Nach dem westlich von Snigirjowka gelegenen Dorf Blagodatnoje gäbe es keine größeren Siedlungen bis Nikolajew. Nach der Einnahme von Nikolajew wäre der Weg auf Odessa eröffnet, so Schesler weiter.

Außerdem würde laut Schesler eine Einnahme von Nikolajew als Ausgangspunkt der Angriffe auf Cherson, die strategisch wichtige Antonow-Brücke über den Dnjepr, Energodar im Gebiet Saporoschje und das Saporoschje Kernkraftwerk ein Ende dieser Angriffe bedeuten. Darüber hinaus könnte Nikolajew zum Teil eines hypothetischen Sicherheitsgurtes von Mariupol bis Transnistrien werden, was unter anderem auch die Sicherheit der Krim vor ukrainischen Angriffen gewährleisten würde.

Eine andere Meinung vertritt der Militärexperte Michail Onufrijenko. Wie er der Zeitung Vsgljad erklärte, gehe es nicht um den Sturm der Gebietshauptstadt Nikolajew. Nach seiner Einschätzung verhindern die Handlungen der russischen Truppen in erster Linie die Versuche der um Nikolajew konzentrierten ukrainischen Verbände, Cherson anzugreifen. "Um dies zu verhindern, zerschlugen die russischen Streitkräfte lokal gegnerische Verbände, die entlang des Flusses Ingulez stationiert waren. In den vergangenen Tagen haben die russischen Luftlandetruppen einen Vorstoß auf die Siedlungen Blagodatnoje und Partisanskoje unternommen. Die Geländegewinne sind klein, etwa drei Kilometer pro Woche, doch das Wichtigste ist, den Gegner zu zerstreuen, damit er Verstärkungen an diese Frontabschnitte schickt und damit keine großflächige Gegenoffensive organisieren kann. Genau diese Aufgabe wird mit der Offensive auf das Gebiet Nikolajew gelöst."

Nach Onufrijenkos Meinug könne das Vorstoßtempo der alliierten Streitkräfte relativ langsam sein. "Die Besonderheit des Gebiets Nikolajew liegt im kleinen Transportweg für technische und personelle Verstärkungen der ukrainischen Truppen aus der gesamten Rechtsufrigen Ukraine."

Seinerseits glaubt der Doktor für Militärwissenschaften Konstantin Siwkow, dass es sich bei der Aktivierung der Kampfhandlungen am Frontabschnitt zwischen Cherson und Nikolajew um ein Ablenkungsmanöver handele. Er sagte: "Russland zeigt einen klassischen Kniff der operativen Kriegskunst. Gegenwärtig kam die Offensive der russischen Streitkräfte im Donbass, am wichtigsten Frontabschnitt, in der Nähe von Slawjansk zum Stillstand, weil die ukrainische Armee dort ständig Verstärkungen heranzieht. Deswegen entschied sich Moskau für einen Angriff auf einem weniger befestigten Abschnitt, im Gebiet Nikolajew." Nach Siwkows Einschätzung löst diese Offensive gleichzeitig mehrere Aufgaben: Erstens wird eine günstige Lage für einen weiteren Vormarsch speziell am Nikolajewer Frontabschnitt geschaffen, zweitens wird die ukrainische Armee gezwungen, Verstärkungen aus Slawjansk umzuleiten.

Ein dritter Vorteil für Russland ist laut Siwkow die Tatsache, dass das ukrainische Kriegsgerät bei der Überführung zum Nikolajewer Frontabschnitt zu einem leichten Ziel für russische Luftstreitkräfte und Artillerie werde. "Was die Besonderheiten der Landschaft im Gebiet Nikolajew angeht, ist die Wohnbebauung dort relativ dicht, deswegen wird der Vormarsch langsam sein, um Siedlungen möglichst zu umgehen", fügte er hinzu.

Zuvor hatte Siwkow darauf hingewiesen, dass eines der Ziele einer möglichen Offensive im Gebiet Nikolajew die Kontrolle über das Südukrainische Kernkraftwerk am Ufer des Südlichen Bug sowie über die Hafenstadt Otschakow werden könnte.

Mehr zum Thema - Juri Podoljaka: Frontenanalyse zum Ukraine-Krieg mit Karten, Zeitraum 15.08.–21.08.2022

Übersetzt aus dem Russischen.