Eine Analyse von Wladimir Prochwatilow
Am 4. Juli rief der kasachische Präsident Qassym-Schomart Toqajew den Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel an: Er schlug dem EU-Politiker vor, dass die Europäische Union kasachisches anstelle von russischem Erdöl kaufe. Aber er drückte es mit eleganter Vorsicht aus:
"Kasachstan könnte seinen Beitrag leisten, indem es die Rolle einer Art 'Puffermarkt' zwischen Ost und West, Süd und Nord spielt."
Außerdem forderte Toqajew die Europäische Union auf, "bei der Entwicklung alternativer transkontinentaler Korridore, einschließlich der transkaspischen internationalen Verkehrsroute", mitzuwirken. Am 7. Juli berief Toqajew eine Sitzung "zur Entwicklung des Transport- und Transitpotenzials der Republik" ein, auf der er vorschlug, die Wege der Öllieferungen Kasachstans ins Ausland zu "diversifizieren": Priorität hat für ihn die transkaspische Route, die durch das Kaspische Meer und unter Umgehung Russlands nach Europa führen würde.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Woher rührt denn Toqajew derartige Antipathie gegen die Russische Föderation, die ihn und seine Umgebung immerhin vor wütenden Islamisten und den sogenannten "Aktivisten der Zivilgesellschaft" in deren Gefolge im Januar dieses Jahres gerettet hat? Ganz einfach: Toqajew befürchtet, dass die USA und ihre "Verbündeten" Kasachstan mit Sanktionen abstrafen werden, wenn dieses jegliche Zusammenarbeit mit Russland auch nur andeute. Hingegen ist die transkaspische Handelsroute eine Wunsch- und Zwangsvorstellung der US-Geheimdienste in einem:
So erschien im März 2020 auf der Webseite der Heritage Foundation ein Artikel von Luke Coffey, einem erfahrenen Analysten eines der vielen US-Militärgeheimdienste. Coffey wertete den Bau von Pipelines durch das Kaspische Meer als die einzige wirtschaftliche Möglichkeit, Treibstoff "von Zentralasien nach Europa zu bringen, ohne ihn durch Russland oder den Iran leiten zu müssen" – und genau das benötige Europa dringend, da es "aktiv nach einer Alternative zu den russischen Energieressourcen sucht".
Allein vergaß der US-amerikanische Geheimdienstoffizier aus unerfindlichen Gründen gänzlich zu erwähnen, dass der Bau von Erdöl- und Erdgaspipelines auf dem Grund des Kaspischen Meeres ein Weg schnurstracks zur Zerstörung der Umwelt im und am Kaspischen Meer ist. Dies wurde von russischen Wissenschaftlern überzeugend nachgewiesen. Im Kaspischen Meer gibt es sieben Zonen mit erhöhter Seebeben-Gefahr. Die seismisch gefährlichste Zone des Kaspischen Meeres ist die Apscheron-Schwelle, ein untermeerischer Höhenrücken tektonischen Ursprungs, der das mittlere vom südlichen Kaspischen Meer trennt. Keine Pipeline, die von Kasachstan oder Turkmenistan zur Westküste (also nach Baku) führen soll, kann die Apscheron-Schwelle umgehen, wo regelmäßig Tsunamis – verheerende Schwankungen des Meeresspiegels und unvorhersehbare seismische Katastrophen – auftreten, die laut des Berichts des P.-P.-Schirschow-Instituts für Ozeanologie an der Russischen Akademie der Wissenschaften "Engineering and geological hazards of the Apscheron sill for a trans-Caspian pipeline" (Ingenieurtechnische und geologische Gefahren der Apscheron-Schwelle für eine transkaspische Pipeline) mit "einem sofortigen Riss der Pipeline" drohen.
Gut, man könnte auch einen anderen Weg einschlagen: Eine Ölpipeline von den reichen Ölfeldern bei Schangaösen in Kasachstan zum Kaspischen Meer verlegen, dort einen Verladeterminal bauen, das Öl von dort aus mit Tankschiffen nach Baku verfrachten und in Baku schließlich in die Ölpipeline Baku-Tbilissi-Ceyhan einleiten. In Ceyhan dann wird das Öl erneut in Tanker verladen, um es nach Südeuropa zu bringen. Doch diese Variante ist unrentabel, wie aus dem Bericht des erwähnten Luke Coffey hervorgeht.
Doch in Europa hört die Welt des Ölförderers ja nun nicht auf: Da sind noch Indien, China und der Iran, die alle mithilfe von Pipelines für Kasachstans Erdölexport erschlossen werden könnten. Theoretisch – aber in der Praxis leider nicht.
Indien mit seiner riesigen Bevölkerung würde liebend gern kasachisches Öl kaufen, keine Frage. Doch auf dem Weg von Kasachstan in das Land der Elefanten und Maharadschas liegt Afghanistan, wo es auf absehbare Zeit unruhig bleiben dürfte. Daher können die kasachischen Ölproduzenten die indische Route vergessen. Und der chinesische Weg erst wird sogar von kasachischen Analysten selbst abgelehnt:
"Chinesische Raffinerien und Petrochemiewerke haben begonnen, aktiv Erdöl aus Russland zu importieren ... Letzteres verkauft es mit einem großen Rabatt von 20 bis 30 Prozent und hat sogar den langjährigen Marktführer Saudi-Arabien vom chinesischen Markt verdrängt. Der Iran, der ebenfalls das Land der Mitte als Erdöl-Absatzmarkt hoch zu schätzen weiß, senkt ebenfalls seine Rohölpreise. Und Kasachstan wird in diesem Krieg der Rabatte keinen Blumentopf gewinnen."
Wohl lieferte Kasachstan in den 1990er-Jahren Öl über eine Art SWAP-Schema in den Iran: Das Öl wurde mit Tankschiffen vom kasachischen Hafen Aktau zu den nördlichen Häfen des Irans transportiert, von wo aus es zu den iranischen Raffinerien in Täbris und Teheran ging. Der Iran seinerseits lieferte die gleiche Menge Öl an Tanker im Persischen Golf.
Die gegen Teheran verhängten Sanktionen machten dieses Vorhaben jedoch bald unrentabel. Jetzt haben die Iraner ein Problem, jemanden zu finden, an wen sie ihr eigenes Öl verkaufen sollen. Und die Ölmengen, die Kasachstan derzeit produziert, lassen sich, wie bereits erwähnt, nur schwer und kaum rentabel über das Kaspische Meer transportieren.
Bis zum Jahr 2025 plant Kasachstan, seine jährliche Erdölförderung auf 100 Millionen Tonnen auszubauen – das sind fast 20 Prozent mehr als heute. Aber das Kaspische Meer ist ein recht seichtes Meer. Kleine Tankschiffe mit maximal 10.000 Tonnen Öl an Bord können es wohl gut durchfahren – doch wenn man 120 Millionen Tonnen kasachisches Öl durch 10.000 teilt, käme man auf eine benötigte Flotte von Tausenden von Tankschiffen. Doch der Bau einer solchen Flotte selbst kleinerer Tanker ist unrealistisch: Weltweit gibt es nur 3.400 davon. Und auch wenn man wenigstens lediglich die geplante Mehrmenge von 20 Millionen Tonnen über das Kaspische Meer transportieren will – auch dann werden Hunderte von Tankern benötigt. Diese aber wird man auf russischen Werften bauen müssen, und das wird dem kollektiven Westen kaum munden, vor dessen Damoklesschwert von abstrafenden Sanktionen Kasachstans Elite solche Angst hat.
Nicht zuletzt ist zum Beispiel nach der Ansicht des Öl- und Gasanalysten Absal Narymbetow auch der Hafen von Aktau ein weiterer Flaschenhals für die kasachischen Erdölexporte. Die Stadt braucht Jahre, um das Erdölterminal ihres Hafens in einem Umfang auszubauen, wie es für den Umschlag großer Ölmengen in Tankschiffe erforderlich ist. Alle führenden Branchenanalysten räumen ein, dass es keine Alternative zum Verkauf kasachischen Öls durch das Kaspische Pipeline-Konsortium (CPC) im russischen Noworossijsk gibt. So wertet Ilham Schaban, Leiter der Denkfabrik Caspian Barrel Oil Research Centre:
"Wird Kasachstan in der Lage sein, sein Erdöl auf irgendwelche alternative Routen umzuleiten? Meiner Ansicht nach nicht. Im März, als zwei de CPC- Tankerladeeinheiten bei Noworossijsk wegen eines Unfalls über einen Monat lang kein Öl verladen konnten, war Kasachstan gezwungen, die Ölförderung um 320.000 Barrel pro Tag zu reduzieren."
Doch zu welchem Zweck – ja überhaupt: warum dann? – fordert der kasachische Präsident, Ölexportrouten zu etablieren, die Russland umgehen sollen? Hat er vielleicht schlechte Berater, die die Lage nicht analysieren können? Wohl kaum. Die Unmöglichkeit, große Mengen kasachischen Öls unter Umgehung Russlands auszuführen, ist allgemein bekannt. Es scheint, als ginge es dem Nachfolger des "Jelbasy" genannten Nursultan Nasarbajew vor allem darum, den USA und ihren Verbündeten seine feste Entschlossenheit zu demonstrieren, sich zumindest mit Worten so weit wie möglich von Russland zu distanzieren.
Damit aber trotzt die kasachische Regierung Russland, das jederzeit die Ölexporte der zentralasiatischen Republik, wie der russische Volksmund es sagt, "mit null multiplizieren" kann: Dafür muss Moskau einfach den Betrieb der CPC-Erdölverladeterminals in Noworossijsk aussetzen – schließlich gehen 80 Prozent der kasachischen Ölexporte gerade über das Noworossijsk-Terminal nach Europa. Und für einen solchen Schritt findet man immer einen nachvollziehbaren und glaubwürdigen *hust* Grund. Mit den Wendehälsen in den kasachischen Eliten aber wird Russland kein Mitleid haben. Sollen sie doch ihren Sonder- und Umweg gehen, auf dem sogar Unglücksraben und schwarze Katzen vor ihnen weichen.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Wladimir Prochwatilow ist russischer Militärexperte und politischer Beobachter, dessen Analysen von vielen prominenten russischen Medien veröffentlicht werden, darunter Gazeta.ru, die Business-Zeitung Wsgljad oder die Nachrichtenagentur Regnum. Er ist außerdem bekannt durch seine Tätigkeit bei den beiden Nichtregierungs-Denkfabriken "Akademie für Realpolitik" und "Akademie der Militärwissenschaften" (ein Verband für Forschung und Studien im Militärwesen). Prochwatilow war sowjetischer Kaderoffizier und Testingenieur für Steuerungssysteme von Weltraumfahrzeugen und Satelliten.
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