Eine Analyse von Bradley Blankenship
Während des jüngsten Gipfeltreffens der nordatlantischen Allianz NATO in Madrid, hat das Bündnis sein erstes "strategisches Konzept" seit 2010 verabschiedet. Erwartungsgemäß wird darin Russland als die größte Bedrohung für die Sicherheit des Bündnisses definiert. Aber zum ersten Mal wird China als "ein Anlass zur Sorge" erwähnt. Auch wenn eine provokative Rhetorik seitens einiger Mitgliedsstaaten vermieden werden konnte, ist die Erwähnung Chinas im Konzeptpapier der NATO trotz allem bedeutsam.
In ihrer Bewertung mit dem Titel "Strategisches Umfeld", widmete die NATO China einen ganzen Absatz (Punkt 13). Darin heißt es, dass Chinas "erklärte Ambitionen und sein nötigendes Vorgehen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte infrage stellen. Die Volksrepublik China setzt ein breites Spektrum politischer, wirtschaftlicher und militärischer Instrumente ein, um ihre globale Präsenz und ihre Machtprojektion zu erweitern, während sie ihre Strategie, Absichten und ihre militärische Aufrüstung im Dunkeln lässt. Die böswilligen Hybrid- und Cyberoperationen der Volksrepublik China und ihre konfrontative Rhetorik und Desinformation zielen auf unsere Verbündete ab und schaden der Sicherheit der Allianz."
Weiter heißt es: "Die Volksrepublik China versucht, wichtige technologische und industrielle Sektoren, kritische Infrastrukturen sowie strategische Rohstoffe und Lieferketten zu kontrollieren. Sie nutzt ihren wirtschaftlichen Hebel, um strategische Abhängigkeiten zu schaffen und ihren Einfluss zu erweitern. Sie strebt danach, die auf Regeln basierende internationale Ordnung zu untergraben, einschließlich in den Bereichen Weltraum, Kybernetik und Seefahrt. Die Vertiefung der strategischen Partnerschaft zwischen der Volksrepublik China und der Russischen Föderation und ihre sich gegenseitig verstärkenden Versuche, die auf Regeln basierende internationale Ordnung zu untergraben, laufen unseren Werten und Interessen zuwider."
Punkt 14 im Strategiepapier scheint diese konfrontative Haltung etwas zu relativieren, indem gesagt wird, dass die NATO "offen bleibt für ein konstruktives Engagement mit der Volksrepublik China, einschließlich des Aufbaus gegenseitiger Transparenz im Hinblick auf die Wahrung der Sicherheitsinteressen des Bündnisses".
Aber es sagt auch aus, dass die Mitglieder der NATO daran arbeiten werden, "systemische Herausforderungen", die von China gestellt werden, anzugehen, die auch im Abschnitt "Kooperative Sicherheit" angesprochen werden. Damit wird erklärt, dass der "Indopazifik für die NATO wichtig ist, angesichts der Entwicklungen in dieser Region, die eine euroatlantische Sicherheit direkt beeinträchtigen".
Zuallererst verleiht diese Einschätzung einer äußerst fehlerhaften Logik eine Glaubwürdigkeit, dass China irgendwie die westliche Wirtschaft untergraben will. Tatsache ist, dass die Globalisierung, ein Prozess, der vom kollektiven Westen initiiert wurde, zu einem verstärkten Wettbewerb auf den globalen Märkten geführt hat. China hat die Regeln dieses Wettbewerbs nicht verzerrt, es gewinnt das Spiel lediglich fair und ehrlich, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass es die größte Bevölkerungszahl der Welt hat – und zudem eine, die hochgebildet ist.
Verständlicherweise wird Peking die Haltung der NATO als mangelnden Respekt für seine Entwicklung sehen, die es selbst als friedlich und für alle Beteiligten vorteilhaft ansieht. Als der chinesische Staatsrat und Verteidigungsminister Wei Fenghe am 19. Juni beim jüngsten Shangri-La-Dialog in Singapur sprach, bei dem auch sein US-Amtskollege anwesend war, verwies er ausdrücklich darauf. Bemühungen, Chinas Einfluss "einzudämmen", sind im Wesentlichen Bemühungen, Chinas Entwicklung aufzuhalten, die von der größten Kampagne in der Menschheitsgeschichte gegen die Armut begleitet wurde. Dagegen anzukämpfen, sei absolut unmoralisch.
Das strategische Konzept der NATO lässt dem Bündnis eindeutig die Tür offen, sich in Chinas Nachbarschaft einzumischen. Es sollte beachtet werden, dass das Strategiepapier der NATO auch Chinas unmittelbare Anrainerstaaten erwähnt. Zum Beispiel erkennt es das Konzept der Großmachtpolitik in Bezug auf seine eigenen Interessen an, aber nicht jenes von China. Dies ist ein außergewöhnlicher Trugschluss, der seit geraumer Zeit ein Markenzeichen der Politik der USA und der NATO ist und beispielsweise die Bedingungen für den aktuellen Konflikt in der Ukraine festlegt.
Schließlich muss anerkannt werden, dass, obwohl das Strategiepapier stark auf Russland Bezug nimmt und eine verstärkte Truppenpräsenz an der Ostflanke der NATO in Europa postuliert, dieses immer noch mit dem strategischen Denken der USA in Bezug auf China zu tun hat.
Eine Einschätzung dazu stammt von A. Wes Mitchell, dessen Stimme meines Erachtens sehr einflussreich innerhalb des US-Sicherheitsapparats ist. Der ehemalige stellvertretende Außenminister für europäische und eurasische Angelegenheiten, schrieb in einem Meinungsartikel für The National Interest, dass ein Zweifrontenkrieg mit Russland und China nicht zu gewinnen wäre. Somit müssen die USA einen Weg finden, die Konfrontationen mit beiden zu verschieben. In seinem Aufsatz argumentierte er, dass die USA dem Einfluss Russlands in Europa den Todesstoß versetzen und es damit zwingen sollten, zu einer östlichen Macht zu werden.
"Einfach ausgedrückt sollte das Ziel sein, Amerikas Problem der "Gleichzeitigkeit" zu entschärfen, indem man Russland Anreize gibt, weniger eine europäische und mehr eine asiatische Macht zu sein", schrieb er. Man beachte, dass dieser Artikel nicht nur in einer öffentlich zugänglichen Publikation veröffentlicht wurde, sondern auf einem Bericht basiert, den Mitchell im Jahr 2020 für das Pentagon verfasst hat.
Der Fokus des strategischen Konzepts der NATO auf Russland und die jüngsten Aktionen des Bündnisses, scheinen eine exakte Umsetzung der Strategie von Mitchell zu sein. Das heißt, Russland durch den Konflikt in der Ukraine und den Aufbau einer NATO-Ostfront aus Europa zu vertreiben – und so einen potenziellen Konflikt an zwei Fronten mit Russland und China zu verzögern. Aber während sich das strategische Konzept derzeit auf Russland konzentriert, steht ganz klar China als nächster Schwerpunkt im Fadenkreuz der NATO.
Übersetzt aus dem Englischen.
Bradley Blankenship ist ein in Prag lebender amerikanischer Journalist, Kolumnist und politischer Kommentator. Er hat eine Kolumne bei CGTN und ist freiberuflicher Reporter für internationale Nachrichtenagenturen, darunter die Nachrichtenagentur Xinhua. Er twittert auf @BradBlank_.
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