Eskalationsgefahr im hohen Norden: Norwegische Landblockade der russischen Siedlung auf Spitzbergen

Neben der jüngsten Landblockade Kaliningrads durch den NATO-Staat Litauen läuft bereits seit Monaten eine weitere rechtswidrige Blockade – nämlich durch Norwegen gegen auf Spitzbergen lebende und arbeitende Russen. Reibereien um Spitzbergen haben eine Vorgeschichte und bergen Gefahren.

Eine Analyse von Joe Bessemer

Die norwegische Regierung hat eine Blockade gegen die auf der Insel West-Spitzbergen lebenden Russen verhängt. Der Spitzbergen-Archipel wird offiziell von Norwegen kontrolliert, hat aber einen völkerrechtlichen Sonderstatus. Sein Gebiet und seine Küstengewässer sind eine vertraglich entmilitarisierte Zone. Russland hat drei Siedlungen auf Spitzbergen: das aktive Barentsburg und zwei stillgelegte Siedlungen, Pyramiden (Piramida) und Grumant, in denen vor und während der Sowjetzeit Kohle abgebaut wurde.

In Barentsburg gibt es neben geologischen Forschungseinrichtungen ein Bergwerk, ein Wärmekraftwerk und einen Hafen, außerdem ein Krankenhaus, einen Kindergarten, eine Schule und ein Museum. Rund ein halbes Tausend Menschen arbeiten und leben hier: Bergleute, Lehrer, viele Wissenschaftler – Geophysiker, Geologen, Archäologen, Biologen, Eisforscher, Geographen.

Sieben Tonnen Lebensmittel für die russischen Bewohner West-Spitzbergens stecken an der russisch-norwegischen Grenze, am einzigen Kontrollpunkt Storskog, derzeit fest. Insgesamt sind dort bereits 20 Tonnen Waren angestaut. Darunter befinden sich Ersatzteile für Landfahrzeuge und Schiffe, aber nicht einmal Lebensmittel und Medikamente dürfen ans Ziel geliefert werden. Norwegen lässt die Lastwagen nicht durch und blockiert gezielt Landkorridore. Ausgenommen sind lediglich Häfen und Straßen auf Spitzbergen selbst. Das offizielle Oslo begründet die Blockade mit der angeblichen Einhaltung von antirussischen Sanktionen der Europäischen Union – zum Beispiel gemäß dem fünften EU-Sanktionspaket.

Lieferungen aus Russland nach Spitzbergen liefen seit Jahrzehnten relativ reibungslos: Auf dem Landweg von Murmansk nach Tromsø in Norwegen. Und von dort ging es auf dem Seeweg zum Archipel.

Am 4. Mai kündigte Norwegen jedoch an, sein Hoheitsgebiet und seine Häfen (mit Ausnahme der Häfen und Straßen in Spitzbergen selbst) ab dem 7. Mai für den Transit russischer Fracht zu schließen. Und hiervon ist auch der Landtransit Richtung Spitzbergen erfasst, obwohl es in der Ankündigung des Schließens der Grenze zu Russland für LKW und für Schiffe von der norwegischen Außenministerin Anniken Huitfeldt am 29. April noch hieß: Spitzbergen, wo ein Sonderabkommen in Kraft ist, werde von diesen Einschränkungen ausgenommen sein.

Der Zugang zu den Häfen bleibt tatsächlich vorerst noch offen. Eine Blockade wäre auch ein weiterer grober Verstoß, nämlich gegen das UN-Seerechtsübereinkommen. Es ist jedoch verständlicherweise höchst unrentabel, Schiffe direkt von Murmansk bis nach Spitzbergen zu schicken, und eine Verzögerung bei solchem Transfer von Waren könnte zum Notstand und zu Notfällen führen. Sergei Guschtschin, russischer Generalkonsul in Spitzbergen, erklärte in einer Livesendung des russischen Fernsehsenders Rossija 24:

"Lieferungen [rein über den Seeweg] sind sehr kostspielig und – formulieren wir es so – schwer umzusetzen und ineffektiv. Der 'Arktikugol'-Kohleförderungstrust musste seine Logistikkette über Jahrzehnte entwickeln und feinjustieren. Und alles hat funktioniert wie es funktionieren soll – bis Norwegen sein Landgebiet gesperrt hat."

Daher habe die russische Seite Norwegen am 18. Mai gebeten, Ausnahmen von dieser Art der Anwendung der Sanktionen zu machen und den Transit von Fracht aus Russland in das russisch genutzte Barentsburg zu öffnen, informierte Guschtschin:

"Die Leitung des 'Arktikugol'-Trusts hat am 25. Mai einen Appell an den Gouverneur von Spitzbergen geschrieben, in dem sie um eine Ausnahme vom Verbot des Transits von russischer LKW-Fracht speziell für Lieferungen nach Barentsburg und die Siedlung Piramida auf Spitzbergen bittet."

Die russische Botschaft fügte diesem Schreiben eine Note an das norwegische Außenministerium bei, in der sie das Außenministerium bat, eine solche Ausnahme zu gewähren.

Bis heute ist keine Antwort eingegangen, und ein Weiterbestehen dieser Lage birgt die Gefahr, dass die etwa 500 Menschen in der russischen Siedlung Barentsburg in Versorgungsnotstand im Hinblick auf Lebensmittel und Medizinische Versorgung geraten. Allerdings scheint die Entscheidung des NATO-Mitglieds Norwegen eine politische Demonstration zu sein – um damit genau eine solche Verschärfung der Lage zu bezwecken. Zwar sind die Sanktionen der Europäischen Union (EU) für Norwegen vordergründig der offizielle Anlass für diese Blockade, aber Oslo scheint schon länger darauf aus zu sein, den Russen auf Spitzbergen das Leben möglichst schwer zu machen. Dies ging bereits dann los, als Russlands Aktivitäten auf Spitzbergen stärker wurden. Konstantin Saikow, Prorektor für Internationale Zusammenarbeit an der Föderalen Arktischen Universität, nennt einige Beispiele:

"Allein unter dem Gesichtspunkt des Umweltschutzes begann Norwegen, immer mehr verschiedene Vorschriften und Normen zu erlassen, die den Bau neuer Häuser nicht zuließen, dann auch solche zur Verwendung von Luftfahrzeugen, die einen nach norwegischer Auffassung nicht umweltfreundlichen Treibstoff verwenden und daher die Umwelt schädigen, und viele weitere Dinge mehr. All dies führte dazu, dass der Einsatz von Hubschraubern durch russische wissenschaftliche Organisationen eingeschränkt wurde, was sie praktisch daran hinderte, mobile Feldforschung zu betreiben."

Dabei betreibt Russland intensive Forschungsaktivitäten auf und um Spitzbergen. Sinaida Popówa, Physikerin des hydrometeorologischen Observatoriums in Barentsburg, zählt die Probleme auf, denen sie und ihre Kollegen gegenüberstehen – von der Güterblockade ganz abgesehen:

"Geologen, Archäologen, Glaziologen – aus Moskau, Sankt Petersburg, dann das Geographische Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Pflanzenforscher, Biologen – betrieben hier sehr rege Forschungsaktivitäten. Und jetzt haben sie Probleme sowohl mit Visa als auch mit der Fortbewegung und Grenzüberquerung als auch mit Genehmigungen. Sehr viele Gegenden erklärt Norwegen zu Naturschutzgebieten und erlauben uns nicht mehr, überall zu arbeiten."

Gerade der Punkt mit den Visa ist ein besonders wunder Punkt, weil russische Staatsbürger gemäß geltenden völkerrechtlichen Verträgen normalerweise gar keine Einreisegenehmigung für die Inseln der Spitzbergen-Inselgruppe benötigen.

Im Jahr 2002 verabschiedete Norwegen ein Umweltschutzgesetz, das besagt, dass die norwegischen Behörden eine Sondergenehmigung für die Ausübung jeglicher Tätigkeit auf Spitzbergen ausstellen müssen, während zuvor für den Zugang zum Archipel lediglich eine Notifizierung ausreichte.

Rund 65 Prozent des Territoriums der Inselgruppe sind mittlerweile von Norwegen als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Russland ist der Ansicht, dass die "künstliche Ausdehnung der Schutzgebiete" die wirtschaftliche Tätigkeit auf dem Archipel einschränkt. Auf diese Missstände wies Russland zum Beispiel bereits im Jahr 2020 hin und bemängelte die fehlende Gesprächsbereitschaft Oslos.

Dabei muss klar sein, dass Oslos derartiger Missbrauch des einstmals Norwegen zuerkannten Hoheitsrechts über die Inselgruppe dem Pariser Spitzbergenvertrag zuwiderläuft, aus dem sich ebendieses Hoheitsrecht überhaupt erst ergibt: Dieser im Jahr 1920 geschlossene Vertrag (oder norwegisch Svalbardtraktaten) erkannte Norwegens Souveränität über den arktischen Archipel Spitzbergen an und definierte ihn als entmilitarisierte Zone. Alle Staaten, die das Dokument unterzeichneten, erhielten das Recht, auf den Inseln Spitzbergens und den dortigen Hoheitsgewässern geschäftlich und wissenschaftlich tätig zu sein. Dies waren ursprünglich Dänemark, Frankreich, Italien, Japan, die Niederlande, Norwegen, Schweden, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten, doch seitdem erweiterte sich die Unterzeichnerliste auf über 50 Staaten. Zu diesen gehört auch Russland, das überdies als Nachfolgestaat der Sowjetunion deren von Norwegen in der Erklärung vom 15. Februar 1947 anerkannte wirtschaftliche Sonderrechte auf der Insel erbte. Auch gegen diese Erklärung verstößt Norwegen somit.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass in der momentanen Parade von jeglichen Blockaden gegen Russland die litauische Sperrung des Transitwegs von Russland zu seiner Exklave Kaliningrad lediglich Nebenzwecke erfüllt: Sie soll erstens vom schleichenden Bruch des Spitzbergenvertrags durch Oslo ablenken und zweitens Russlands Reaktion auf ein derartiges Vorgehen ausloten, bevor es mit Spitzbergen ans Eingemachte geht. Hat Oslo nämlich erst einmal den Spitzbergen-Vertrag einmal gebrochen, sind die Inseln keine demilitarisierte Zone mehr, und auf ihnen dürfte zeitnah militärische Infrastruktur der NATO-Staaten, allem voran der USA, disloziert werden. Dies wäre jedoch gefährlich nahe an der russischen Arktis im Allgemeinen und zu den Stützpunkten der russischen Atom-U-Boote im Besonderen – U-Boote, die einen wichtigen Teil des russischen nuklearen Abschreckungspotenzials ausmachen. Zudem würde die NATO dann den westlichen Zugang ins Nordpolarmeer uneingeschränkt kontrollieren, was Russland militärisch wie wirtschaftlich schaden würde.

Klar ist aber auch, dass Russland sich mit einem endgültigen und vollständigen Verlust der – zumal ursprünglich russischen – Inselgruppe nicht abfinden wird. Dafür sind die damit verbundenen Sicherheitsrisiken einfach zu groß. Bleibt nun also lediglich abzuwarten, ob Russlands Antwort zuerst in der Ostseeregion oder im hohen Norden erfolgt.

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