Nach einer jüngsten Äußerung des kasachischen Präsidenten Qassym-Schomart Tokajew zur Ukraine-Krise und den Sanktionen der EU gegen Russland scheint zwischen Russland und Kasachstan eine Art logistischer Handelskrieg entbrannt: Er betrifft die Ausfuhr und den Transit von Energieträgern aus Kasachstan – die in nahezu vollem Umfang für den europäischen Markt bestimmt sind. Doch der Schein trügt, noch wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird – und vom Kochen ist das Ganze zudem noch weit entfernt.
Schein ...
Ein betroffener Energieträger ist Erdöl: Die Öltransporte des Kaspischen Pipeline-Konsortiums (CPC) über den Güterhafen von Noworossijsk, die jetzt schon bis Ende des Monats heruntergefahren wurden, könnten laut der russischen Zeitung Kommersant zeitweise sogar gänzlich unterbrochen werden. Nach Daten, die dem Blatt vorliegen, wurden in Gewässern in der Nähe der Tankerladeeinheiten des CPC etwa 50 potenziell gefährliche Gegenstände gefunden – nicht explodierte Torpedos und Seeminen oder womöglich auch Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg. Derweil gehen die kasachischen Behörden nach wie vor davon aus, dass der Rückgang der Lieferungen keine Auswirkungen auf die Ölexporte des Landes haben wird.
Bei Suchaktionen rund um die Anlagen des Kaspischen Pipeline-Konsortiums in den Gewässern des Hafens von Noworossijsk wurden noch im Jahr 2021 mehr als 50 Gegenstände entdeckt, bei denen es sich um Sprenggeschosse aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges handeln könnte. Diese konnten bisher wegen des Beginns der russischen Operation in der Ukraine jedoch weder untersucht noch gegebenenfalls geborgen werden. Nach bisher unbestätigten Angaben mehrerer Quellen des Kommersant wurde das an die Tankerladeeinheiten des Konsortiums angrenzende Wassergebiet am 16. Juni für den Schiffsverkehr gesperrt, um Untersuchungsarbeiten an den Funden zu ermöglichen – was zu einer Unterbrechung der Transporte geführt haben soll. Die nächste Kampfmittelbergungsaktion sei für den 20. Juni geplant.
Quellen des Kommersant vermuten, dass die CPC-Erdöllieferungen mindestens bis Ende des Monats lediglich mit Unterbrechungen fortgeführt werden könnten: Mindestens so lange nämlich soll laut der Hafenbehörde von Noworossijsk die Untersuchung aller mutmaßlichen Kampfmittelfunde in und an den Hafengewässern andauern.
Die Förderkapazität der 1.500 Kilometer langen CPC-Ölpipeline beträgt 67 Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr. Diese Strecke ist die wichtigste für den Transport von Öl aus Kasachstan zu den westlichen Märkten. Das Öl aus der Pipeline wird über ein Seeterminal in der Nähe von Noworossijsk, dessen Anlegestellen mit drei ferngesteuerten Tankerladeeinheiten ausgestattet sind, auf Tanker verladen. Am 15. Juni meldete das CPC, dass die Einheiten Wolschski-1 und Wolschski-2 zur Inspektion des Wasserbereichs abgeschaltet werden, wobei Wolschski-3 im Normalbetrieb weiterläuft.
Der zweite der betroffenen Energieträger ist Steinkohle. So lehnen die Rossijskije schelesnyje dorogi, die staatliche Eisenbahngesellschaft der Russischen Föderation, Anfragen zum Beispiel des kasachischen Konzerns Schubarkol Komir zur Genehmigung von Plänen für den Transit von Kohle aus dessen Zechen nach Europa durch Russland ab, berichtet das Online-Nachrichtenportal Kazakh24.Info mit Verweis auf Juldasch Ibragimow, CEO von Transcom, einer Tochtergesellschaft der Eurasian Resources Group (ERG). Der Geschäftsleiter bemängelte in einem Kommentar für Kazakh24.info am Rande des Kongresses Astana Mining & Metallurgy (AMM):
"Die Russische Eisenbahn gibt uns keine Billigung für Pläne zur Lieferung von Schubarkol-Kohle an lettische Häfen. Sie billigen nur Pläne für russische Häfen, aber das Durchsatzvolumen ist dort begrenzt. Deshalb ist es heute eher problematisch, über lettische Häfen auf die Märkte Europas zu kommen."
Zuvor hatte Kazakh24.info berichtet, dass kasachische Kohleexporte in die EU über den lettischen Güterhafen Ventspils laufen werden. Vor Russlands Einstieg in den Ukraine-Krieg mit seinem militärischen Sondereinsatz dort nutzten Kohleexporteure aus Kasachstan in der Regel russische Häfen in der Ostsee, doch russische Schiffe dürfen sanktionsbedingt in einigen wichtigen europäischen Häfen nicht mehr einlaufen. Ibragimow zufolge komme der Schubarkol-Konzern mangels Genehmigung der Russischen Eisenbahn für den Transit seiner Kohle über Lettland in diesem Monat auf keine wirtschaftlich sinnvolle Lösung: Die Alternativen, etwa die transkaukasische und die transkaspische Route, weisen in Ermangelung der erforderlichen Infrastruktur entweder nicht die nötige Durchsatzkapazität auf oder sind schlicht zu teuer.
Auch die von kasachischen Kohleexporteuren vorgelegten Pläne für den Kohletransit über die reinen Überlandrouten über Weißrussland und Polen würden seit April von der RSchD abgelehnt, schreibt das kasachische Blatt Kursiv.
Sowohl den teilweisen Umsatzstopp des kasachischen Erdöls in Noworossijsk als auch die stellenweise berichtete Weigerung der russischen Eisenbahnbetreibergesellschaft, kasachische Kohle auf jeglichen Strecken transportiert zu wissen außer derer, die an russischen Häfen enden, bringt man gern mit jüngsten Äußerungen des kasachischen Staatschefs Qassym-Schomart Tokajew in Verbindung. Auf dem Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum erklärte er, dass Kasachstan die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, die er als "quasistaatliche Territorien" bezeichnete, allem Anschein nach nicht anerkennen werde. Zuvor erklärte er außerdem in einem Interview an den russischen Sender Rossija 24, dass Kasachstan sich an alle Sanktionen gegen Russland halten werde – ohne sich allerdings den Pflichten als militärischer Verbündeter Russlands zu entziehen.
Es tauchten zwischenzeitlich sogar Meldungen auf, Kasachstan habe in Vergeltung für den teilweise ausgesetzten Erdölexport über Noworossijsk russische Steinkohle in der Menge von knapp 1.700 Frachtwaggons, auf Transit durch Kasachstan nach Russland befindlich, blockiert.
… und Sein
Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, zwischen den beiden OVKS-Verbündeten Russland und Kasachstan sei ein Handelskrieg ausgebrochen – ausgelöst vom oben umrissenen Kurs Kasachstans. Dem ist allerdings nicht ganz so.
Denn in Kasachstan selbst scheint man sich keine großen Sorgen über angeblich ausfallenden Erdölexport zu machen. So erklärte der kasachische Energieminister Bolat Aktschulakow, dass die vorübergehende Aussetzung der Ölumschläge aus den beiden in Noworossijsk wegen Kampfmittelräumung ausgefallenen Tankerladeeinheiten keine gravierenden Auswirkungen auf die Ölexporte des Landes haben werde: Bereits die dritte verbleibende Pumpeinheit reiche aus, um immerhin 70 Prozent der Förderkapazität der Pipeline auf Tanker zu laden.
Igor Juschkow, Experte an der der russischen Regierung unterstellten Finanzuniversität, erinnert ferner: Selbst ein vollständiger Stopp der Förderung durch das CPC werde kein großes Problem darstellen. Kasachstan wird in der Lage sein, einen Teil des Öls über das Transneft-System für den Export über die baltischen Häfen oder über die Baku-Tbilissi-Ceyhan-Pipeline in die Türkei umzuleiten.
Auch die Nachricht, Kasachstan halte Eisenbahn-Frachtwaggons mit russischer Steinkohle blockiert, wurde bereits vom Leiter für Eisenbahninfrastruktur und Frachtverkehr im kasachischen Komitee für Transport, Satschan Osbekow, dementiert:
"Unsere Geschäfte mit der Russischen Eisenbahn laufen alle im Normalbetrieb, keinerlei Stocken – weder bei Export noch bei Import."
Das betrifft wohl mindestens die bereits bewilligten Transitpläne. Doch auch was die angebliche Nichtbewilligung einiger neuer Transitpläne durch die russische Seite anbelangt, so sprach der weiter oben bereits zitierte Juldasch Ibragimow selbst von einer Diversifizierung der Exportwaren wie -strecken: Über Kuryk und Aktau, kaspische Häfen Kasachstans, würden nun neben und statt Kohle (für deren Umschlag sie etwas schlechter geeignet seien) vermehrt Aluminium und Eisenerzeugnisse exportiert – über den Umweg türkischer Häfen nach Europa.
Auch hält Kasachstan an der Befolgung der Sanktionen der USA und der EU gegen Russland nicht gänzlich grundlos fest. Das Land muss mit den Folgen der COVID-19-Pandemie fertigwerden: In deren Verlauf fielen die Preise für Erdöl, das Kasachstans Hauptexportware ist und für 35 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verantwortlich ist – und Kasachstan brauchte seinen Fonds für nationales Wohlergehen, Samruk-Kasyna, fast vollständig auf.
Und ein Einhalten der Sanktionen (etwa dadurch, dass das Land keinen Transit von den Sanktionen betroffener Güter nach Russland über sein Gebiet erlaubt) bedeutet, dass Kasachstan weiterhin Transitland für chinesische Güter nach Europa bleiben darf.
Seinerseits hindert Kasachstan russische Firmen gegebenenfalls nicht daran, ihren Sitz auf seinem Staatsgebiet anzumelden und so antirussische Sanktionen zu umgehen.
Gegensanktionen gegen Lettland und restliche EU?
Wie man sieht, ist der Schein eines Handelskriegs zwischen Russland und Kasachstan eben nur das – Schein: In Wirklichkeit kommt Kasachstan nach wie vor durch Diversifizierung seiner Exportgüter und Exportrouten wieder auf seine Kosten. Schon eher könnte die oben umrissene Lage umso mehr den Abnehmern der kasachischen Kohle in Europa schaden – insbesondere würden davon speziell die Häfen Lettlands betroffen sein: Nach dem historischen Umsatzminimum im Jahre 2021 konnten sie bis zuletzt wieder Wachstum verzeichnen, das sich vor allem aus kasachischen Waren ergibt – allen voran eben Steinkohle, schreibt Sputnik. Der Wegfall, und sei es auch nur ein teilweiser, ebendieser kasachischen Transitgüter über die lettischen Häfen würde der Wirtschaft Lettlands, dessen Regierung nicht nur in letzter Zeit geradezu darauf versessen zu sein scheint, Russland möglichst viel zu schaden und Russen zu kränken, politisch zu verfolgen und zu schikanieren, einen Schlag versetzen. Ob sich für Europa ein teilweiser Wegfall allein der kasachischen Steinkohle bereits in Engpässen niederschlägt oder nicht: Auf derartige Verknappung reagierten Märkte schon immer mit Preissteigerungen, zumal Kohle als provisorischer Ersatz für das (ironischerweise sanktionsbedingt) bereits nochmals deutlich knapper und somit teurer gewordene russische Erdgas herhalten soll.
Statt Handelskrieg: Soll ein Rosenkrieg einem zweiten "Kasach-Maidan" zuvorkommen?
Nun ist keineswegs ausgedacht, dass sich die Beziehungen zwischen Russland und Kasachstan bereits seit Längerem zu einem gewissen Grade abgekühlt haben. Der Grund ist der gegen die zahlreich in Kasachstan lebenden Russen gerichtete kasachische Nationalismus, der dort unter Wegsehen beziehungsweise Patenschaft einiger Vertreter der vorigen, aber auch der jetzigen Regierung seine giftigen Blüten trieb und treibt. Der Politologe und Spezialist für internationale Beziehungen Wladimir Pawlenko bemerkt: Kasachische Nationalisten, offene wie verdeckte, haben es anhand gleich mehrerer Sachen mit der Angst zu tun bekommen. Einmal ist es die Tatsache, dass Russland nach dem Putsch in der Ukraine im Jahre 2014 die mit dessen Ergebnis unzufriedenen und dafür von der Kiewer Junta terrorisierten dort lebenden Russen sofort und die ganze Zeit über unterstützte, womit es realistisch gesehen nur konnte – und sich im entscheidenden Moment acht Jahre später entschlossen für ihre Sicherheit einsetzte. Angesichts dessen sei den kasachischen Nationalisten klargeworden, dass Russland etwaige gewaltsame Verfolgung der Russen in Kasachstan, von Versuchen von Völkermord ganz zu schweigen, definitiv nicht dulden wird. Die größte Angstquelle für den, wie Pawlenko ihn nennt, "astanischen Kleinstadtpolitclub" seien die auf den befreiten Gebieten der Ukraine einsetzenden Prozesse des Bruchs mit Kiew (und hier möchte man anfügen: blitzschnell einsetzende und ebenso blitzschnell verlaufende). Im Falle eines Krachs der heutigen Regierung Kasachstans bei einem Putsch nationalistischer Gruppierungen würden die Gebiete im heutigen Kasachstan, in denen Russen (und Russischsprachige) einigermaßen kompakt angesiedelt sind, sofort zu einer Art kasachischem "Donbass" werden – und genau diese Aussicht jage den kasachischen Nationalisten Angst ein. Pawlenko spricht sogar davon, dass in Kasachstan bereits der nationalistische Umschwung in der öffentlichen Meinung selber gerade von dieser Angst herrühre.
Die zweite Angstquelle der kasachischen Nationalisten, die aber im Lichte der ersten zu sehen ist, sind laut Pawlenko die Ereignisse des Januar 2022: Eigens dafür abgestellte Militäraufgebote der OVKS-Partner Kasachstans – sprich, vor allem russische Einheiten – vereitelten den laut Tokajews zwar von außen angefachten, aber von einigen Nationalisten vor allem der radikalislamischen Couleur mitgetragenen Putschversuch. (Auch hier, möchte man anmerken, dürfte vor allem und insbesondere die Reaktionsschnelligkeit und Entschlossenheit Russlands den kasachischen Nationalisten zusätzliche Angst bescheren.)
Die nationalistischen Tendenzen in Kasachstan blieben in Russland nicht unbemerkt – und provozieren zu Warnungsmaßnahmen. So machte die russische Nachrichtenagentur Regnum darauf aufmerksam, dass die Planung des logistischen Bauprojekts Altai im Jahre 2021, das westsibirische Städte und schließlich den europäischen Teil Russlands mit China verbinden soll, nicht zuletzt deshalb unter Ausschluss kasachischen Staatsgebietes stattfand – obwohl dies Mehraufwand bedeutet. Auch dass Wladimir Putin seinen ehemaligen kasachischen Amtskollegen Nursultan Nasarbajew jüngst in Moskau empfing, könnte damit zu tun haben, dass man in Moskau den Ex-Präsidenten und seine Anhänger in Kasachstan als regionale Kraft in die Politik zurückkehren sehen möchte – was ihn automatisch als Opposition und Gegengewicht zur jetzigen Regierung des Landes positionieren würde, argumentiert die Moskowskaja Gaseta.
Nun muss man klar sagen, dass die obigen Ereignisse die Ausmaße eines Handelskrieges bei Weitem noch nicht erreichen – ja, nicht einmal eines Rosenkrieges (außer vielleicht eines Rosenkrieges in einer Seifenoper). Denn sie sind alle umkehrbar und bergen für Kasachstan keinen Schaden. Als Warnung an dessen teils nationalistische und westhörige Elite (denn westliche Konzerne kontrollieren zwei Drittel der Rohstoffförderung Kasachstans, davon drei Viertel der Erdöl- und Erdgaswirtschaft, macht der Co-Vorsitzende der Sozialistischen Bewegung Kasachstans Ainur Kurmanow aufmerksam) taugen sie jedoch allemal. Daher lässt sich nicht ausschließen, dass auch die jüngeren, eingangs geschilderten Schritte im Hinblick auf Kasachstan ebenso als Warnung gemeint waren: Zunächst im Sinne, dass bei einer vollständigen Transitblockade Kasachstan deutlich größere wirtschaftliche Probleme bekommen dürfte – aber auch, dass eine einseitige wirtschaftliche Ausrichtung am Westen, die allein es ermöglicht, dass im Lande der russophobe Nationalismus derart erstarken konnte, mindestens nicht weit- und umsichtig ist.
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