von Elem Raznochintsky
Der weltweit bekannte Linguist, Noam Chomsky, hat in den letzten Monaten einige Male das Wort zum Krieg in der Ukraine ergriffen. Doch seine Erwägungen wahren wohl nie klarer formuliert, als im Gespräch mit der Massachusetts Peace Action Ende Mai, gesendet über deren Youtube-Kanal.
Chomsky postuliert zwar zu Beginn des Gespräches die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine als eine "Invasion" und ein "Verbrechen", das er mit der US-Invasion des Iraks im Jahr 2003 und sogar dem Angriff Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion auf Polen 1945 vergleicht. Aber später räumt er ein, dass die genauere Erforschung der Kette der Ereignisse durchaus eine nachvollziehbare Ratio Moskaus zur Wahrung der eigenen Sicherheit enthüllt.
Chomsky zitiert Hillary Clinton, die das sogenannte "afghanische Modell" der US-Außenpolitik vorschlägt, das über Jahrzehnte auch von ihrem prominenten Autor Zbigniew Brzeziński als erfolgversprechend propagiert und praktiziert wurde. Dieses Modell sah vor, Russland – in den 1980er Jahren die Sowjetunion – an seinen geografischen Peripherien in militärische Konflikte mit US-gestützen, islamistisch radikalisierten Gruppen zu verwickeln. So würde Russland, geschwächt und am Ende sogar "ausblutend", seine natürliche geopolitische Position im eurasischen Raum einbüßen müssen. Der jetzige Prozess in der Ukraine – auch als "afghanische Falle" bekannt, bemerkt Chomsky – ist eine modifizierte Schablone dieser älteren Strategie.
Er zitiert einen der beiden Spezialisten, der "Out of Afghanistan: The Inside Story of the Soviet Withdrawal" verfasst hatte, Selig S. Harrison, der von der US-Strategie eines Krieges bis zum bitteren Ende sprach und sie zusammenfasste als "Kämpfen bis zum letzten Afghanen". Das kommt dem heutigen Konzept, dass sich in der Ukraine manifestiert, gefährlich nahe. Chomsky versteht, dass es ein Stellvertreterkrieg der USA gegen die Sowjetunion war. Daraufhin merkt er klar, aber vorsichtig an, dass es sich heute erneut um einen eben solchen Stellvertreterkrieg handele. Selbst die von den USA fieberhaft angestachelte NATO-Osterweiterung als militärischen Prozess, am Beispiel der Ukraine als krönenden Abschluss, kritisiert und berücksichtigt der Philosoph.
Nach ungefähr 25 Minuten Vorrede, die all das beinhaltete, fällt die erste Frage an Chomsky, die genau den letzten Aspekt seiner Rede sofort aufgreift. Er nennt daraufhin viele US-Sicherheitsexperten entlang des gesamten politischen Spektrums, die die eigene Führung in Washington in den letzten 35 Jahren wiederholt warnten, dass ein andauerndes Ignorieren "russischer Sicherheitsbedenken" eine "gefährliche, rücksichtslose und provokative Politik" darstelle. Chomsky versichert, dass alle bisherigen US-Präsidenten genau verstanden, wie die Ukraine die "rote Linie" für Moskau darstelle. Trotzdem wurde das Versprechen Bushs an Gorbatschow, dass man nach einer möglich gemachten, deutschen Wiedervereinigung keine weitere NATO-Osterweiterung erwägen würde, wenige Jahre später gebrochen.
Selten bekommt man eine historisch feinere und mit Referenzen und Quellen besser bestückte Analyse dessen geliefert, wie die USA sich hinterrücks an geradezu keine mit Moskau getroffene Abmachung gehalten haben und nun praktisch die treibende, antagonistische Kraft im Ukrainekrieg darstellen. Dennoch sieht sich Chomsky anscheinend gezwungen, jeweils am Anfang von solchen Gesprächen pro forma seine Verurteilung der vermeintlichen "russischen Invasion" in der Ukraine zu nennen. Welche er auch noch – wie weiter oben bereits erwähnt, mit dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939 vergleicht, gleichzeitig aber auch klarstellt, dass die Russen das von den Nazis 1941 entfachte "Unternehmen Barbarossa" nie vergessen hätten. Diese blutigen Kriegserfahrungen wurden damals auf dem heutigen Gebiet der Ukraine gesammelt und ertragen. Chomsky erleidet da eine analytische Dichotomie, die zwar versucht, Russlands historische Sicherheitsbedenken einerseits zu berücksichtigen, andererseits die Töne des westlichen Mainstreams über einen vermeintlich nicht nachvollziehbaren, russischen "Angriffs- und Vernichtungskrieg" ebenfalls abzudecken.
Neben dem Aspekt der herben Medienkritik an jetziger US-Berichterstattung und Zensur – worüber wir vor wenigen Tagen bereits berichteten – wurde Chomsky erneut explizit von seiner Interviewerin gebeten, sich zu der Frage, ob es sich in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg handele, genauer zu positionieren. Daraufhin beteuerte der Intellektuelle Folgendes:
"Es ist von glaubwürdigen Kommentatoren behauptet worden. Ich selbst habe gezögert, diese Schlussfolgerung zu ziehen, aber es ist ziemlich schwer, sie zu vermeiden. Ich meine, wir können darüber spekulieren, aber es wird immer schwieriger, sich dem zu entziehen, wenn man sich die eindeutigen Fakten ansieht, die übrigens fast alle unterdrückt wurden. Es ist uns nicht erlaubt, darüber zu sprechen."
Herstellung von Konsens
Für all diejenigen, die ab und zu gerne noch Hausaufgaben machen, sei das Werk "Manufacturing Consent" empfohlen, das Chomsky zusammen mit dem US-amerikanischen Medienkritiker und Wirtschaftswissenschaftler Edward S. Herman im Jahr 1988 verfasste. Dieses Sachbuch und die dazugehörige Dokumentation aus dem Jahr 1992 namens "Manufacturing Consent: Noam Chomsky and the Media" (der deutsche Titel der Doku lautet: "Die Konsensfabrik. Noam Chomsky und die Medien") haben spätestens dann den guten Professor zum "Papst der internationalen Medienkritik" gemacht. Seine Beweisführung – eher im Buch als in der Doku – entlang der Hypothese, dass Informationsfluss extrem unter kommerziell organisierter Zentralisierung und Instrumentalisierung leidet und in der dominanten, westlichen Praxis eine nahezu reibungslose "Selbstzensur" entwickelt hat, liefert ein niederschmetterndes Fazit.
Erkenntnisse und Eingeständnisse, die besonders heute, in den letzten drei Monaten und auch vergangenen zweieinhalb Jahren ein unentbehrliches Instrumentarium im individuellen Kampf um die Deutung der gegenwärtigen Ereignisse liefern könnten. Deutsche Leser warten bis heute auf eine offizielle, deutsche Übersetzung des bahnbrechenden Werkes, das älter ist als die deutsche Wiedervereinigung und im deutschen Wikipedia-Artikel vorsichtshalber und stiefmütterlich als "in den Sozialwissenschaften [...] umstritten" gebrandmarkt wird. Fairerweise sei erwähnt, dass auch die Russen noch auf ihre Übersetzung warten.
Ein weiteres wichtiges und in Deutschland bisher nicht erschienenes Buch ist "Necessary Illusions: Thought Control in Democratic Societies" (auf Deutsch ungefähr: "Notwendige Illusionen: Gedankenkontrolle in demokratischen Gesellschaften") aus dem Jahr 1989, in dem Chomsky unter anderem am Beispiel der Darstellung der Ereignisse in der Volksrepublik Polen mit der Gewerkschaftsbewegung "Solidarność" zeigt, wie US-dominierte Massenmedien in den 1980er Jahren die Aufmerksamkeit der Welt auf Osteuropa hielten, während ähnliche Unabhängigkeitsbestrebungen in Lateinamerika gegen US-Dominanz – speziell Nicaragua – per Stellvertreterkrieg und ökonomischer Kriegsführung von Washington gewaltsam niedergeschlagen wurden.
Beide genannten Lektüren finden eine gute Zusammenfassung der effektiv praktizierten "Selbstzensur" westlicher Medien, in der Textpassage von "Necessary Illusions" auf Seite 19:
"Kurz gesagt, die großen Medien, insbesondere die Elitemedien, die die Agenda vorgeben, der andere im Allgemeinen folgen, sind Unternehmen, die privilegiertes Publikum an andere Unternehmen 'weiterverkaufen'. Es würde kaum überraschen, wenn das Bild, das sie von der Welt vermitteln, die Perspektiven und Interessen der Verkäufer, der Käufer und des Produkts widerspiegeln würde. Die Eigentumskonzentration bei den Medien ist hoch und nimmt weiter zu. Darüber hinaus gehören diejenigen, die Führungspositionen in den Medien innehaben – oder als Kommentatoren einen Status innerhalb der Medien erlangen –, zu denselben privilegierten Eliten. Und man kann davon ausgehen, dass sie die Wahrnehmungen, Bestrebungen und Einstellungen ihrer Mitarbeiter teilen und damit auch ihre eigenen Klasseninteressen widerspiegeln. Es ist unwahrscheinlich, dass Journalisten, die in das System eintreten, ihren Weg bestreiten werden, wenn sie sich nicht diesem ideologischen Druck anpassen, indem sie im Allgemeinen die Werte verinnerlichen; es ist nicht einfach, das eine zu sagen und das andere zu glauben, und diejenigen, die sich nicht anpassen, werden durch die bekannten Mechanismen aussortiert."
Das stimmt heute noch viel mehr als vor 33 Jahren. Zudem muss es sich um eine vorsätzliche Ironie des Schicksals handeln, dass es ausgerechnet der US-amerikanische Geheimdienst CIA ist, der eine vollwertige Textdatei von Chomskys Buch auf seiner Webseite zur freien Verfügung stellt. Leider gibt es keine frei zugänglichen empirischen Daten dazu, wie viele Menschen dieses Buch bisher gelesen haben.
Ein ehemaliger Schüler Chomskys geht sogar weiter
Norman Finkelstein hat sich im Gespräch mit Resistance News noch im April zur militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine geäußert. Er ist sich dessen bewusst, dass seine dissidentischen US-Kollegen aus Geschichts- und Sozialwissenschaften ihm zwar in der historischen Analyse gänzlich zustimmen, aber eine gemäßigtere Position, die konformistischer erscheint, beziehen. Dazu gehören unter anderem John Mearsheimer, der im Jahr 2020 verstorbene Stephen F. Cohen und Chomsky selbst. Finkelstein sei aber weder im privaten Austausch mit ihnen, noch in öffentlicher Befragung bereit, seine eigene Einschätzung dahingehend zu besänftigen. Diese folgt nun in vier Zitaten.
Nachdem Finkelstein eine ähnlich genaue Chronik der Ereignisse wie Chomsky etabliert, die letztendlich zum Beginn der russischen Militäroperation in der Ukraine führte, äußerte der Politikwissenschaftler unmissverständlich:
"Was ist also der Kontext? Der Kontext ist die Sowjetunion, das frühere Russland, das während des Zweiten Weltkriegs schätzungsweise 30 Millionen Menschen verloren hat. Die Vereinigten Staaten, von denen man, wenn man sich amerikanische Filme anschaut, denken könnte, dass sie den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben, haben etwa zweihunderttausend Menschen verloren. Das Vereinigte Königreich war der zweite Kandidat für den Gewinn des Zweiten Weltkriegs, es verlor etwa vierhunderttausend Menschen. Die Sowjetunion hat 30 Millionen Menschen verloren. Selbst diejenigen, die kein Studium der Naturwissenschaften absolviert haben, können sich den Unterschied zwischen einigen hunderttausend und dreißig Millionen Menschen ausrechnen. Das ist für die Russen keine entfernte Erinnerung."
Finkelstein führt seine Antwort fort, indem er erläutert, wie ihm der befreundete Russistik-Professor Stephen F. Cohen einmal erklärte, wie lebendig und wichtig für die Russen der Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus bis heute ist. Er ergänzt seine eigenen Erfahrungen mit diesem Phänomen:
"Ich wohne im Stadtteil Coney Island in Brooklyn. Ein großer Teil sind russische Juden. Wenn man im Mai, am Tag des Sieges auf die Straße geht, kann man sehen, dass Russen im Alter von 80 und 90 Jahren Medaillen tragen, Medaillen aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese Erinnerung ist lebendig."
Weiter fasst Finkelstein seine Sicht der letzten acht Jahre im Ukrainekonflikt so zusammen:
"Diese Ukraine, in der Nazis eine übergroße Rolle spielen, ist mit einem gewaltigen Militärblock namens NATO verbündet, die NATO rückt immer weiter vor, nähert sich Russland an und versucht, es zu ersticken... Und ab etwa 2016, unter Trump, beginnt die Ukraine aufzurüsten, liefert Waffen, nimmt an Militärübungen mit der NATO teil und verhält sich sehr provokant. Und dann sagt Außenminister Lawrow schließlich, dass wir den Siedepunkt erreicht haben."
Der berüchtigte Gelehrte kommt folgendermaßen zum Punkt:
"Ich bin kein Militärstratege, also werde ich nicht sagen, dass es das Klügste war, was sie [die Russen] tun konnten. Ich werde auch nicht sagen, dass es die besonnenste Entscheidung war. Aber ich werde sagen – und ich habe keine Angst, es zu sagen, weil es das Andenken meiner Eltern entehren würde, wenn ich es nicht sagen würde –, dass sie das Recht hatten, es zu tun. Und ich werde das nicht zurücknehmen. Sie hatten das Recht, es zu tun. Sie hatten, wenn ich es so nennen darf, das historische Recht, es zu tun. 30 Millionen Menschen wurden im Zweiten Weltkrieg getötet, und jetzt fangen sie wieder an. Sie fangen wieder an."
Finkelsteins Mentor für seine Recherche zu dem, was später sein Buch "Die Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird" (Verlag Piper, 2001) werden würde, war Noam Chomsky.
Fragmente aus Chomskys Teilnahme am "freien Markt der Ideen"
Es war der bekannte US-Anwalt Alan Dershowitz, der sich 2005 in einer Debatte mit Noam Chomsky zu behaupten versuchte. Dabei wurde der Israelisch-Palästinensische Konflikt zwischen beiden historisch zugeordnet und der erstere verteidigte klar die zionistische Geschichtsauslegung, wohingegen Chomsky die hauptsächliche, politische Verschuldung beim gescheiterten Friedensprozess dem Staat Israel und den USA zuschrieb. Egal auf welcher Seite der Debatte man auch sein mag, die Fähigkeiten Chomskys ruhig und ausgewogen zu argumentieren, seien jedem empfohlen.
Im Hinblick auf den ambitionierten und aggressiven US-Imperialismus des 20. Jahrhunderts und wie mehrdeutig die historische Zuordnung auch hier sein kann, gibt es noch eine Empfehlung: nämlich die berühmte Fernsehdebatte mit dem konservativen Autor und Moderator William F. Buckley Jr. aus dem Jahr 1969.
"Chomsky in Deutschland"
Oder genauer gesagt, "Deutschland sucht den Chomsky". Denn wie oft haben sich die etablierten, bildungsbeauftragten, deutschen Massenmedien, mit Koryphäen wie Sandra Maischberger, Anne Will, Maybrit Illner oder Markus Lanz – aber auch Peter Sloterdijk oder Richard David Precht – nicht ausreichend um eine Einladung des geistigen Schwergewichts bemüht? An einem mangelnden, öffentlichen Budget für solch eine Abendsendung kann es kaum gescheitert sein.
Hier muss zumindest vor Tilo Jung der Hut gezogen werden, der sich im Jahr 2016 zu Chomsky nach Massachusetts begeben hatte, um den Intellektuellen in ein Gespräch zu verwickeln. Ob Tilo Jung vielleicht Absichten hegt, Noam Chomsky ein erneutes Mal, diesmal zum Thema Ukraine, zu interviewen, bleibt vorerst unklar. Jung wäre zwar nicht dazu verpflichtet, aber es könnte sich um die einzige Chance für den deutschsprachigen Medienraum handeln.
Abschließend sei wiederholt, dass Chomsky in seinen jüngsten Aussagen dafür plädiert, das Übermaß an historischen und historiografischen Belegen, die die Eskalation in der Ukraine als einen langfristig angelegten, hegemonialen Machterhaltungszug der USA aufschlüsseln, zu studieren und zu berücksichtigen. All die Literatur sei da, aber die vielmals in Chomskys Werken beschriebene Ablenkung vom Wesentlichen, Umdeutung, Weglassung, Vereinfachung und Umerziehung der Medien führt weg von diesen kontextualisierten Erkenntnissen. So sehr, dass, wenn man sie doch findet, es überraschenderweise die CIA-Webseite ist, die sie anbietet.
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