Am 7. Juni interviewte RT Arabic den Präsidenten Syriens, Baschar al-Assad. In 24 Fragen und einigen Zusatzfragen näherte man sich einer Einschätzung der Weltlage. Nicht überraschend, spielt die russische Militäroperation in der Ukraine auch für den Nahen Osten eine zentrale Rolle – und nicht nur wegen der gegenwärtig viel diskutierten Getreideexporte aus der Ukraine und Russland in den Mittelmeerraum.
Krieg in der Ukraine
Assad ordnete den Konflikt in und um die Ukraine nicht nur in die jüngere Zeitgeschichte ein, sondern zog eine längere historische Linie. Denn über die NATO-Osterweiterung hinaus könne man von einem "permanenten Krieg" gegen Russland sprechen, der schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen habe. Für Syrien sei nicht nur wichtig, dass Russland – sein Verbündeter, wie Assad betonte – aktuell eine "Schlacht" gewinnt, sondern dass generell Moskaus Position auf der "internationalen Bühne gestärkt" werde. Die "heutige Stärke Russlands" könne zur "Wiederherstellung des verloren gegangenen internationalen Gleichgewichts" beitragen.
Der syrische Präsident zeigte sich überzeugt, dass Moskau für eine neue Weltordnung eintritt – und auch die Operation in der Ukraine ein Element zur Errichtung dieser Ordnung sein werde. Assad versteht die Zeit des Kalten Krieges nach 1945 nicht, wie sonst üblich, als bipolare Weltordnung, sondern betont die US-Dominanz:
"Die unipolare Ordnung begann jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg, als nach der Bretton-Woods Konferenz der Dollar zur vorherrschenden Währung der Welt wurde. Wichtiger als der militärische Aspekt, oder vielleicht gleichwertig, sind die wirtschaftlichen Ergebnisse des gegenwärtigen Krieges (gegen eine unipolare Welt) und vor allem die Position des Dollars. Wenn der Dollar trotz des Ausgangs dieses Krieges weiterhin die Weltwirtschaft dominiert, wird sich nichts ändern."
Rolle des US-Dollars
In dieser westlich oder US-amerikanisch dominierten Welt spiele der US-Dollar Assad zufolge nicht nur die Rolle eines "Erpressungsinstruments", sondern er diene tatsächlich auch als räuberisches Werkzeug:
"Der Gegenstand des Dollars ist keine Erpressung, sondern Diebstahl. Amerika versprach nach dem Zweiten Weltkrieg, dass der Dollar einen Goldgegenwert haben würde. Anfang der siebziger Jahre beschlossen die Vereinigten Staaten unter Nixon, den Dollar vom Gold zu trennen, so dass er zu einem Papier ohne Wert wurde."
Allerdings bestehe Hoffnung für die nicht-westlichen Länder. Zwar stünden sie unter enormen Druck, politisch, ökonomisch, auch kulturell, doch das internationale Kräfteverhältnis habe sich grundlegend geändert.
"Heute hat sich die Situation in Bezug auf Russland, China und viele andere wachsende Volkswirtschaften geändert. Wir stehen zwar unter einer Blockade, aber wir brauchen bei vielen lebenswichtigen Gütern keine Einfuhren aus westlichen Ländern mehr, zu denen unsere Beziehungen abgebrochen sind."
Zwar versuche der Westen, alle Probleme der Weltwirtschaft als Folge des Krieges in der Ukraine darzustellen, doch sei dies in Wirklichkeit nicht der Fall. Man müsse zwischen (westlichem) Regierungshandeln, allgemeiner Wirtschaftslage und spezifischen ökonomischen Bedingungen bis hin zur Lage einzelner Unternehmen unterscheiden.
Entwicklung in Syrien
Auf die innenpolitische Lage Syriens und seinen Slogan im vergangenen Wahlkampf – "Hoffnung in Aktion" – angesprochen, meinte Assad sinngemäß, er habe der durchaus vorhandenen Verzweiflung Hoffnung entgegenstellen wollen. Die Hoffnung sei insofern begründet, als die Produktion nach Kräften aufrechterhalten werde:
"Haben wir die Mittel, um zu produzieren? Natürlich tun wir das, sonst gäbe es keinen Staat. Die medizinische Versorgung in Syrien ist trotz der Verschlechterung des Leistungsniveaus weiterhin kostenlos. Der Zugang zu Bildung bleibt trotz des Rückgangs der Bildung aufgrund der aktuellen Umstände kostenlos. Die Unterstützung für die Bevölkerung wird fortgesetzt, wenn auch in geringerem Umfang."
Alle grundlegenden Dienstleistungen des Staates würden weiterhin erfüllt. Die Bürger Syriens hätten verständlicherweise Erwartungen an ihren Staat, von denen viele mit einer sicheren Stromversorgung zusammenhingen. Dafür würden aber noch im Laufe des Jahres 2022 Lösungen gefunden, gab sich Assad zuversichtlich.
Parallel sollen innenpolitische Reformen durchgeführt und eine neue Verfassung erarbeitet werden. Dazu meinte der syrische Präsident:
"Der Verfassungsausschuss hat die Aufgabe, einen endgültigen Verfassungstext auszuarbeiten. Die Verfassung soll die Wünsche, ethischen Grundlagen, Bestrebungen und die Kultur des syrischen Volkes als Kompromiss zwischen den verschiedenen Sektoren und Strömungen der Gesellschaft repräsentieren. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, ist es logisch, davon auszugehen, dass es sich um einen Dialog zwischen Syrern handelt, nennen wir ihn einen syrisch-syrischen Dialog; wobei wir davon ausgehen, dass es zwei Seiten gibt. Aber die Hauptsache ist, dass beide Seiten Syrer sind."
Doch der innersyrische Dialog werde von außen gestört – so wandte sich Assad etwa gegen eine Einmischung der Türkei in die syrische Verfassungsdiskussion. Auch könnten im Zuge der Verfassungsreform die Befugnisse des Präsidenten eingeschränkt werden, wenn die Syrer sich untereinander darauf einigen würden.
Was die Rückkehr von Flüchtlingen aus Syrien in ihre Heimat angeht, beharrte Assad darauf, dass es keine Generalamnestie dergestalt geben könne, dass geltende Gesetze einfach aufgehoben werden. Wer das Land verlassen habe, gelte jedoch nicht automatisch als Landesverräter. Es gebe "nicht einmal den Begriff des 'politischen Gefangenen'".
Auch in der Frage der syrischen Kurden zeigte sich Assad kompromissbereit, sofern die kurdische Seite sich loyal gegenüber dem syrischen Staat verhalte:
"Wenn wir die kurdische Frage aus einer nationalen Perspektive betrachten, haben die Kurden in Syrien schon immer existiert. Die meisten von ihnen sind Patrioten. Einige von ihnen, wie auch einige Araber und andere Nationalitäten, werden jedoch zu Agenten, insbesondere für die USA. Dieses Problem hat überhaupt nichts mit dem Präsidenten oder der politischen Opposition zu tun. Das hat mit der Frage der Einheit Syriens zu tun."
Politik und Konflikte im Nahen Osten
Im abschließenden Teil drehte sich das Gespräch um die Nachbarn Syriens und die Stellung des Landes innerhalb der arabischen Welt. Ungeachtet aller Spannungen in der Region vertrat Baschar al-Assad einen pragmatischen Ansatz:
"Manchmal muss man auch mit Agenten einen Dialog führen."
Zu diesen "Agenten" zählen nach syrischer Lesart ausländische Kräfte, die vor allem US-Interessen bedienen und die "Einheit der syrischen Gesellschaft bedrohen". Doch die Mehrheit der Syrer würde sich diesen Interessen nicht beugen.
Ähnlich beurteilte Assad die syrisch-türkische Konfrontation im Norden des Landes: "Jede Invasion stößt sofort auf den Widerstand der Bevölkerung." Auch das Gebiet von Idlib und andere besetzte Gebiete würden wieder unter Kontrolle von Damaskus kommen: "Dies steht nicht zur Diskussion. Alle Gebiete, ob von Türken oder Terroristen besetzt, werden mit der Zeit befreit werden."
Syrien und die Arabische Liga
Nach seinem jüngsten Besuch in Abu Dhabi gefragt, erläuterte der Präsident:
"Wir sind nirgendwo hingegangen. Syrien ist dort geblieben, wo es ist, mit denselben Positionen und unter denselben Umständen, und es hat auf seine eigene Art und Weise gehandelt, gemäß seinen Prinzipien und seiner Vision."
Syrien werde weiterhin seine Positionen vertreten, ohne andere arabische Staaten zu entschuldigen oder deren Haltung zu rechtfertigen. Man müsse "von der Realität ausgehen".
Auf dieser Grundlage werde Syrien auch seine Rolle in der Arabischen Liga wieder in vollem Umfang einnehmen. Dabei werde Syrien allerdings den Beziehungen zu anderen arabischen Ländern nicht sein gutes Verhältnis zu Teheran opfern:
"Die Beziehungen Syriens zu einem anderen Land sind mit niemandem auf der Welt verhandelbar. Niemand kann anstelle Syriens bestimmen, mit wem es Beziehungen aufnehmen wird und mit wem nicht."
Iran sei ein "wichtiges Land". Und wenn man "über Stabilität im Nahen Osten sprechen" wolle, brauche man "Beziehungen zu allen Ländern der Region".
Von diesen Grundannahmen ausgehend, bot sich Assad als Vermittler zwischen Teheran und Riad an. Es liege im Interesse des Vermittlers, diejenigen Länder näher zueinander zu bringen, zu denen Damaskus selbst gute Beziehungen habe.
Was das komplizierte Verhältnis zu Israel betrifft, lehnte der syrische Präsident den Begriff "Normalisierung" insofern ab, als damit verbunden sei, "die Araber zu Zugeständnissen an Israel zu zwingen, ohne dass diese dafür eine Gegenleistung erhalten". Mit dem Friedensprozess müsse die "Wiederherstellung der Rechte der (arabischen) Völker verbunden" sein. Ob das Oslo-Abkommen dafür noch eine Grundlage sein könne, sei fraglich, denn es verschaffe Israel "jeden Vorteil".
Assad entgegnete auf die Vorhaltung, im Westen betrachte man ihn als einen "Präsidenten gegen den Willen seines Volkes", dass es sich dabei um "große Lügen und grenzenlose Übertreibungen" handle: "Diese Lüge hört nicht auf."
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